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Full text of "Die Lehre vom Urteil"

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KURT     L.     SCHWARZ 
BO  a  KS  ELLER 

Beverly    Hills,    California 


Die  Lehre  vom  Urteil 


VON  DR.  EMIL  I^ASK 

A.  O.  TROFESSOR  AX  DER  ÜXIVERSITÄT  I£EIDELBERG 


Tübingen 

Verlag  von  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck) 

1912 


Alle   Rechte   vorbehalten. 


])niok   von  H.  L  a  ii  p  p  jr  in  Tdbinppn. 


III 


Vorwort. 

Auch  diese  Abhandlung  will  ebenso  wie  die  im  vorigen 
Jahr  erschienene  Schrift  „Die  Logik  der  Philosophie  und 
die  Kategorienlehre"  lediglich  als  Vorläufer  einer  umfas- 
senderen und  mehr  systematisch  fundierenden  Darstellung 
der  logischen  Probleme  angesehen  werden.  Sie  gibt  in 
mancher  Hinsicht  einen  Unterbau  zu  den  Positionen  der 
früher  erschienenen  Schrift,  da  sie  im  Verhältnis  zur  Ka- 
tegorienlehre zweifellos  das  logische  Tzpotspov  Tzpbq  i}\iö!.q  be- 
handelt und  sich  vor  allem  bemüht,  die  Beziehungen  der 
Urteilslehre  zur  transzendentalen  Logik  aufzudecken. 

Indem  sie  dabei  den  Begriff  des  "Wertgegensatzes,  also 
ein  Problem  der  allgemeinen  ijhilosophischen  Wertlehre,  in 
den  Mittelpunkt  rückt,  sucht  sie  an  der  von  der  gegenwär- 
tigen logischen  Werttheorie  in  Uebereinstimmung  mit  allen 
wirklich  philosophischen  Logikern  der  Logik  wieder  gewiese- 
nen Aufgabe  weiterzuarbeiten  und  wenigstens  einen  vorbe- 
reitenden Beitrag  zu  der  Erkenntnis  zu  liefern,  daß  auch  die 
Themata  der  Logik  nur  auf  dem  Grunde  einer  allesdurch- 
dringenden  einheitlichen  philosophischen  Orientierung  zu  be- 
wältigen sind.  Auch  wo  darum  die  vorliegende  Abhandlung 
gerade  in  der  Erörterung  des  Wertgedankens,  insbesondere 
des  Wertgegensatzes,  über  die  bestehende  werttheoretische 
Urteilslehre  glaubt  hinausgehen  zu  müssen,  tut  sie  es  auf  dem 
durch  die  Werttheorie  der  Logik  erst  geschaffenen  Boden. 


-    IV    — 

Windelband  hat  in  seinen  „Präludien"  und  in  dem  Aufsatz 
der  Festschrift  für  Zeller  „Beiträge  zur  Lehre  vom  nega- 
tiven Urteil"  gerade  vermittelst  der  Urteilslehre  den  ent- 
scheidenden Schritt  zu  tun  vermocht,  der  Logik  wieder  ihre 
sachliche  Heimat  im  Ganzen  der  Philosophie  zu  bestimmen. 
Rickerts  „Gegenstand  der  Erkenntnis"  ist  sodann  das  Grund- 
buch für  alle  logischen  Untersuchungen  der  Werttheorie 
geworden  und  geblieben. 

Heidelberg,  Anfang  Dezember  lOlL 

Emil  Lask. 


V     — 


Inhalt. 


Seite 


Einleitung 1 

Zugehörigkeit  des  Urteils  zur  formallogisch-nichtgegen- 
ständlichen Region  1.    Sein  Verhältnis  zur  transzendental- 
logischen Gliederung  5.    Hinausgehen  über  die  Gegensätz- 
lichkeit der  Urteilsregion  zur  Gegensatzlosigkeit  10.     Die 
Doppeltheit  der  Gegensatzpaare:  Richtigkeit  und  Falsch- 
heit,   Wahrheit  und  Wahrheitswidrigkeit  12.     Gang    der 
Untersuchung  26. 
Erstes  Kapitel.    Der  Gegensatz  von  Wahrheit  und  Wahr- 
heitswidrigkeit  in  den  primären  Objekten  der  Urteils- 
entscheidung              27 

Erster  Abschnitt.    Das  Kriterium  der  Wertgegen- 
sätzlichkeit      28 

Wert  und  Unwert  als  Zusammengehörigkeit  und  Unzu- 
sammengehörigkeit  der  Elemente  28.  Die  indifferente 
„Vorstellungsbeziehung"  und  die  Kopula  34.  Ansätze  der 
Lehre  von  den  doppelten  Gegensatzpaaren  bei  Aristote- 
les 39. 
Zweiter  Abschnitt.  Die  m  e  t  a  g  r  a  m  m  a  t  i  s  c  h  c  Sub- 
jekt-Prädikats-Theorie      44 

Die  grammatische  Theorie  45.  Kriterium  einer  meta- 
grammatischen Theorie  47.  Frage  der  Nivellierung  von 
Begriff  und  Urteil  49.*  Notwendigkeit  einer  logisch,  nicht 
metalogisch  orientierten  Gliederung  50.  Die  Form-Mate- 
rial-Duplizität 54.  Der  transzendentallogische  Urbegriff 
des  Erkennens  57.  Kategorienmaterial  und  Kategorie  als 
wahres  Subjekt  und  Prädikat  58.  Die  durch  die  meta- 
grammatische Theorie  geforderte  Umformung  der  gram- 
matischen Gefüge  64.  Hinzutretende  Nivellierung  von 
Begriff  und  Urteil  und  Auflösung  der  Begriffe  in  die  Ur- 
bestandteile  67.  Nichtzusammenfallen  der  Kopula  und 
der  kategorialen  Relation  73.    Der  Existentialsatz  76. 


VI 


Dritter  Abschnitt.  Die  Anwendung  des  Kriteriums 
der  Gegensätzlichkeit  auf  die  echten  Struk- 
turelemente      79 

Wahrheit   und   "Wahrheitswidrigkeit    als    Zusammenge- 
gehörigkeit   und  Unzusammengehörigkeit   von   Kategorie 
und  Kategorienmaterial  79. 
Zweites  Kapitel.    Die  Uebergegensätzlichkeit     ....      82 

Erster  Abschnitt.  Die  K  ü  n  s  1 1  i  c  h  k  e  i  t  der  Urteils- 
struktur und  ihr  Abstand  von  der  gegen- 
ständlich-logischen Region     83 

Die  Distanz  zwischen  urbildlicher  und  nachbildlicher 
Kegion  nach  der  vorkopernikanischen  Auffassung  83.  Ihr 
Weiterbestehen  innerhalb  der  Kopernikanischen  Lehre  87. 
Die  kategoriale  Relation  keine  Zusammengehörigkeit  90. 
Zusammengehören  und  Nichtzusam mengehören  beruhend 
auf  einer  Zerstücklung  der  Gegenstandsregion  94.  Ent- 
rücktheit der  gegenständlichen  Struktur  über  den  Gegen- 
satz von  Zusammengehörigkeit  und  Unzusammengehörig- 
keit 96.  Besondere  Steigerung  der  Künstlichkeit  bei  dem 
Zusammengehören  und  Nichtzusammengehören  grade  zwi- 
schen Kategorie  und  Kategorionmaterial  100. 

Die  , formale"  Logik  als  Logik  der  nichtgegenständlichen 
Phänomene  110.  Verhältnis  der  Kategorien  zu  den  Urteils- 
formen bei  Kant  116.  Die  durch  den  Unterschied  der 
formalen  und  der  transzendentalen  Logik  bedingte  Dop- 
peltheit des  Form-  und  Materialbegriffs  118. 

Zweiter  Abschnitt.  Die  Ucbcrgegcnsätzlichkcit 
als  Maßstab  der  Gegensätzlichkeit       .     .     .     124 

Die  übergegensätzliche  Geltungs-  und  Wertartigkuit  der 
Gegenstände  124.  Die  Doppeldeutigkeit  der  Seinsbegrittc 
129.  Der  gegenständliche  Sinn-,  Wahrheit«-  und  Erkennt- 
nisbegritf  132.  Die  übergegensätzliche  Wertartigkeit  der 
Kategorien  136.  Positiver  Wert  und  Unwert  als  Bedeu- 
tungsspaltung. Uebergegensätzlichkeit  und  vox  media  des 
Wertes  141.  Der  Gedanke  der  Uebergegensätzlichkeit  bei 
Aristoteles  144.  Sein  Fehlen  bei  Kant,  dem  Kantianismus 
und  der  gegenwärtigen  logischen  Werttheorie  14(). 
Drittes  K  a  p  i  t  c  1.  Die  Subjektivität  als  Knt»tehung;sKrund 
«l<*r  Gegensätzlichkeit 

Erster  Abschnitt.  Der  immanente  T  r  s  p  r  u  n  g  v  o  n 
W  a  h  r  h  e  i  t  8  g  e  m  il  fä  li  I'  i  I  u  n  d  .  W  a  li  r  li  e  i  t  s  w  i  d- 
rigkcit 1-^7 


Vu 


-     VII 


^mmanentwerdung  und  Immanenz  158.  Die  Unterwüh- 
lung der  Gegenstandsregion  durch  die  Subjektivität  161. 
Die  dabei  sich  erhaltende  Quasitranszendenz  des  Sinnes 
164.  Das  Ineinandergreifen  von  Sinnproblemen  und  Sub- 
jektsproblemen in  der  Lebi'e  vom  geschaffenen  Sinn  168. 
Zweiter  Abschnitt.  Bejahung  und  Verneinung. 
Richtigkeit  und  Falschheit  in  der  Urteils- 
entscheidung        172 

Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit  als  rela- 
tiv gegensatzloser  Maßstab  172.  Die  weitere  Stufe  der 
Künstlichkeit  und  Zerstücklung.  Die  Vorstellungsbezie- 
hung oder  das  „  Sinnfragment "  17-5.  Der  das  Ja  und  das 
Nicht  enthaltende  Sinn  182.  Die  Kopula  184.  Koordi- 
nierung des  positiven  und  des  negativen  Urteils  186. 
Struktur  von  Richtigkeit  und  Falschheit  188.  Ihre  Quasi- 
transzendenz 191.  Die  „Begriffe"  als  wertindift'erente  , Be- 
deutungen" 194.  Der  Normbegriff  in  seinem  Verhältnis 
zum  Gegensatzproblem  197.  Bejahung  und  Verneinung 
als  Subjektskorrelate  des  Sinnes,  Frage,  problematisches 
Verhalten  und  Gewißheitsgrade  als  bloße  Subjektivitäts- 
unterschiede 200.  Hinweis  auf  das  allgemeinere  Problem 
des  Wertgegensatzes  206. 
Namenregister       208 


Zusätze. 

S.  41  Anm.  2  ist  nach  den  Zitaten  von  Schwegler  und  Bonitz 
hinzuzufügen :  Die  bloße  Zusammengehörigkeit  im  kopulativen  Aus- 
sagegefüge  bedeutet  das  auy/.etoS-a'.  unstro  itig  in  Stellen  wie  de 
int.  c.  3,  16b  2.'i  und  c.  10,  19b  21. 

S.  145  Z.  5  d.  Textes  v.  u.  ist  zwischen  , freilich"  und  „ohne" 
einzuschieben:  als  ein  Korrelat  nicht  der  gegenständlichen  Urteils- 
jenseitigkeit  als  solcher,  sondern  einer  besonderen,  nämlich  der  uu- 
zusammengesetzten  und  darum  gar  keinen  Grund  für  ein  gegensätz- 
lich geteiltes  Urteilsvei'halten  darbietenden  Unterart  der  Gegenstände, 
und 


—    1 


Einleitung. 

Kants  Kopernikanische  Tat  bildet  den  Wendepunkt 
in  der  Gesamtentwicklung  der  theoretischen  Philosophie 
und  der  Logik.  Durch  Kants  revolutionierende  Leistung 
hat  das  Theoretische  als  solches  eine  ganz  andere  Stellung 
im  Gesamtbild  der  Philosophie  erhalten.  Es  ist  von  der 
Situation  eines  bloß  nachbildlichen  und  schattenhaften  Korre- 
lats gegenüber  den  Gegenständen  befreit,  sein  Machtbe- 
reich ist  mitten  in  die  Gegenstände  selbst  hineinverlegt. 
Indem  aber  so  das  Logische  in  die  Fläche  der  Gegen- 
stände selbst  als  ein  konstituierendes  Moment  hineinrückt, 
ist  ein  ganz  neues  Revier,  das  früher  ins  Metalogische  zu 
fallen  schien,  als  eine  Domäne  der  Logik  erobert.  Jedoch 
durch  den  Hinzutritt  einer  solchen  Theorie  vom  Gegen- 
ständlich-Logischen sind  all  die  alten  Themata  der  Logik, 
die  sich  auf  die  nicht  in  der  Gegenstandsregion  selbst 
steckenden,  sondern  in  einem  Abstand  zu  ihr  stehenden 
Phänomene  bezogen ,  keineswegs  verdrängt.  Nur  bringt 
diese  Erweiterung  der  Logik  über  ihre  früheren  Gren- 
zen hinaus  allerdings  einen  ganz  neuen  Gesamtaufbau 
mit  sich.  Denn  als  eine  einzige  Wissenschaft  hat  sie  jetzt 
die  Problemgebiete  der  gegenständlichen  und  der  nicht- 
gegenständlichen theoretischen  Bedeutsamkeit  zu  umspan- 
nen. Die  Kluft,  die  früher  zwischen  dem  Gegenstand  und 
dem  Logischen  bestand,  hat  sich  jetzt  in  einen  alles  be- 
herrschenden Abstand    innerhalb    des   Logischen    ver- 

Lask,  Lehre  vom  Urteil.  X 


—     2     — 

wandelt.  Das  Nachbildliche  und  der  gegenständlichen  Be- 
deutung Bare  macht  nicht  mehr  das  Theoretische  aus, 
sondern  ist  zu  einer  Art  des  Theoretischen  geworden.  Was 
früher  das  All  des  Theoretischen  war ,  ist  jetzt  zu  einer 
sekundären  Region  herabgesunken.  Die  gesamte  Logik 
muß  so  ihrer  obersten  Einteilung  nach  in  eine  Lehre  von 
den  gegenständlichen  und  von  den  nichtgegenständlichen 
logischen  Phänomenen  oder  in  „transzendentale",  „erkennt- 
nistheoretische", „materiale"  Logik  einerseits  und  in  „for- 
male" Logik  andererseits  zerfallen.  In  der  formalen  Lo- 
gik" müssen  sich  all  die  logischen  Phänomene  zusammen- 
finden, die  in  einer  Distanz  von  den  Gegenständen  stehen 
und  deshalb  der  gegenständlichen  Bedeutung  entbehren. 

Damit  ist  aber  zugleich  über  die  Richtung  und  Rang- 
ordnung im  Reiche  des  Logischen  entschieden.  Die  Re- 
gion des  Gegenständlich-Logischen  wird  das  Ursprüngliche, 
das  Primäre,  das  von  der  Subjektivität  gänzlich  Unange- 
tastete und  also  im  höchsten  Sinne  Objektive,  das  eigent- 
lich letzte  Ziel  auf  theoretischem  Gebiet ,  dagegen  die  des 
Nichtgegenständlich-Logischen  ein  sich  in  dienender  Stel- 
lung dazu  Verhaltendes,  ein  irgendwie  von  der  Subjektivi- 
tät gehandhabtes  Mittel  der  Gegenstandsbemächtigung,  kurz 
ein  Sekundäres  und  Nachträgliches ,  darstellen  müssen. 
So  scheiden  sich  bei  solcher  Orientierung  der  Logik  in 
letzter  Linie  logische  Gegenstandsphänomene  und  bloße  se- 
kundäre logische  Bemächtigungsphänomene.  Mögen  diese 
letzteren  auch  das  npöxtpov  TzpoQ  T^|xä;  abgeben,  an  sachlich 
erster  Stelle  stehen  die  Konstituentien  der  Gegenstands- 
region. Als  solche  gegenständlich-logischen  Momente  figu- 
rieren seit  Kant  die  „Kategorien".  Indem  diese  sich  nun 
als  ein  „Material"  zur  Gegenständlichkeit  erhöhende  „For- 
men" erweisen,  so  ist  in  der  kategorialen  Form  das  lo- 
gische Urphänomen,  in  der  Gespaltenheit  in  Katggorie  und 


—     3     — 

Kategorienmaterial,  in  dieser  Artikulation  der  Gegenstände, 
die  logische  Urstruktur  zu  erblicken.  So  ist  von  allen 
Teilen  der  Logik  die  Erforschung  der  Gegenstandsstruktur 
und  die  Kategorienlehre  dazu  berufen  ,  zum  Urphänomen 
vorzudringen,  während  ihr  gegenüber  „formale  Logik"  und 
„Methodologie"  in  letzter  Linie  eine  dienende  Haltung  ein- 
nehmen. 

Ist  dies  einmal  erkannt,  so  ist  damit  ein  fester  Orien- 
tierungspunkt für  die  Rangierung  sämtlicher  logischer  The- 
mata gewonnen.  Die  Messung  an  der  gegenständlich-logi- 
schen Region,  die  Vergleichung  mit  dem  Urphänomen,  muß 
den  einheitlichen  Maßstab  für  die  Einordnung  aller  logi- 
schen Phänomene  abgeben.  Eür  eine  Logik  im  Zeitalter 
des  Kantianismus,  für  eine  die  „transzendentalen"  und  die 
„formallogischen"  Probleme  zu  einer  übergreifenden  Ein- 
heit zusammenfassende  Logik,  muß  es  deshalb  auch  bei  der 
Urteilslehre  geradezu  zur  obersten  Aufgabe  werden ,  das 
Verhältnis  des  Urteils  zur  gegenständlich-logischen  Region 
klarzustellen.  In  diesem  Sinne  setzt  sich  die  folgende 
Untersuchung  zum  Ziel,  die  Lehre  vom  Urteil  zu  den  Grund- 
begriffen der  theoretischen  Philosophie  in  Beziehung  zu 
setzen,  derUrteilsregion  durch  ih  reMessung 
an  der  transzendentallogischen  Urstruk- 
tur ihren  absoluten  Ort  im  Gesamtzusam- 
menhang der  Logik  zu  bestimmen.  Nicht  wie 
sich  das  Urteil  zu  „Begriff"  und  „Schluß"  verhält,  ist  im 
Zeitalter  der  Kantianistisch  orientierten  Logik  die  wichtigste 
Angelegenheit.  Sondern  das  fundamentale  Problem  liegt 
darin,  den  Abstand  zum  Bereich  der  transzendentalen  Logik 
zu  kennzeichnen. 

Es  ist  demgemäß  die  Hauptangelegenheit  dieser  Ab- 
handlung, die  mit  der  transzendentalen  Erweiterung  der 
Logik  verbundene  Herabdrückung  der  nichtgegenständlichen 


—     4     — 

Gebilde  in  der  Lehre  vom  Urteil  hervortreten  zu  lassen. 
Mit  äußerster  Schärfe  muß  zum  Bewußtsein  gebracht  wer- 
den, daß  im  Gesamtaufbau  der  logischen  Phänomene  das 
Urteil  der  sekundären  ,  der  nichtgegenständlichen  Region 
angehört.  Diese  Einsicht  droht  durch  die  noch  gegenwär- 
tig weit  verbreitete  Ansicht  fortwährend  verdunkelt  zu  wer- 
den, wonach  das  Urteil  die  letzte  selbständige  Einheit  im 
gegliederten  Bau  theoretischer  Strukturgebilde  ,  die  Zelle 
des  theoretischen  Organismus,  bildet,  und  wonach  vom  Ur- 
teil als  dem  wahren  logischen  ]\Iittel-  und  Orientierungspunkt 
die  Gesamtheit  der  logischen  Probleme  einheitlich  beherrscht 
wird.  Allein  nur  der  Vorkantianismus  in  der  Logik  hätte 
ein  Recht,  das  Urteil  an  die  sachlich  höchste  Stelle  zu 
setzen.  Wie  sich  denn  in  der  Tat  nicht  bestreiten  läßt, 
daß  dem  Urteil  innerhalb  des  nicht  gegenständlich-logi- 
schen Bereiches  die  Vorherrschaft  gebührt.  Aber  dieser 
ganze  Bereich  selbst  sinkt  eben  vor  dem  das  Kantianistisch 
gedachte  Ganze  der  logischen  Probleme  überschauenden 
Blick  zu  einer  niederen  Region  herab.  Nicht  gegen  das 
Ausgehen  vom  Urteil  als  einem  Tipoxepov  Tipö?  fi\ixc,  richtet 
sich  die  folgende  Darstellung,  wohl  aber  gegen  das  Stehen- 
bleiben bei  ihm  als  bei  einem  Höchsten  und  Letzten.  Sie 
hat  darzutun,  daß  das  Urteil,  als  ein  der  gegenständlichen 
Bedeutung  entleertes  Strukturgebilde,  unvermeidlich  über 
sich  hinausweist.  Sie  sucht,  die  Urteilsregion  aus  ihrer 
IsoHerung  herauszulösen  und  in  die  größeren  Zusammenhange 
der  erweiterten  Logik  hineinzustellen. 

Daß  das  Urteil  im  Verhältnis  zu  den  Gegenständen 
in  einem  Abstand  der  Nachbildlichkeit  steht,  konnte  nun 
allerdings  von  der  vorkantischen  Logik  nicht  verkannt  wer- 
den. Aber  nicht  ebenso  klar  wurde  in  der  Kantischen 
Epoche  durchschaut,  daß  die  Distanz  des  Urteils  von  den 
transzendental-logischen  Momenten,    in    die  sich  nach  der 


—     5     — 

Kopernikanischen  These  die  Gegenständlichkeit  auflöst, 
eine  gleich  große  geblieben  ist.  Die  Verführung  lag  nahe, 
in  das  Gegenständlich-Logische  fälschlich  den  ehemaligen 
vorkantischen  Repräsentanten  des  Logischen  überhaupt, 
das  Urteilsartig  -  Logische  ,  hineinzudeuten.  Dann  nahm 
also  trotz  der  Kopernikanischen  These  das  Urteil  wie  im 
Vorkantianismus  den  obersten  Rang  in  der  Logik  ein,  er- 
hielt aber  dadurch  eine  noch  viel  höhere ,  bis  in  die  Ge- 
genstandsregion selbst  hineinreichende  Bedeutung.  So  wurde 
denn  bisher  dem  Urteil  innerhalb  der  Logik  die  höchste 
Stelle  zuerkannt,  entweder  weil  vorkopernikanisch  der  Ge- 
genstand ,  von  dem  es  als  durch  eine  Distanz  geschieden 
erkannt  war,  gar  nicht  mehr  im  Bereich  des  Logischen  zu 
liegen  schien,  oder  weil  bei  Kopernikanischer  Hineinziehung 
der  Gegenstände  ins  Logische  der  Abstand  des  Urteils  vom 
Gegenständlich-Logischen  sich  verdeckte.  Wo  überhaupt  in 
der  Kantianistisch  beeinflußten  Logik  auf  das  Verhältnis 
zwischen  Urteil  und  transzendentalem  Problemgebiet  ein- 
gegangen wird,  findet  man  nirgends  die  Grenzen  zwischen 
Urteils-  und  Kategorienregion  beobachtet.  Demgegenüber 
wird  in  den  folgenden  Ausführungen  zu  zeigen  sein,  daß 
dem  Urteile  jedwede  transzendentale  und  gegenständliche 
Bedeutung  abzusprechen  ist.  Das  Urteil  ist  aus  dem  Be- 
reich der  transzendentalen  Logik  gänzlicli  htiauszuwL'iben, 
ist  durch  eine  Kluft  von  ihm  geschieden  und  muß  deshalb 
durchaus  als  ein  Gebilde  von  lediglich  „formallogischer" 
Relevanz  begriflen  werden.  ^^^^ 

Doch  diese  ganze  Rede  von  der  Herabdrückung  des 
Urteils  darf  nur  als  der  negative  und  destruktive  Ausdruck 
dafür  angesehen  werden,  worauf  es  hierbei  hauptsächlich 
ankommt,  nämlich  für  das  Ergebnis,  daß  das  Hinausgehen 
über  die  Schranken  der  Urteilsregion,  deren  Einordnung 
in  umfassendere  Zusammenhänge,  von  prinzipieller  Bedeu- 


—     6     — 

tung  für  die  Gliederung  der  gesamten  Logik  ist.  Denn 
gerade  weil  innerhalb  des  Nichtgegenständlichen  das 
Urteil  die  erste  Stelle  einnimmt,  so  befindet  man  sich  bei 
ihm  genau  an  der  Grenze  zwischen  den  beiden  Reichen 
des  Logischen,  an  dem  entscheidenden  Punkte  des  Ueber- 
ganges  vom  Gegenständlichen  zum  Nichtgegenständlichen. 
Gerade  hier  liegt  deshalb  auch  der  geeignete  Ort ,  Klar- 
heit über  die  Distanz  der  beiden  Regionen  zu  verbreiten. 
Ist  einmal  die  Stellung  des  Urteils  richtig  gekennzeichnet, 
dann  erleuchtet  sich  von  da  aus  schließlich  der  gesamte 
übrige  Stufenbau  der  logischen  Erscheinungen. 

"Wenn  hier  die  gegenständlicher  Relevanz  entbehren- 
den Phänomene  in  eine  niedere  und  abhängige  Region  ver- 
wiesen werden,  so  reiht  sich  dieses  Unternehmen  den  auf 
die  transzendentale  Logik  Kants  zurückgehenden  Versu- 
chen ein,  die  sog.  „formale  Logik"  ihrer  angemaßten  Selb- 
ständigkeit zu  berauben  und  die  ihr  angehörenden  logi- 
schen Erscheinungen  nicht  anders  als  durch  Angliederung 
an  die  Phänomene  von  „sachlicher"  ,  d.  h.  konstitutiv- 
logischer  oder  gegenständlicher  Bedeutsamkeit  zu  begreifen. 
Der  so  behauptete  Primat  des  Konstitutiv-Logischen  läßt 
sich  zunächst  sogar  innerhalb  der  Kategorienlehre  selbst 
vertreten  1.  In  der  folgenden  Untersuchung  wird  diese 
durch  die  Kopernikanische  Umwälzung  hervorgebrachte 
Rangordnung  innerhalb  des  Logischen  an  dem  dafür  maß- 
gebenden Kapitel  der  Urteilslehre  erprobt.  Doch  ist  es 
dabei  nicht  etwa  auf  eine  konstitutive  Umdeutung  des  Ur- 
teils abgesehen.  Es  soll  ja  im  Gegenteil  das  Urteil  viel- 
mehr als  ein  konstitutiven  Gewichts  entbehrendes  Gebilde 
hingestellt  werden.  Dabei  wird  sich  herausstellen,  daß, 
wie  bereits  innerhalb  der  Kategorienlehre  zutage  tritt,  alle 

'  Vgl.  meine  Schrift:    Die  Logik  der  Philosophie   uud  die  Kate- 
gorienlehre, 1911,  II.  Teil,  2.  Kapitel. 


—     7     — 

Entfernung  logischer  Phänomene  von  der  konstitutiven  Ur- 
region,  von  diesem  Maximum  an  Objektivität,  auf  einem 
Hineinspielen  der  Subjektivität  beruht. 

Aber  bei  diesem  allgemeinen  Postulat  einer  Orientie- 
rung und  Messung  des  Urteils  an  der  gegenständlich-logi- 
schen Urregion  darf  nicht  stehen  geblieben  werden.  Es 
ist  ja  das  Urteil  auf  den  Gegenstand ,  von  dem  es  durch 
einen  Abstand  geschieden  sein  soll,  doch  offenbar  zugleich 
irgendwie  gerichtet.  Es  wird  irgendwie  als  ein  Mittel  nach- 
bildlicher Gegenstandsbemächtigung  zu  fassen  sein.  Es 
wird  im  Urteil  irgendwie  mit  den  Gegenstandselementen 
geschaltet  werden,  der  Gegenstand  irgendwie  in  das  Ur- 
teilsgebilde hineingearbeitet  sein.  Die  im  Vorangegangenen 
dem  Urteil  nachgesagte  nichtgegenständliche  Relevanz  wird 
mit  einer  derartigen  Einverleibung  des  Gegenstandes  in  die 
Urteilsgebilde  nur  so  in  Einklang  zu  bringen  sein,  daß  das 
"Wesen  des  Urteils  in  einer  solchen  Entfernung  vom  Gegen- 
stand besteht,  die  auf  eine  gleichsam  entstellende  Verar- 
beitung oder  Umformung  des  Gegenstandes  hinausläuft. 
Es  wird  sich  in  der  Tat  als  das  Charakteristische  des  Ur- 
teils der  Hinzutritt  einer  künstlich  e  n  S  t  r  u  k  t  u  r- 
komplikation  zur  schlichten  gegen  ständlich  en  Ur- 
struktur^  herausstellen.  Gerade  diese  Künstnchkeit  wird 
sich  als  das  unvermeidlich  über  die  Urteilsregion  hinaus- 
treibende  Moment  erweisen. 

Die  Feststellung  der  spezifischen  Urteilsstruktur  wird 
darum  gar  nicht  möglich  sein  ,  ohne  die  Zugrundelegung 
der  Gegenstandsstruktur,  also  dessen,  was  die  Komplika- 
tion und  Umbildung  erfährt.  Die  gegenständliche  Struk- 
tur wird  so  den  Richtpunkt  auch  für  die  Struktur  for- 
schung  abgeben  müssen.  Das  heißt  aber :  die  trans- 
zendentale Logik  Kants,  die  Zerlegung 
des  Gegenstands  in  kategoriale  Form    und 


in  Kategorienmaterial,  wird  bestimmend 
hineinragen  in  dieStrukturgliederung  des 
Urteils.  Daraus  wird  sich  dann  die  einzig  mögliche, 
von  der  Grammatik  emanzipierte,  also  metagramm atiscbe 
Subjekts-Prädikatstheorie  ergeben.  Indem  so  die  Urteüs- 
struktur  mit  der  Gegen  Standsstruktur  konfrontiert  und  die 
Mission  erkannt  wird,  die  der  Kategorie  innerhalb  des  Ur- 
teilsgefüges  zugewiesen  ist ,  wird  eine  Brücke  hergestellt 
zwischen  der  Strukturlehre  des  Urteils  auf  der  einen  und 
der  transzendentalen  Logik  sowie  insbesondere  der  Kate- 
gorienlehre auf  der  andern  Seite.  Auch  in  dieser  Bün- 
sicht  der  Struktur  darf  die  Urteilslehre  nicht  unverbunden 
neben  der  transzendentalen  Logik  stehen,  muß  sie  aus  ihrer 
Isolierung  befreit,  müssen  die  Zugänge  zum  transzenden- 
talen Teil  der  Logik  offen  gehalten  werden. 

Die  Lehre  von  der  Struktur  des  Urteils  kann  man 
auch  als  Lehre  vom  „Sinn'*  des  Urteils  bezeichnen.  Denn 
unter  den  Einheiten  oder  Ganzheiten  des  Sinnes  ist  nichts 
anderes  als  das  aus  gewissen  logisch  relevanten  Elementen 
sich  aufbauende  Strukturgefüge  zu  verstehen.  Wenn  im 
Sprachgebrauch  der  Logik  meist  an  Stelle  der  Einheiten 
des  Sinnes  gewisse  Inbegriffe  von  Akten  oder  Funktionen 
figurieren,  so  kann  in  einer  logischen  Theorie  solcher 
Akte  nicht  gut  die  bloße  Aktivität  als  solche  gemeint  sein, 
sondern  höchstens  mit  Rücksicht  auf  die  irgendwie  mit  ihr 
verknüpften  logisch  relevanten  Momente.  Insofern  in  der 
bloßen  Aktivität  als  solcher  keine  logische  Bedeutsamkeit 
liegen  kann ,  muß  sich  das  logisch  Bedeutsame  von  den 
Akten  unterscheiden  und  als  „Sinn"  solcher  Akte  von  ihnen 
als  den  bloßen  Trägern  des  Sinnes  abheben  lassen.  Für 
die  Klärung  der  logischen  Grundbegriffe  ist  darum  die 
Einsicht  erforderlich ,  daß  die  logische  Urteilstheorie  es 
zum  größten  Teil  mit  der  Struktur   eines    von   den  Akten 


—     9     — 

ablösbaren  Sinnes  zu  tun  hat.  Diese  Auffassung,  die  der 
gegenwärtigen  Forschung  durch  Husserl  zum  Bewußtsein 
gebracht  worden  ist,  liegt  der  in  dieser  Abhandlung  ver- 
tretenen Urteilslehre  durchweg  zu  Grunde.  Die  Akte  selbst 
kommen  nach  dieser  Anschauung  nur  in  ihrer  Leistung  als 
Substrat  des  Sinnes,  nach  ihrer  Trägerschaftsrolle  dem 
Sinn  gegenüber,  in  Betracht.  Man  kann  sagen ,  die  mei- 
sten logischen  Untersuchungen,  die  nicht  der  transzenden- 
talen Logik  angehören  und  nicht  der  Ergrün  düng  des  ka- 
tegorialen  Formgehalts  gewidmet  sind  ,  befassen  sich  mit 
der  Struktur,  mit  der  Zusammensetzung  gewisser  theore- 
tischer Gebilde,  Einheiten,  Gefüge,  beispielsweise  mit  der 
Gliederung  von  Begriff,  Urteil  und  Schluß.  Nach  den 
vorher  gemachten  Bemerkungen  muß  es  die  Tendenz  die- 
ser Abhandlung  sein ,  die  Lehre  vom  theoreti- 
sehen  Sinn  von  der  transzendentalen  ürglie- 


derung  nach  Kategorie  und  Katego  rienm  a- 
terial  beherrscht  sein  zu  lassen. 


^un  war  alle  bisherige  Logik  des  Sinnes  Logik  des 
nichtgegenständlichen  Sinnes,  weshalb  der  „Sinn"  —  z.  B. 
des  Urteils  —  stets  dem  „Gegenstand'-  gegenübergestellt 
zu  werden  pflegt.  Die  Ueberbrückung,  von  der  vorher  ge- 
sprochen wurde,  erscheint  darum  jetzt  als  eine  Libeziehung- 
setzung  zwischen  der  Lehre  von  der  nichtgegenständlichen 
Sinn  struktur  auf  der  einen,  und  der  Lehre  von  der  gegen- 
ständlichen Struktur  sowie  der  kategorialen  Form  auf  der 
andern  Seite. 

So  können  durch  die  Urteilslehre  die  Verbindungs- 
linien gezogen  werden,  wie  zwischen  Nichtgegenständlich- 
keit  und  Gegenständlichkeit  der  Phänomene,  so  auch  zwi- 
schen Struktur  und  kategorialem  Formgehalt,  und  d.  h. 
zwischen  den  Gliedern  der  beiden  Begriffspaare,  die  sich 
in  einer  systematischen  Darstellung  als  die  einander  kreu- 


—     10     - 

zenden  Hauptunterschiede  der  Logik  herausstellen  würden.  — 
Es  erweist  sich  aber  als  solidarisch  verbunden  mit  der 
besonderen  Strukturkünstlichkeit  des  Urteils  ein  ganz  be- 
stimmtes Phänomen,  nämlich  das  der  Gegen  sät zlichkeit 
des  Sinnes.  Auch  hierauf  muß  in  der  Einleitung  mit  eini- 
gen kurz  andeutenden,  lediglich  präludierenden  Bemerkun- 
gen hingewiesen  werden.  Da  in  der  Strukturlehre  niemals 
der  Umkreis  der  Urteilsregion  überschritten  wurde,  konnte 
auch  an  dieser  Erscheinung  der  Gegensätzlichkeit  niemals 
gerüttelt  werden.  Es  ist  die  Jahrtausende  alte  Tradition 
der  Logik  gewesen,  die  theoretischen  Strukturgebilde  durch 
die  Gegensätze  des  „Wahren"  und  des  „Falschen",  des 
Positiven  und  des  Negativen,  zu  bestimmen.  In  der  Lehre 
vom  Sinn  ist  die  Logik  wie  niemals  über  den  nichtgegen- 
ständlichen, den  von  Sätzen,  Aussagen,  Urteilen  ablösba- 
ren, so  auch  niemals  über  den  gegensätzlich  gespaltenen 
Sinn,  über  das,  „was  wahr  oder  falsch  sein  kann",  hinaus- 
gegangen. Dementsprechend  ist  auch  niemals  die  von  Ari- 
stoteles begründete  Gliederung  der  Urteilsstruktur  nach 
Subjekt,  Prädikat,  Kopula  einerseits  und  dem  gegensätz- 
lichen Moment  der  Bejahung  und  Verneinung,  also  der 
„Qualität"  andererseits,  als  wegen  ihrer  Künstlichkeit  über 
sich  hinausweisend  durchschaut  worden. 

Wird  nun  mit  dem  Stehenbleiben  bei  der  nichtgegen- 
ständlichen Strukturkünstlichkeit  ein  Ende  gemacht,  so  zieht 
das  sogleich  ein  Hinausschreiten  über  die  Region  der  Gegen- 
sätzlichkeit nach  sich.  Es  wird  darum  dem  gegensätzlich 
gespaltenen  Strukturgefüge  des  Satz-  oder  Urteilssinnes, 
der  „wahr"  oder  „falsch"  sein  kann,  in  der  transzenden- 
tallogischen Region  ein  gegensatzloses  Urbild  gegenüberzu- 
stellen  sein.  Und  zwar  wird  sich  Tür  diesen  Schritt  zur 
Gegensatzlosigkeit  die  Reflexion  auf  die  Komplikation  der 
Struktur  als   der    einzige    exakte  Weg    erweisen.     Auf 


—    11    — 

dieses  Orientiertsein  des  ganzen  Gegensatzproblems  am 
Gradmesser  der  Struktur  ist  das  größte  Gewicht  zu  legen. 

Besondere  Konsequenzen  hat  das  Hinausgetriebenwer- 
den  über  die  Gegensätzlichkeit  für  die  am  Geltung  s- 
und  Wert  begriff  orientierte  Logik.  Das  Stehenbleiben 
beim  Urteil,  beim  Entweder-Oder  eines  Verhaltens,  mußte 
zu  einer  Verschlingung  des  Geltungs-  und  Wertmoments 
mit  dem  Gegensatzmoment,  mit  der  Alternative  von  Gül- 
tigkeit und  Ungültigkeit,  von  Wert  und  Unwert,  führen. 
So  hat  denn  auch  von  der  Urteilslehre  die  gesamte  logische 
Geltungs-  und  Werttheorie  das  Gepräge  erhalten.  Die 
Gegensätzlichkeit  gilt  ihr  für  das  Urphänomen  des  Gel- 
tungs- und  Wertmoments  und  beherrscht  die  gesamte  Theo- 
rie. Ueberall  ist  es  die  Ganzheit  und  Abgeschlossenheit 
von  Satz  und  Urteil,  die  als  die  eigentliche  Geltungs-  und 
Werteinheit,  als  das  den  Gegensatz  von  Wert  und  Unwert 
aufweisende  Gebilde,  zugrunde  gelegt  wird. 

Durch  das  Hinausgehen  über  die  Urteilsregion  wird 
somit  auch  die  Problemverschlingung  des  Geltungs-  und 
Wertbegriffs  mit  der  Gegensätzlichkeit  beseitigt.  Ueber  den 
Gegensatz  von  Gültigkeit  und  Ungültigkeit  Avird  das  gegen- 


satzlose Gelten,  über  den  Gegensatz  von  Wert  und  Un- 
wert  der  gegensatzlose  Wert  zu  stellen  sein.  Und  es  wird 
sich  die  absolute  Unumgänglichkeit  eines  gegensatzlosen 
Geltens  und  Wertes  dadurch  zu  bewähren  haben,  daß  man 
ohne  sein  Bestehen  gewissen  bedeutsamsten  Phänomenen 
der  Logik,  wie  den  Kategorien,  in  völliger  Zwiespältigkeit 
und  Ratlosigkeit  gegenübersteht. 

Auch  hier  erweist  sich  freilich  die  Gegensätzlichkeit 
als  das  berechtigte  TipoiEpov  npbq  Yiiiotq.  Von  der  Geltungs- 
und Wert  gegensätzlichkeit  aus  wurde  Licht  über 
den  Sinn  der  ganzen  logischen  Forschung  verbreitet.  Das 
Ausgehen    vom  Urteil  hat   zur  Entdeckung    des  Geltungs- 


—     12     — 

und  Wertcharakters  für  die  gesamte  Logik  verholfen.  Ge- 
rade die  logische  Geltimgs-  und  Werttheorie  hat  die  Mis- 
sion erfüllt,  erst  die  Einordnung  der  Logik  in  die  Reihe 
der  philosophischen  Disziplinen  begreiflich  zu  machen.  Im 
Bejahen  und  Verneinen,  im  Anerkennen  und  Verwerfen, 
im  alternativen  Stellungnehmen,  im  Entscheiden  und  Rich- 
ten über  Wahrheit  und  Unwahrheit,  in  der  „Qualität"  des 
Urteils,  tritt  das  in  andern  Objekten  der  logischen  For- 
schung, z.  B.  in  den  gegensatzlosen  kategorialen  Formen,  ver- 
borgene Geltungs-  und  Wertgepräge  auch  der  theoretischen 
Sphäre  offen  zutage. 

Wenn  darum  in  dieser  Abhandlung  zur  Gegensatz- 
losigkeit  von  Gelten  und  Wert  fortgegangen  wird,  so  kann 
doch  dieser  Schritt  nur  so  erfolgen,  daß  zunächst  der 
Standpunkt  bei  der  gegensätzlichen  Wertartigkeit  genommen 
wird,  also  bei  der  Region,  deren  Herausarbeitung  der  Wert- 
theorie des  Urteils  verdankt  wird.  Diese  gesamte  Abhand- 
lung gibt  sich  somit  ganz  und  gar  als  ein  Weiterschreiten 
in  den  durch  jene  Theorie  vorgezeichneten  Bahnen. 

Auf  das,  was  vorher  über  die  Möglichkeit  einer  Ueber- 
brückung  zwischen  den  verschiedenen  Partien  der  Logik 
angekündigt  wurde,  läßt  sich  jetzt  noch  das  Begriffspaar 
der  Gegensätzlichkeit  und  Gegensatzlosigkeit  anwenden. 
Indem  sich  die  Besinnung  darauf  richtet,  welche  Rolle  der 
gegensatzlosen  Gegenstandsstruktur  und  der  gegensatzlosen 
kategorialen  Form  im  Rahmen  des  nichtgegenständlichen 
gegensätzlich  gespaltenen  Strukturgefüges  zukommt,  und 
indem  sodann  die  Gegensätzlichkeit  des  Urteilssinnes  durch 
eine  Lehre  von  der  in  der  transzendentalen  Urregion  lie- 
genden Gegensatzlosigkeit  überbaut  wird,  bietet  sich  ein 
Mittel  dar,  die  Kluft  zwischen  den  gegensätzlichen  und  den 
gegensatzlosen  Phänomenen  der  Logik  zu  überbrücken.  — 

Aus  den  vorangegangenen  Andeutungen  ist  so  viel  er- 


—     13     — 

sichtlich  geworden,  daß  die  ganze  folgende  Urteilslehre  eine 
ümkehrung  der  üblichen  Betrachtungsweise  zur  Voraus- 
setzung hat.  Sie  kann  die  Urteilsstruktur  nicht  als  ein 
Letztes  und  Irreduzibles  hinnehmen,  sondern  muß  sie  als 
ein  allzutief  in  die  Subjektivität  Verstricktes,  der  Erklä- 
rung und  Ableitung  aus  primitiveren  Phänomenen  höchst 
Bedürftiges  ansehen. 

Es  ist  aber  außerdem  soeben  angekündigt  worden,  daß 
bei  dem  Schritt  zur  Gegensatzlosigkeit  der  Ausgangspunkt 
des  Suchens  und  Findens  das  upoxspov  upbq  rj^iäc,,  also  die 
uns  zunächst  liegende  Erkenntnisetappe,  sein  muß,  und 
d.  h.  die  gegensätzlich  differenzierte  alternativ  sich  verhal- 
tende ürteilsentscheidung.  Es  soll  denn  auch  in  der  Tat 
von  der  gegensätzlichen  Region  ausgegangen  und  dabei  ge- 
zeigt werden,  daß  sich  bei  ihr  nicht  ruhen  läßt,  sondern 
man  unvermeidlich  zu  einer  gegensatzlosen  Region  weiter- 
getrieben wird.  — 

Indessen,  es  gibt  noch  innerhalb  der  gegensätzlichen 
ürteilsregion  zwei  verschiedene  Etappen,  und  ihnen  ent- 
spricht eine  Doppeltheit  der  Gegensatzpaare.  Um  sich 
nämlich  des  theoretischen  Gegensatzproblems  zu  bemäch- 
tigen und  von  vornherein  einen  Ueberblick  über  die  ganze 
Untersuchung  darüber  zu  gewinnen,  ist  es  unerläßlich,  sich 
auf  den  fast  nirgends  gebührend  beachteten  Umstand  zu 
besinnen,  daß  es  durchaus  der  Aufstellung  zweier  Gegen- 
satzpaare  bedarf.  Das  ist  eine  völlig  innerhalb  der 
Gegensatzregion  spielende  Angelegenheit,  die  ganz  unab- 
hängig vom  Problem  der  Gegensatzlosigkeit  und  der  Ueber- 
schreitbarkeit  der  Gegensätze  besteht. 

Wenn  nun  die  folgende  Untersuchung  von  der  Gegen- 
satzregion ausgeht,  so  ist  es  ratsam,  innerhalb  ihrer  nicht 
das  uns  nächstliegende,  sondern  das  dort  sachlich  frühere 
Gegensatzpaar  zum  Ausgangspunkt  zu   wählen.     Da  näm- 


—     14    — 

lieh  das  uns  zuallernächstliegende  mit  noch  größerer  Kom- 
plikation und  Künstlichkeit  behaftet  ist,  so  ist  es  erforder- 
lich, zur  Ergründung  der  Gegensätzlichkeit  überhaupt  sich 
an  das  sachlich  erste  Gegensatzpaar  zu  halten.  Es  kommt 
also  nicht  darauf  an,  daß  vom  T^pwiov  Tipö;  ^(xä;,  sondern 
es  ist  ebenso  notwendig  wie  ausreichend,  wenn  nur  über- 
haupt vom  TwpoTspov  Tzpbq,  "»^/{xäs,  d.  h.  von  der  gegensätz- 
lichen Struktur,  ausgegangen  wird. 

Dessen  ungeachtet  soll,  wenn  auch  nicht  in  der  spä- 
teren Darstellung,  so  doch  jetzt  in  der  Einleitung  kurz 
der  Weg  angedeutet  werden,  der  von  der  uns  zuallernächst- 
liegenden  zu  der  sie  bedingenden  Etappe  führt.  Es  ist 
dabei  durch  vorläufige  Hinweise  plausibel  zu  machen,  daß 
das  eine  Gegensatzpaar  der  Urteilsregion  nicht  für  sich 
allein  bestehen  kann,  sondern  ein  zweites  zu  seiner  Vor- 
aussetzung hat.  Da  dieses  zweite,  also  das  sachlich  frühere, 
das  Thema  des  ersten  Kapitels  bildet,  so  muß  in  dem  jetzt 
folgenden  letzten  Teil  der  Einleitung  der  Ort  dieses  Gegen- 
satzpaares, soweit  es  für  eine  vorläufige  Orientierung  er- 
forderlich ist,  kenntlich  gemacht  werden. 

Das  uns  zunächstliegende,  geläufigste  und  fast  aus- 
schließlich der  Untersuchung  zugrunde  gelegte  Gegensatz- 
paar wird  der  alternativen  Urteilsentscheidung  entnommen. 
Innerhalb  seiner  ist  aber  noch  zweierlei  auseinanderzu- 
halten. Zunächst  der  Wertgegensatz  des  urteilenden  Stel- 
lungnehmens selbst,  der  Wert  des  Trefi'ens  und  der  Un- 
wert des  Verfehlens  oder  Irrens,  also  der  Gegensatz  von 
Zutreffend  heit  (in  Ermanglung  eines  passenderen 
Ausdrucks)  und  Irrigkeit  oder  Irrtum.  Davon  zu  unter- 
scheiden ist  der  Gegensatz  dessen,  was  geurteilt  wird,  also 
der  Gegensatz  des  im  Urteil  , Gedachten",  „Gemeinten", 
„Ausgesagten",  d.  h.  der  im  Sinn  des  Urteils  sich  aus- 
prägende Gegensatz.     Dieser  Gegensatz  des  vom  Urteil  ab- 


—     15     — 

lösbaren  Sinnes  mag  als  der  von  Richtigkeit  und 
Falschheit  bezeichnet  werden.  Es  gibt  richtige  und 
falsche  Urteile  und  Sätze  im  logischen  Sinne,  „Wahrheiten 
an  sich"  (Richtigkeiten)  und  „Falschheiten  an  sich",  d.  h. 
richtige  und  falsche  Gefüge  von  Urteilselementen  oder  Ein- 
heiten des  Sinnes. 

Diese  Gegenüberstellung  einer  Gegensätzlichkeit  des 
Verhaltens  und  einer  solchen  des  Urteilssinnes  ist  die  ein- 
zige Unterscheidung  von  Gegensatzpaaren,  die  vorgenommen 
zu  werden  pflegt  ^ 

Demgegenüber  ist  nun  zu  erkennen,  daß  Richtigkeit 
und  Falschheit  des  Sinnes  von  einem  andern  und  zwar  von 
einem  als  Maßstab  fungierenden  Gegensatzpaar  abhängt 
und  ohne  dieses  garnicht  verstanden  werden  kann,  die  üb- 
liche, dies  ignorierende  Betrachtungsweise  aber  einen  Zirkel 
einschließt. 

Das  wesentliche  Argument  ist  folgendes:  das  richtige 
und  falsche  Gefüge  des  Urteilssinnes  gibt  es  garnicht  un- 
abhängig von  der  Urteilsentscheidung;    es  ist  ein    von    der 

*  Kant  bestimmt:  ,Das  Gegenteil  von  der  Wahrheit  ist  die 
Falschheit,  welche,  sofern  sie  für  Wahrheit  gehalten  wird,  Irrtum 
heißt".  Logik  (Jaesche),  Einl.  VII.  Da  der  Irrtum  dem  Akt  als  sol- 
chem zugeschrieben  wird  und  die  Falschheit  den  Sinn  betrifft,  so 
wird  beides  zuweilen  nicht  ganz  scharf  als  psychologisches  und  logi- 
sches Phänomen  einander  gegenübergestellt,  vgl.  R.  Richter,  D.  Skep- 
tizism.  i.  d.  Philos.,  II,  1908,  176.  Nach  Husserl  gehen  ,die  logischen 
Prädikate  wahr  und  falsch"  die  „Inhalte"  „im  Sinne  idealer  Aussage- 
bedeutung" an,  während  „Richtigkeit"  dem  Urteile  zukommt,  das  den 
wahren  Inhalt  zum  Objekt  hat.  Logische  Untersuchungen  I,  1900,  176 
Anm.,  vgl.  auch  II,  594  ff.  Vielleicht  ist  die  Unterscheidung  verschiede- 
ner Bedeutungen  des  r^izüboc,  bei  Aristoteles,  Met.  V,  29,  1024b,  in 
demselben  Sinne  zu  interpretieren  (vgl.  den  Exkurs  über  Aristoteles 
Kap.  I,  Abschn.  1  Ende),  wie  denn  überhaupt  Aristoteles  Urteil  und 
„Urteüsinhalt"  auseinanderhält,  vgl.  z.  B.  cat.  c.  10,  12b  6  ff.  und 
Mai  er  s  Auseinanderhaltung  einer  objektiv-logischen  und  einer  sub- 
jektiv-psychologischen Seite  am  Aristotelischen  Urteil,  D.  Syllogistik 
d.  Aristoteles,  I,  1896,  10  ff.,  24  ff.,  102—106. 


—     16     — 

ürteilsentscheidung  ablösbares  oder,  wie  in  einem  späterer 
Erläuterung  noch  bedürftigem  Sinne  vorläufig  formuliert 
werden  mag,  ein  erst  in  und  mit  der  Ürteilsentscheidung 
entstehendes  Gebilde.  Zur  Erkenntnis  davon  ist  lediglich 
folgendes  in  Erwägung  zu  ziehen.  Der  richtige  und  falsche 
Urteilssinn  ist  nicht  als  ein  Gefüge  mit  einfacher  Wertig- 
keit oder  Unwertigkeit  zu  verstehen.  Urteilen  ist  doch  Be- 
jahen oder  Verneinen,  d.  h.  ein  etwas  für  wertig  oder  für 
unwertig  Erklären,  sich  über  Wert  oder  Unwert  von  et- 
was Entscheiden ;  der  Urteilssinn  ist  entsprechend  ein  posi- 
tiver oder  ein  negativer,  ein  mit  dem  Ja  oder  Nicht  be- 
hafteter Sinn,  d.  h.  ein  Gebilde,  in  dem  ein  Gefüge  als 
mit  Wert  oder  Unwert  ausgestattet  erscheint.  Es  ist  so- 
mit das  Gefüge,  worüber  entschieden,  wem  Wert  oder 
Unwert  als  zukommend  erachtet  wird,  von  dem  komplizier- 
teren Gebilde  zu  unterscheiden,  das  sich  aus  eben  diesem 
Gefüge  und  der  von  ihm  getrennten  und  ausdrücklich  ihm 
in  der  Urteilsentscheidung  erst  noch  zudiktierten  Wert- 
qualität zusammensetzt,  kurz,  es  ist  zu  unterscheiden  zwi- 
schen dem,  wo  rubrer  geurteilt  wird,  und  zwischen  dem, 
was  geurteilt  wird,  zwischen  dem,  was  die  Unterlage  und 
zwischen  dem,  was  das  ganze  Objekt  der  Urteilsentschei- 
dung, also  das  dabei  im  ganzen  „Gedachte"  oder  „Ge- 
meinte", ausmacht.  Es  gibt  nun  die  mit  Wert  oder  Un- 
wert als  ausgestattet  hingestellten  und  folge  weise  mit  dem 
Ja  oder  Nicht  behafteten  Gefüge  des  Urteilssinnes  nirgends 
anders  als  in  der  Urteilsentscheidung.  Dagegen  die  Ge- 
füge, denen  dabei  Wert  oder  Unwert  zuerteilt  wird, 
müssen  offensichtlich  unabhängig  vom  urteilenden  Stellung- 
nehmen bestehen,  ja  unabhängig  von  ihm  Wert  oder  Un- 
wert aufweisen.  Nach  ihnen  richtet  sicli  doch  Richtigkeit 
und  Falschheit  der  in  der  Urteilsentscheidung  vorschweben- 
den Sinngefüge.     Es  bestimmt  sich  ja    die  Richtigkeit  und 


—     17     — 

Falschheit  der  Gebilde,  in  denen  einem  gewissen  Gefüge 
durch  das  Ja  der  Wert  oder  durch  das  Nicht  der  Unwert 
zuerteilt  wird,  danach,  ob  diesen  Gefügen  unabhängig  vom 
urteilenden  Meinen  und  Sichentscheiden  an  sich  Wert 
oder  Unwert  zukommt.  Die  von  der  Urteiisentschei- 
dung  ablösbaren  und  mit  ihr  solidarischen,  als  mit  Wert 
oder  Unwert  versehen  vorschwebenden  Gebilde  mögen  stets 
kurz  als  Urteilssinn,  als  Sinn  der  Urteile  und  Sätze,  be- 
zeichnet werdend  Wenn  sie  das  unmittelbare  Objekt  bei 
der  Urteilsentscheidung,  das  im  ganzen  dabei  „Gedachte", 
bilden,  so  geben  doch  die  Gefüge,  über  deren  Wert  oder 
Unwert  dabei  gerichtet  wird,  also  die  Unterlagen  der  Ur- 
teilsentscheidung, als  das,  worüber  entschieden  wird,  die 
primären  Objekte  der  Urteilsentscheidung  ab.  Sie 
mögen  im  folgenden  auch  einfach  als  die  „Objekte  der  Ur- 
teilsentscheidung" bezeichnet  werden. 

Der  Ursprung  der  Gegensätzlichkeit  liegt  somit  eine 
Stufe  weiter  zurück  als  in  der  Urteilslehre  gemeinhin  an- 
genommen wird.  Den  Gegensatz  überhaupt  bringt  nicht 
erst  das  urteilende  Stellungnehmen  dadurch  mit  sich,  daß 
es  sich  mit  alternativer  Qualitätsentscheidung  auf  eine 
bloße  wertindifferente  „Vorstellungsbeziehung"  richtet,  und 
ebensowenig  baut  sich  der  von  der  Urteilsentscheidung  ab- 
lösbare Sinn  auf  einer  wertindifferenten  „Materie"  auf,  wie 
in  fast  sämtlichen  Urteilstheorien  gelehrt  wird.  Vielmehr 
gerade  bereits  in  der  „Materie"  oder  dem  Substrat  der 
Urteilsentscheidung  steckt  der  primäre  Wertgegensatz,  der 
Ursprung  des  Qualitätsgegensatzes  im  Urteil.  Um  das  ein- 
zusehen, ist  eben  lediglich  die  Besinnung  darauf  erforder- 
lich, daß  die  Uebereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung 


*  Worunter  also  niemals  der  Sinn  des  Urteils  als  des  Urteils- 
aktes, d.  h.  die  bedeutungsvolle  Trägerschafts-  und  Subjektsleistung 
des  Anerkennens  und  Verwerfens  verstanden  wird. 

Lask,  Lehre  vom  Urteil.  2 


—     18     ~ 

der  einem  gewissen  Gefüge  im  Urteil  als  zukommend  er- 
achteten Wert-  oder  Unwertqualität  mit  der  diesem  Ge- 
füge an  sich  zukommenden  Qualität  den  Maßstab  für  Rich- 
tigkeit und  Falschheit  des  Urteilssinnes  abgibt.  In  jedem 
Gefüge  des  Urteilssinnes  stecken  zwei  positive  oder  ne- 
gative Wertbestimmtheiten,  von  denen  die  eine  durch  Be- 
jahung oder  Verneinung  bezeichnet  ist,  die  andere  im  pri- 
mären Objekt  der  Bejahung  und  Verneinung  liegt.  Es 
bedarf  also  nicht  etwa  bloß  das  Treffen  und  Verfehlen, 
sondern  auch  der  Sinn  des  Urteils  eines  Maßes.  Und  an 
diesem  Maß  wird  mit  einem  Schlage  Richtigkeit  und  Falsch- 
heit des  Sinnes  wie  Zutreffendheit  und  Irrigkeit  des  Ver- 
haltens gemessen.  Denn  theoretisches  Treffen  ist  nichts 
anderes  als  einen  mit  dem  Objekt  der  ürteilsentscheidung 
übereinstimmenden,  d.  h.  richtigen  Sinn  sich  vorschweben 
lassen,  also  über  ein  vorliegendes  Gefüge  richtig  entschei- 
den und  Irren  nichts  anderes  als  falsch  entscheiden.  Um- 
gekehrt fällt  richtiger  und  falscher  mit  dem  vom  treffen- 
den und  irrigen  Verhalten  ablösbaren  Sinn  zusammen. 

Das  bisher  gewonnene  Ergebnis  lautet :  es  muß  ein 
Gegensatzpaar  geben,  das  vom  treffenden  und  verfehlenden 
Verhalten  ebenso  wie  von  Richtigkeit  und  Falschheit  des 
Urteilssinnes  nicht  abhängig  ist ,  vielmehr  umgekehrt  den 
Maßstab  und  die  Voraussetzung  dafür  bildet.  Der  Be- 
weisgang war  einfach  folgender:  das  Entscheiden  über  ein 
Gefüge  macht  erst  das  treffende  oder  irrende  Urteilsver- 
halten aus;  ebenso  besteht  erst  im  Behaftetsein  eines  Ge- 
füges  mit  ihm  zuerteiltem  Wert  oder  Unwert  das  Wesen 
des  Urteilssinnes.  Das  Gefüge,  worüber  im  Urteil  ent- 
schieden, was  mit  der  Wertqualität  ausgestattet  im  Urteils- 
sinn vorliegt,  kann  nicht  selbst  bereits  von  einer  Urteils- 
entscheidung ablösbarer  Sinn  sein ,  wie  ja  auch  offenbar 
das  Urteilen  nicht  als  ein  Urteilen  über   ein   Urteilen    de- 


—     19     — 

finiert  werden  darf.  Es  mag  nun  dieser  primäre,  vom  Ur- 
teilsgegensatz unabhängige  und  ihm  zugrunde  liegende  Ge- 
gensatz ,  also  der  Gegensatz  von  Wert  und  Unwert ,  der 
dem  primären  Objekt  der  Urteilsentscheidung  an  sich  zu- 
kommt und  entsprechend  in  der  Urteilsentscheidung  als 
zukommend  beigelegt  werden  soll ,  als  der  Gegensatz  von 
Wahrheit  und  W  ahrheits Widrigkeit  bezeichnet  wer- 
den. Die  Voraussetzung  für  die  richtigen  und  falschen 
bilden  somit  die  wahren  und  die  wahrheitswidrigen  Gefüge. 
Auch  sie  stellen  wertartige  Ganzheiten  von  Elementen  und 
folglich  Gebilde  des  „Sinnes"  dar. 

Im  Urteilen  wird  demnach  über  Wahrheit  und  Wahr- 
heitswidrigkeit eines  an  sich  wahren  oder  wahrheitswidri- 
gen Gefüges  entschieden.  Wahrheit  für  Wahrheit ,  aber 
auch  Wahrheitswidrigkeit  für  Wahrheitswidrigkeit  halten 
bringt  Richtigkeit,  Wahrheitswidrigkeit  für  Wahrheit,  aber 
auch  Wahrheit  für  Wahrheitswidrigkeit  halten  Falschheit 
mit  sich.  Theoretisches  Anerkennen  oder  Fürwahrhalten 
heißt  Bejahen,  theoretisches  Verwerfen  oder  Fürwahrheits- 
widrighalten  heißt  verneinen.  Bejahen  des  an  sich  wahren 
und  Verneinen  des  an  sich  wahrheitswidrigen  Gefüges  führt 
zur  Richtigkeit,  dagegen  bejahte  Wahrbeitswidrigkeit  und 
verneinte  Wahrheit  zur  Falschheit.  Es  gibt  richtige  und 
falsche  Fürwahr-  wie  Fürwahrheitswidrighaltungen.  So 
kreuzen  sich  die  beiden  Gegensätze  der  Bejahung  und  Ver- 
neinung oder  der  Fürwahr-  und  Fürwahrheitswidrighaltung 
und  der  Richtigkeit  und  Falschheit.  In  diesem  Neben- 
einanderbestehen der  beiden  Paare  dokumentiert  sich  die 
Doppeltheit  der  Gegensätze. 

Es  gibt  also  neben  dem  Gegensatz  von  Treffen  und 
Verfehlen  zwei  Gegensatzpaare  des  Sinnes :  das  von  Wahr- 
heit und  Wahrheitswidrigkeit  und  das  von  Richtigkeit  und 
Falschheit. 

2* 


—     20     — 

Es  ist  jedoch  das  größte  Gewicht  darauf  zu  legen, 
daß  die  ganze  zu  einem  zweiten  selbständigen  Gegensatz- 
paar führende  Argumentation  für  die  unwertigen  Gebilde 
genau  ebenso  zutrifft  wie  für  die  wertigen.  Es  gibt  nicht 
etwa  nur  den  von  Treffen  und  Richtigkeit  unabhängigen 
Wert  der  Wahrheit,  sondern  auch  den  von  Verfehlen  und 
Falschheit  unabhängigen  Unwert  der  Wahrheitswidrigkeit. 
Es  gibt  ebenso  an  sich  verneinungswürdige  wie  an  sich  be- 
jahungswürdige Gebilde.  Da  eine  vom  Irrtum  unabhängige 
Unwertigkeit  oder  Verneinungswürdigkeit  auf  den  ersten 
Blick  weniger  einleuchtet,  so  bedarf  es  einer  ausdrücklichen 
Anwendung  der  vorangegangenen  allgemeinen  Argumen- 
tation auf  den  Fall  des  Verfehlens.  Verfehlen  besteht 
doch  immer  darin,  daß  an  Stelle  dessen,  was  erfaßt  werden 
sollte,  etwas  anderes  im  Meinen  vorschwebt  und  —  „irr- 
tümlich'- —  für  jenes  gehalten  wird.  Aber  nicht  ein  be- 
liebiges Verwechseln  ,  sondern  nur  die  Vertauschung  von 
Wertgegensätzlichem  ergibt  den  Unwert  der  Täuschung 
oder  des  Irrtums.  Es  muß  Wertiges  für  Unwertiges  oder 
ünwertiges  für  Wertiges  genommen  werden.  Damit  es 
überhaupt  zum  Verfehlen  kommen  soll,  müssen  bereits  un- 
abhängig vom  Verfehlen  Wert-  und  Unwertgebilde  als  ein 
mit  einander  Verwechselbares  sich  darbieten.  Es  muß  eben 
bedacht  werden  :  Irren  ist  nicht  einfach  ein  Abirren  oder 
Abweichen  von  der  Wahrheit ,  ist  auch  nicht  einfach  ein 
Anstiften  willkürlicher ,  unwertiger  Gebilde.  Zum  Irren 
wird  das  Verhalten  höchstens  erst ,  wenn  unwertige  Ge- 
bilde für  wertige  gehalten  werden.  Der  Unwert  des  Ir- 
rens setzt  also  einen  Wertgegensatz  und  somit  einen  vom 
Irren  und  der  Falschheit  unabhängigen  Unwert  voraus. 
Mag  es  darum  auch  die  Subjektivität  selbst  sein ,  die  die 
unwertigen  Gebilde  irgendwie  erzeugt.  Woher  sie  stam- 
men, darnach  wird  hier    noch    nicht    gefragt.     Es   genügt, 


—     21     — 

daß  sie  irgendwie  vorhanden  sein,  dem  urteilenden  Stel- 
lungnehmen wenigstens  von  anderwärts  her  irgendwie 
präsentiert  sein  müssen,  soll  es  überhaupt  zum  Irrtum  kom- 
men. Mag  sonach  an  dem  Zustandekommen  dieser  gewill- 
kürten Gebilde  die  Subjektivität  irgendwie  schuld  sein,  nur 
darauf  kommt  es  hier  an,  daß  sie  jedenfalls  dem  Ver- 
fehlen gegenüber  als  ein  davon  Unabhängiges  und  Selb- 
ständiges bestehen.  Es  ist  darum  auch  nicht  zu  befürch- 
ten, daß  die  Annahme  an  sich  bestehender,  vom  Irrtum 
unabhängiger  unwertiger  Sinngebilde  zu  einer  metaphysi- 
sischen  Yerabsolutierung  des  Negativen  führen  muß.  Denn 
es  ist  ja  bereits  angedeutet  worden,  daß  die  Subjektsakti- 
vität hierbei  gar  nicht  als  unbeteiligt  ausgeschaltet  werden 
soll.  Erst  in  der  später  ausgeführten  Theorie  ward  sich 
zeigen,  wie  diese  Andeutungen  sich  bewahrheiten,  wie  auf 
einem  von  der  Subjektivität  zwar  bereiteten  Boden  dennoch 
sinnartige,  an  sich  unwertige  Gebilde  bestehen  können. 

Es  geht  darum  nicht  an,  wozu  eine  hartnäckige  Ge- 
wohnheit verleiten  möchte :  das  Verneinungswürdige  als 
durch  den  Irrtum  geschaffen  anzunehmen.  Macht  doch 
vielmehr  umgekehrt  das  Bestehen  verneinungswürdiger  Ge- 
bilde den  Irrtum  erst  möglich.  Da  dies  nicht  bedacht,  der 
primäre  Unwert  nicht  in  die  der  Entscheidung  sich  dar- 
bietenden und  von  ihr  unabhängigen  Objekte  hineinverlegt 
wurde,  mußte  die  verneinungswürdige  Wahrheitswidrigkeit 
stets  auf  Rechnung  des  Verfehlens  gesetzt,  mit  der  Falsch- 
heit verwechselt  und  so  die  ganz  grundlegende  und  unver- 
meidliche Doppeltheit  der  Gegensatzpaare  übersehen  wer- 
den. Es  mußte  der  Wahn  entstehen,  daß  das  Verneinen, 
das  Fürwahrheitswidrighalten,  gleichbedeutend  sei  mit  für 
falsch,  für  irrtümlich  Erklären  ,  auf  die  Ablehnung  eines 
irrtümlichen  Urteils  hinauslaufe.  Allein  es  mag  aller- 
dings das  Verneinen ,    das  Kennzeichnen  der  Wahr- 


—     22     — 

heitswidrigkeit  als  solcher  um  des  drohenden  Irrtums 
willen  stattfinden.  Dagegen  das,  worüber  im  Verneinen 
entschieden,  was  dabei  als  Unwert  hingestellt  wird,  ist  nicht 
Irrtum  und  Falschheit,  sondern  die  vom  Irrtum  unabhängige 
Wahrheitswidrigkeit,  deren  irrtümliche  Verwechslung  mit 
der  Wahrheit  abgewehrt  werden  soll.  In  der  Verneinung 
wird  die  Wahrheitswidrigkeit  als  solche  bloßgestellt ,  weil 
hinsichtlich  ihrer  der  Irrtum  droht. 

Doch  es  muß  dies  übliche  Sichbegnügen  mit  nur  einem 
Unwertbegriff  noch  schärfer  als  völlig  zirkelhaft  gekenn- 
zeichnet werden.  Jedes  falsche  Urteil  setzt  voraus ,  daß 
ein  Wertiges  für  ein  Unwertiges  oder  umgekehrt  gehalten 
wird.  Wird  nun  ein  von  der  Falschheit  unabhängiger  Un- 
wert geleugnet,  so  gibt  es  ein  Unwertiges  nur  als  ein  vom 
irrigen  Verhalten  ablösbares  falsches  Gefüge.  Danach 
müßte  jegliches  falsche  Urteil  als  ein  Urteil  über  ein  Ur- 
teil und  zwar  über  ein  falsches  Urteil  interpretiert  werden. 
Aber  es  muß  doch  offenbar  das,  in  der  Nichtübereinstim- 
mung womit  jegliche  Falschheit  erst  besteht,  eine  von 
der  Falschheit  unterschiedene  ünwertigkeit  darstellen.  Es 
läßt  sich  die  Falschheit  eben  nicht  so  begreifen,  daß  im- 
mer wieder  nur  die  Falschheit  vorausgesetzt  wird.  Gewiß 
ist  der  Unwert  und  so  auch  die  Falschheit  etwas  Irredu- 
zibles.  Aber  darum  handelt  es  sich  hier  gar  nicht ,  viel- 
mehr darum,  daß  übersehen  wird,  wie  die  Falschheit  auf 
einen  davon  unterschiedenen  anderen  Unwert  hinweist.  Dies 
zu  ignorieren  heißt  allerdings,  einen  Zirkel  begehen. 

Da  man  bei  gegensätzlich  gespaltenen  Sinngefügen  aus- 
schließlich gewöhnt  ist,  an  den  richtigen  und  falschen  Sinn 
des  positiven  oder  negativen  Urteils  zu  denken,  so  bedarf 
es  der  ausdrücklichen  Warnung,  das,  was  hier  als  wahres 
und  wahrheitssvidriges  Gefüge  bezeichnet  wird,  mit  dem 
Sinn   der  ganzen  Urteile   und  Sätze  zu  verwechseln.     Die 


—     23     — 

wahren  und  wahrheitswidrigen  Gefüge  sind  ja  lediglich 
etwas,  was  dem  Urteilssinn  als  „Materie"  zugrunde  liegt 
und  darum  irgendwie  in  ihn  eingeht.  Spricht  man  darum 
von  wahren  und  falschen  Urteilen  und  Sätzen,  so  wird  da- 
bei unter  Wahrheit  und  Falschheit  das  verstanden,  was 
nach  der  Terminologie  dieser  Abhandlung  Richtigkeit  und 
Falschheit  heißen  muß.  Und  umgekehrt :  wird  in  den  fol- 
genden Ausführungen  von  Wahrheit  und  Wahrheitswidrig- 
keit geredet,  so  muß  stets  bedacht  werden,  daß  es  sich 
dabei  keineswegs  um  Wert  und  Unwert  handelt,  der  Ur- 
teilen und  Sätzen  zukommt.  Ihre  Wertgegensätzlichkeit 
darf  nicht  dazu  verleiten,  diese  Gefüge  bereits  für  ganzen 
Urteilssinn  zu  halten.  Will  man  aber  Wahrheit  und  Wahr- 
heitswidrigkeit in  Beziehung  zu  einem  Gegensatz  des 
ganzen  Urteils  bringen,  so  kann  es  höchstens  der  von  Be- 
jahung und  Verneinung  sein.  Denn  Wahrheit  und  Wahr- 
heitswidrigkeit sind  das  Bejahungs-  und  Verneinungswürdige 
oder  die  Objektskorrelate  richtiger  Bejahung  und  Vernei- 
nung. 

Unter  den  Objekten  der  Urteilsentscheidung  oder  den 
wahren  und  wahrheitswidrigen  Gefügen  darf  somit  nicht 
das  verstanden  werden,  was  bei  Mehmel  und  Gerlach  Ur- 
teil und  Satz  „im  objektiven  Sinne",  bei  Bolzano  „Satz  an 
sich",  bei  Herbart  und  J.  Bergmann  das  „Gedachte"  im 
Unterschiede  zu  den  Akten  des  Denkens,  bei  Husserl  „Sinn" 
des  Urteils  oder  „ideale  Aussagebedeutung",  bei  Rickert 
„transzendenter  Sinn",  bei  Brentano,  Marty,  Husserl  „Ur- 
teilsinhalt", bei  Meinong  „Objektiv"  oder  „Urteilsgegen- 
stand", bei  Stumpf  „Sachverhalt",  bei  H.  Gomperz  „Ge- 
danken im  objektiven  Sinne",  „Aussageinhalt"  und  „Tat- 
bestand" genannt  wird  ^     Denn  hierbei  wird  durchgehends 


1  Bolzano,  Wissenschaftslehre  I,  1837,  176  ff.,  85,  98  ff,  Hus- 
serl,   Log.  Unters.,   z.  B.  1,  174 ff.,  II,  Abschn.  I  u.  passim,    Berg- 


—     24     — 

an  nichts  anderes  als  an  den  von  Sätzen  und  Urteilen  ab- 
lösbaren Sinn,  an  das  bei  der  ürteilsentscheidung  im  ganzen 
Gemeinte  und  objektartig  Vorschwebende,  gedacht  ^  Frei- 
lich gehören  die  primären  Objekte  der  ürteilsentscheidung 
der  Region  des  von  den  Gegenständen  wie  den  Subjekts- 
akten unterschiedenen  „Sinnes"  an,  aber  nicht  als  Sinn- 
ganzheiten, sondern,  wie  sich  im  zweiten  Abschnitt  des 
dritten  Kapitels  zeigen  wird,  als  irgendwie  eingegliederte 
Bestandteile.  So  fallen  sie  weder  mit  all  den  soeben  ange- 
führten Sinn-  und  Objektsbegriffen  —  denn  in  diesen  wird 
bereits  zuviel  gemeint  — ,  noch  mit  einer  wertindifferenten 
„Materie"  des  Urteils  zusammen  — ,  denn  in  ihr  wird  wie- 
der zu  wenig  gemeint,  da  ihr  die  gegensätzliche  Wert- 
qualität fehlt.  Was  unter  den  wahren  und  wahrheits- 
widrigen Gefügen  zu  verstehen  ist,  darf  somit,  will  man 
Verwechslungen  entgehen,  mit  keinem  der  in  der  Logik 
üblichen  Begriffe  gleichgesetzt  werden.  Hinzuweisen  ist 
schließlich  auch  noch  darauf,  daß  diese  primären  Objekte 
der  Urteilsentscheidung  auch  nicht  mit  den  Gegenständen 
selbst,  die  doch  gleichfalls  in  einem  gewissen  Sinne  das 
„Objekt"  des  Erkennens  bilden,  zusammenfallen  können. 
Die  Gegenstände  liegen  vielmehr  noch  eine  Stufe  weiter 
zurück.  Von  ihnen  müssen  die  Objekte  der  Urteilsent- 
scheidung, als  bereits  dem  künstlichen  Bereich  der  Gegen- 
sätzlichkeit  angehörend,    durch  die  BUuft   der  Nichtgegen- 


mann,  Reine  Logik,  1879,  10  ff.,  Rickert,  Zwei  Wege  der  Er- 
kenntnistheorie, Kantstudien  1909,  27  ff".,  Mar ty,  Untersuch,  z.  Grundl. 
d.  allg.  Gramm.,  1908,  291  ff.,  M  e  i  n  o  n  g  ,  Ueber  Annahmen»,  1910, 
42  ff.,  Stumpf,  Erscheinungen  u.  psych.  Funktionen,  Berl.  Ak.-Abh. 
1907,  30,  G  omperz,  Weltanschauungslehre, II,  1, 1908, 2  ff..  61  ff.,  75,  85  f. 
'  M  e  i  n  0  n  g,  a.  a.  0.  44,  unterscheidet  zwischen  dem  „Gegen- 
stand, der  ge urteilt  wird"  und  dem  „Gegenstand,  über  den  geur- 
teilt oder  der  beurteilt  wird".  Jedoch  rilllt  der  Gegenstand  in  der 
letzteren  Bedeutung  nicht  mit  dem  Objekt  der  Urteilsentscheidung 
in  dem  hier  vertretenen  Sinne  zusammen. 


—     25     — 

ständlichkeit  geschieden  sein.  Stellen  sie  doch  etwas  dar, 
worüber  nicht  anders  als  alternativ  befunden  werden  kann. 
So  nehmen  sie  denn  eine  Mittelstellung  ein  zwischen  den 
gegensatzentrückten  Gegenständen  und  der  künstlichsten, 
uns  zunächst  liegenden  Gegensätzlichkeit,  der  des  Urteils- 
sinnes ^ 

Der  Einzige,  der  gegenwärtig  auf  die  Unvermeidlich- 
keit doppelter  Gegensatzpaare  gestoßen  ist,  scheint  Berg- 
mann zu  sein,  obgleich  sie  freilich  auch  bei  ihm  nur  ge- 
legentlich hervortritt.  „Die  Definition  des  Urteils,  daß  es 
sei  eine  Vorstellung  (Prädizierung)  verbunden  mit  einer 
Entscheidung  über  ihre  Geltung  bezieht  auf  die  bloßen 
Vorstellungen  den  Gegensatz  von  Gültigkeit  oder  Richtig- 
keit und  Ungültigkeit  oder  Unrichtigkeit.  Dieser  Gegen- 
satz bildet  die  Voraussetzung  des  die  Urteile  betreffenden 
von  Wahrheit  und  Unwahrheit  (Falschheit,  Irrtum).  Denn 
ohne  Zweifel  werden  w^ir  ein  Urteil  wahr  nennen,  wenn  die 
Vorstellung,  über  welche  es  entscheidet,  die  Geltung,  den 
theoretischen  Wert  besitzt,  den  es  ihr  beimißt.  Da  die  in 
einem  wahren  Urteile  enthaltene  Vorstellung  unrichtig  und 
die  in  einem  unwahren  enthaltene  richtig  sein  kann, 
wenn  nämlich  das  Urteil  verneinend  ist,  also  die  in  ihm 
enthaltene  Vorstellung  verwirft,  so  ist  es  von  Wichtigkeit, 
jenen  auf  die  bloßen  Vorstellungen  und  diesen  auf  die 
Urteile  als  solche  bezüglichen  Gegensatz  zu  unterscheiden, 
und  daher  auch  angemessen,  sie  verschieden  zu  benennen, 
und  so  soll  denn  hier  eine  Vorstellung  in  der  Regel  nicht 
wahr  oder  unw  ahr,  sondern  richtig  oder  unrichtig  oder 
auch  gültig  oder  ungültig,  ein  Urteil  nicht  richtig  oder  un- 


*  Während  die  ganze  Region  des  , Sinnes"  als  ein  Mittleres 
erscheint  zwischen  dem  Subjektsakt  und  dem  Gegenstand  (das  Stoi- 
sche XexTÖv  als  ein  \iiooy  zoü  le  vor, [Jia-cog  xal  7ipäY|iaxoc,  vgl.  Prantl, 
Gesch.  d.  Log.  I,  1855,  416  Anm.  50). 


—     26     — 

richtig,  sondern  wahr  oder  falsch  genannt  werden^."  Viel- 
leicht lassen  sich  jedoch  Ansätze  für  die  Einsicht  in  die 
notwendige  Doppeltheit  der  Gegensätze  von  äXt^O-s;  und 
t}<eüSo5  bereits  in  der  alle  Folgezeit  beherrschenden  Ur- 
teilstheorie, in  der  Aristotelischen,  finden.  Darauf  soll 
im  ersten  Abschnitt  des  ersten  Kapitels  noch  einmal  ein- 
gegangen werden.  Eine  auf  dasselbe  hinauslaufende  Dop- 
peltheit des  Gegensatzes  von  Wahrheit  und  Falschheit  bei 
Descartes  will  Christiansen  gefunden  haben,  der  auch  in 
systematischer  Absicht  auf  die  Doppeldeutigkeit  der  „Wahr- 
heit" hingewiesen  hat,  die  einmal  den  ., Objektsynthesen", 
das  andere  Mal  den  ..Beurteilungen"  zukomme  2.  üeberall 
jedoch  tritt  diese  Doppeltheit  der  Gegensatzpaare  nur  ge- 
legentlich auf. 

Es  muß  freilich  der  ganzen  folgenden  Darstellung 
überlassen  bleiben,  die  üeberzeugung  von  ihrer  ünvermeid- 
lichkeit  zu  befestigen.  — 

Nachdem  die  Einleitung  jetzt  mit  ihren  andeutenden 
Ausführungen  vom  KpG)-o'^  7:pö;  ^{xä;,  von  der  Urteilsent- 
scheidung, bis  zum  sachlich  früheren  Gegensatzpaar  hin- 
geführt hat,  kann  die  Darstellung  im  ersten  Kapitel  an 
diesem  Punkte,  also  bei  den  irgendwie  als  Bestandteile 
in  die  Endgebilde  des  Urteilssinnes  eingehenden  Objekts- 
gefügen,  beginnen.  Von  dort  setzt  das  zweite  Kapitel  den 
Weg  nach  oben  fort  und  tut  den  entscheidenden  Schritt 
zur   gegensatzlosen  Region.     Wenn  so    der  höchste  Punkt 


*  Reine  Logik,  230  vgl.  auch  176.  Es  ist  nicht  Neigung  zu  ter- 
minologischer Neuprägung,  wenn  hier  die  Bergmannsche  Terminolo- 
gie geradezu  umgekehrt  v^drd.  Es  widerstreitet  dem  Sprachgebrauch 
völlig,  die  Richtigkeit  in  das  Objekt  der  Urteilsentscheidung  und 
damit  in  das  sachliche  Prius,  die  Wahrheit  in  die  Urteilsentscheidung 
selbst  und  damit  in  das  sachliche  Posterius  zu  verweisen. 

*  Das  Urteil  bei  Descartes,  1902,  49,  vgl.  auch  68,  Kritik  der 
Kantischen  Erkenntnislehre  I,  1911,  119. 


—     27     — 

erreicht  ist,  legt  das  dritte  Kapitel  gleichsam  den  Weg 
nach  unten  zurück,  indem  es  durch  das  Eintreten  der  Sub- 
jektivität die  Gegensätzlichkeit  hervorgehen  läßt.  Dabei 
gelangt  es  in  seinem  ersten  Abschnitt  zur  primären  Gegen- 
sätzlichkeit, im  zweiten  vollendet  es  den  Abstieg  und  mün- 
det im  eigentlichen  Bereich  der  Urteilsentscheidung. 

Wodurch  es  aber  überhaupt  zu  dieser  ganzen  von  den 
transzendentallogischen  Phänomenen  und  den  Gegenständen 
durch  einen  Abstand  geschiedenen  Region  gegensätzlicher 
Strukturgebilde  kommt,  soll  vorläufig  noch  ganz  im  Dunkeln 
gelassen  werden  und  erst  im  letzten  Kapitel  sich  enthüllen. 

Erstes  Kapitel. 

Der  Gegensatz  von  Wahrheit  und  Wahrheitswidrigkeit 
in  den  primären  Objekten  der  Urteilsentscheidung. 

Das  erste  Kapitel  sollte  beim  primären  Gegensatzpaar 
einsetzen,  also  zum  primären  Objekt,  zur  Unterlage  der 
Urteilsentscheidung,  mithin  bis  zu  einer  Stelle  vordringen, 
an  der  eine  Gegensätzlichkeit  gewöhnlich  garnicht  gesucht, 
sondern  statt  dessen  eine  gegensatzindifferente  „Materie" 
angenommen  zu  werden  pflegt.  An  dieser  höchsten  Stelle 
innerhalb  der  Gegensatzregion,  wo  in  der  Distanz  zu  den 
Gegenständen  die  Gegensätzlichkeit  als  solche  beginnt,  ist 
das  Wesen  der  theoretischen  Gegensätzlichkeit  überhaupt 
zu  studieren.  Diese  Gegensätzlichkeit  sollte  aber  eine  sol- 
che von  sinnartigen  Strukturgebilden,  d.  h.  von  wertigen 
und  unwertigen  Elementengefügen,  sein.  Es  wird  darum 
dabei  über  die  Stellung  von  Wert  und  Unwert  gerade  in 
sinnartigen  Strukturganzheiten  gehandelt  werden  müssen 
(1.  Abschnitt).  Indem  sich  hierbei  herausstellt,  daß  die 
gegensätzliche  Wertqualität  sich  irgendwie  auf  dem  Zu- 
sammenspiel  der  übrigen,    der  gegensatzindifferenten  Ele- 


—     28     — 

mente  aufbaut,  wird  die  Untersuchung  dazu  gedrängt,  sich 
auf  die  Urgliederung  und  die  letzten  Strukturelemente  der 
primären  Objektsgefüge  zu  besinnen.  Hierbei  wird  der  in 
der  Einleitung  angekündigte  Anlaß  hervortreten,  die  in 
den  ürteilsgefügen  irgendwie  verarbeitete  urteilsjenseitige 
gegenständliche  Urstruktur  als  den  Richtpunkt  für  alle 
Strukturorientierung  herbeizuziehen  (2.  Abschnitt).  Dann 
braucht  nur  noch  das  im  ersten  Abschnitt  ausgemachte 
Kriterium  der  Gegensätzlichkeit  auf  die  dem  zweiten  Ab- 
schnitt gemäß  nach  den  echten  Urbestandteilen  geglieder- 
ten Sinngefüge  angewandt  zu  werden  (3.  Abschnitt). 

Erster  Abschnitt. 

Das  Kriterium  der  Wertgegensätzlichkeit. 

Zwar  pflegt  die  Wertgegensätzlichkeit  nicht  unter  aus- 
drücklicher Auseinanderhaltung  zweier  verschiedener  Gegen- 
satzpaare abgehandelt  und  vor  allem  nicht  schon  in  der 
Unterlage  für  die  Wertentscheidung  aufgesucht  zu  werden. 
Aber  wofern  irgendwelche  Grundanschauungen  über  die 
Gegensätzlichkeit  von  Sinngefügen  überhaupt  auf  theoreti- 
schem Gebiet  bestehen,  so  müssen  sie  auch  auf  die  pri- 
mären Objekte  der  Urteilsentscheidung  eine  Anwendung 
gestatten. 

Denn  es  kommt  lediglich  darauf  an,  daß  auch  die 
wahren  und  wahrheitswidrigen  Gebilde  jedenfalls  nicht  un- 
gegliederte homogene  Bestände,  sondern  zusammengesetzte 
Ganzheiten,  Gefüge  darstellen.  Darauf  nämlich  ist  jetzt 
die  Besinnung  zu  richten,  daß  es  sich  in  der  Logik  und  so 
auch  in  der  Urteilslehre  stets  um  die  Gegensätzlichkeit 
sinnartiger  Ganzheiten  handelt.  Es  lautet  aber  über  den 
Wertgegensatz  gegliederter  Ganzheiten  seit  jeher  der  Leit- 
satz folgendermaßen:  das  gegensätzliche  Wertmoment  ruht 


—     29     — 

nicht  in  den  einzelnen  Elementen  für  sich  genommen,  sondern 
lediglich  in  ihrer  Verbindung,  in  ihrer  Anordnung,  in  ihrem 
Verhältnis  zu  einander.  Daraus  ergeben  sich  all  jene  seit 
alters  aufgestellten  Theorien,  wonach  die  einzelnen,  iso- 
lierten Elemente  nicht  wahr  oder  wahrheitswidrig,  richtig 
oder  falsch  sind,  Wert  und  Unwert  vielmehr  erst  in  ihrer 
Vereinigung  hervortreten  können.  Von  Anfang  an,  so 
z.  B.  bei  Plato,  verbindet  sich  mit  dieser  Ansicht  leicht 
die  Fahndung  nach  den  einfachsten,  unzusammengesetzten 
und  darum  aller  Verfehltheit  entrückten  Urbestandteilen 
(axotxeia)  des  Denkbaren,  in  deren  Kombinationen  erst  aller 
Unwert  sich  einzunisten  vermag  ^  So  kann  nach  dieser 
Grundanschauung  die  AVertgegensätzlichkeit  von  Verbin- 
dungen, von  gegliederten  Gefügen,  in  nichts  anderem  als 
im  Zusammengehören  und  Nichtzusammengehören,  Zusam- 
menpassen und  Nichtzusammenpassen,  in  der  Vereinbarkeit 
und  Unvereinbarkeit,  Harmonie  und  Disharmonie  seiner 
Strukturelemente  bestehen  ^.  Freilich  ist  mit  dieser  Bestim- 
mung das  Geheimnis  der  Wertgegensätzlichkeit  des  Sinnes 
nicht  aufgedeckt.  Aber  es  soll  damit  ja  auch  lediglich 
eine  bloße  Umschreibung  der  Wertigkeit  und  Unwertigkeit 
gerade  von  Sinngefügen  gegeben  sein,  gleichsam  eine  struk- 
turmorphologische Angabe  der  Stelle,  an  der  der  Sitz  des 
Wertgegensatzes  gerade  von  solch  gegliederten  Ganzheiten 
zu    suchen    ist.     Diese    Charakterisierung    der   Wertgegen- 

'  Vgl.  Plato,  Theaet.  201  f. 

^  Wenn  hier  auch  die  Ausdrücke  , Harmonie"  und  „Disharmonie" 
nicht  gescheut  werden,  so  geschieht  dies  in  Uebereinstimmung  mit 
dem  Sprachgebrauch,  der  sich  bei  den  Anfängen  gerade  der  theore- 
tischen Philosophie,  insbesondere  der  Urteilslehre,  in  der  Antike  vor- 
findet. Es  darf  deshalb  in  diesen  Ausdrücken  keinerlei  ästhetische 
Nebenbedeutung  vermutet  werden.  Vgl.  Plato,  Soph.  262  C,  D, 
ferner  261 D,  Theaet.  204 A.  Ganz  allgemein  steht  bei  Aristoteles 
apiJLÖxTetv  für  sachliches  Zusammenpassen,  s.  B  o  n  i  t  z  ,  Index  Aristo- 
telicus. 


—     30     — 

sätzlichkeit  ist  in  der  Tat  zwingend,  sobald  bedacht  wird, 
daß  in  die  unwertigen  Gebilde  genau  die  gleichen  Ele- 
mente eingehen,  aus  denen  sich  auch  die  positivwertigen 
zusammensetzen.  Dann  kann  das  unwertige  Gefüge  sich 
nur  durch  eine  Verschobenheit  der  Bestandteile,  durch  eine 
Verbundenheit  des  Xichtzusammengehörigen,  vom  positiv- 
wertigen unterscheiden.  Wendet  man  dies  auf  die  Urteils- 
lehre an,  so  ergibt  sich :  nicht  mit  den  einzelnen  Bestand- 
teilen, sondern  nur  mit  ihrer  Verbindung  (au|i.7:XoxTj,  auvi^e- 
oiq)  kann  sich  die  positive  oder  negative  Wertqualität  ver- 
knüpfen. Nur  das  einheitliche  Ganze  des  Sinnes  vermag 
Träger  von  „Wahrheit"  und  „Falschheit"  zusein^.  Dieser 
Leitsatz  der  Aristotelischen  Urteilstheorie  bleibt  maßgebend 
für  die  ganze  Lehre  von  der  Gegensätzlichkeit  theoretischer 
Strukturganzheiten. 

Aber  nur  danach,  worin  diese  wertgegensätzlichen  Ge- 
füge ihrer  Struktur  nach  bestehen,  nicht  wie  sie  etwa 
entstehen  mögen,  ist  vorläufig  die  Frage. 

Für  die  Werttheorie,  die  in  der  Gegensätzlichkeit  mit 
Recht  Wertgegensätzlichkeit  sieht,  den  Wert  aber  nur  als 
gegensätzlichen  Wert  kennt,  folgt  aus  der  Gegensatzindiffe- 
renz auch  die  Wertindifferenz  oder  Neutralität  der  einzelnen 
Strukturelemente,  aus  der  Gegensätzlichkeit  ausschließlich 
der  Ganzheiten  des  Sinnes  auch  deren  alleinige  Wertar- 
tigkeit. 

Haben  sich  so  die  primären  Objekte  des  urteilenden 
Stellungnehmens,  über  deren  positive  oder  negative  Quali- 
tät in  der  Urteilsentscheidung  befunden  wird,  als  ein  Zu- 
sammengehören und  Nichtzusammengehören  von  Elementen 
erwiesen,    so    zeigt  sich  schon  jetzt,    daß    das    Urteilen    in 

'  Vgl.  Aristoteles,  de  an.  III.  6,  430a.  26—28;  8,  432a,  11; 
de  interpr.  c.  1,  16  a,  12  flF.  Met.  VI,  4,  1027  b,  18  f.,  vgl.  auch  P  1  a  t  o, 
Soph.  259  ff. 


—     31     — 

nichts  anderem  als  in  einem  Richten  über  Zusammengehö- 
rigkeit und  UnZusammengehörigkeit  von  Bestandteilen  eines 
Gefüges  bestehen  kann.  Und  zwar  muß  das  Bejahen  auf 
ein  die  Bestandteile  für  zusammengehörig,  das  Verneinen 
auf  ein  sie  für  unzusammengehörig  Erklären  hinauslaufen. 

Obwohl  diese  so  simpel  erscheinende  Lehre  von  den 
harmonischen  und  disharmonischen  Gefügen  stillschweigend 
und  der  Sache  nach  der  Urteilslehre  stets  zugrunde  gelegen 
hat,  so  ist  sie  dennoch  in  der  Logik  ganz  selten  ausdrück- 
lich formuliert  worden.  Daß  bereits  den  einzelnen  Ge- 
fügen, also  der  „materialen  Wahrheit",  ein  Zusammenpassen 
und  Nichtzusammenpassen  der  Elemente  zugrunde  liegt,  ver- 
birgt sich  darum  leicht,  weil  diese  Ausdrücke  so  sehr  in 
die  Nähe  einer  ganz  besonderen  Harmonie  und  Disharmo- 
nie zu  kommen  scheinen,  nämlich  der  „Verträglichkeit"  und 
„Unverträglichkeit"  der  Wahrheiten  untereinander,  bei 
der  es  sich  also  um  die  sog.  „formale  Wahrheit"  handelt. 
Nun  ist  das  Zusammengehören  und  Nichtzusammengehören 
der  Strukturelemente  im  einzelnen  Gefüge  freilich  ganz  an- 
derer Art  als  Verträglichkeit  und  Unverträglichkeit,  wie 
denn  offensichtlich  das  Zusammengehören  mehr  ist  als  die 
bloße  Verträglichkeit.  Es  ist  aber  bisher  allerdings  noch 
völlig  unbestimmt  gelassen,  in  welchem  Sinne  im  einzelnen 
Gefüge  von  einem  Zusammengehören  und  Nichtzusammen- 
gehören der  Elemente  die  Rede  sein  soll. 

Einen  Aufschluß  darüber  gewinnt  man  dadurch,  daß 
man  sich  der  nachbildlichen  Stellung  erinnert,  die  die  ge- 
samte Urteilsregion  einschließlich  ihrer  primären  Objekte 
den  Gegenständen  gegenüber  einnimmt.  Es  gibt  in 
der  Tat  kein  anderes  Kriterium  für  Wert  und  Unwert  der 
primären  Objektsgefüge  als  ihre  Messung  an  den  Gegen- 
ständen. Nach  Uebereinstimmung  und  Nichtübereinstim- 
mung mit  den  Gegenständen  bestimmt  sich,    einer  uralten, 


32 


von  Kant  ebenso  wie  von  der  Antike  geteilten  Denkge- 
wohnheit gemäß,  die  „materiale  Wahrheit".  Das  ist  eine 
Voraussetzung,  die  durch  den  Gegensatz  zwischen  „Dog- 
matismus" und  „Kritizismus"  garnicht  tangiert  wird.  Wie 
im  nächsten  Kapitel  nachzuweisen  ist,  muß  auch  nach  der 
Kopernikanischen  Lehre,  die  den  Gegenstand  in  den  Herr- 
schaftsbereich des  Theoretischen,  des  Logischen,  hinein- 
stellt, dennoch  der  sekundär-  und  nachbildlich-theoretischen, 
der  Urteils  region  gegenüber  der  Gegenstand  als  Urbild  und 
Maßstab  anerkannt  werden.  Wie  Richtigkeit  und  Falsch- 
heit des  ürteilssinnes  gemäß  den  Andeutungen  der  Einlei- 
tung ihr  Maß  an  der  Wertartigkeit  der  primären  Objekte 
findet,  so  bildet  für  diese  wiederum  das  letzte  Maß  der 
Gegenstand.  Diese  Objekte  der  Urteilsentscheidung  sind 
primär  gegenüber  dem  Urteilssinn,  aber  sekundär  gegen- 
über dem  Gegenstand.  Durch  diese  doppelte  Maßstabs- 
und Uebereinstimmungsdistanz  ist  ihre  Stelle  nach  oben 
und  nach  unten  fixiert,  ist  ihre  in  der  Einleitung  hervor- 
gehobene Zwischenstellung  zwischen  Gegenstand  und  Re- 
gion der  Urteilsentscheidung  jetzt  bereits  um  ein  weniges 
genauer  gekennzeichnet.  Das  Zusammengehören  und  Nicht- 
zusamraengehören  der  Elemente  in  den  primären  Objekten 
bestimmt  sich  also  ganz  und  gar  als  deren  Uebereinstim- 
mung  oder  Nichtübereinstimmung  mit  den  Gegenständen. 
Kann  sich  doch  auch  umgekehrt  ein  Uebereinstimmen  und 
Nichtübereinstimmen  gerade  von  gegliederten  Gefügen  mit 
den  Gegenständen  garnicht  anders  dokumentieren  als  in 
einem  Zusammenstimmen  und  Nichtzusammenstimmen  von 
deren  Bestandteilen  untereinander.  Der  Gegenstand  ist  der 
Maßstab  dafür,  welches  Element  welchem  andern  Element 
an  sich  und  unabhängig  von  der  Entscheidung 
darüber  „zukommt"  oder  nicht  zukommt.  Das 
Eiuander-„Zukommen"  von  „Subjekt"  und  „Prädikat",  also 


—     33     — 

der  Elemente  im  einzelnen  Urteilsgefüge ,  ist  noch  der  ge- 
läufigste Ausdruck  für  das  Ansich-Zusammengehören  der 
Bestandteile  in  den  Objekten  der  Urteilsentscheidung. 

Auf  den  Verhältnissen  des  Zusammengehörens  und 
Nichtzusammengehörens  in  den  einzelnen  Gefügen  wird  sich 
die  Verträglichkeit  und  Unverträglichkeit  der  Gefüge,  „Ur- 
teile", „Wahrheiten"  untereinander  erst  irgendwie  aufbauen. 
Es  darf  darum  nicht  etwa  umgekehrt  das  „materiale"  Zu- 
sammenstimmen und  Nichtzusammenstimmen  der  Ele- 
mente durch  die  „formale"  Verträglichkeit  und  Unver- 
träglichkeit der  G  e  f  ü  g  e  interpretiert  werden.  Freilich 
1  äßt  sich  diese  ganze  Unterscheidung  überhaupt  nur  dann 
aufrecht  erhalten,  wenn  als  Einzelgefüge  wirklich  einzelne 
Gefüge  im  strengen  Sinne,  d.  h.  solche,  die  aus  letzten 
unzusammengesetzten  Bestandteilen  gebildet  sind,  fungieren. 
Andernfalls  würden  die  einzelnen  Elemente  bereits  selbst 
verkappte  Gefüge  und  die  angeblichen  Einzelgefüge  in 
Wahrheit  Gefüge  von  Gefügen  darstellen.  Zusammen- 
stimmen und  Nichtzusammenstimmen  innerhalb  solcher 
Gefüge  wäre  allerdings  den  „formalen"  Beziehungen  der 
Sinnganzheiten  untereinander  äquivalent,  zwischen  „Sub- 
jekt" und  „Prädikat"  solcher  Gebilde  bestünde  allerdings 
„Verträglichkeit"  und  „Widerstreit"  ^ 

Besteht  das  Urteil  in  einem  Richten  über  das  Einan- 


*  Daraus  ist  verständlich,  daß  iu  das  Verhältnis  von  Subjekt  und 
Prädikat  des  Einzelgefüges  die  „formale"  Uebereinstimmung  und  der 
formale  Widerspruch  hineingedeutet  zu  werden  vermag.  So  bei 
Kant  in  üebereinstimmung  mit  der  zeitgenössischen  Logik  —  vgl. 
darüber  die  Zitate  bei  Eisler,  Philos.  Wörterb.,  1910,  1611  — Dis- 
sertation §  11,  Logik  §  24,  danach  Kr.  d.  r.  V.  B.  318  der  Gegensatz 
der  bejahenden  und  verneinenden  Urteile.  Eine  Nichtzusammenge- 
hörigkeit  als  ein  Mittleres  zwischen  Widerstreit  und  Realrepugnanz 
kennt  Kant  nicht,  vgl.  B.  320/321,  329  f.  Demgemäß  auch  Kants 
Formulierung  des  Satzes  vom  Widerspruch  B.  190  und  in  den  vor- 
kritischen Schriften. 

Lask,  Lehre  vom  Urteil.  O 


—     34     — 

der-Zukommen  der  Elemeute  und  ist  ferner  dies  Zusammen- 
gehören und  Xichtzusammengehören  der  Bestandteile  un- 
abhängig vom  urteilenden  Stellungnehmen  an  den  Gegen- 
ständen meßbar,  so  ist  damit  so  viel  erreicht,  daß  sich  jetzt 
die  in  der  Einleitung  behauptete  Doppeltheit  der  Gegen- 
satzpaare bereits  etwas  genauer,  nämlich  mit  Einsetzung 
des  Kriteriums  der  Wertgegensätzlichkeit,  vertreten  läßt.  — 

Es  ist  nunmehr  noch  besonders  darauf  einzugehen,  daß 
das  primäre  Objekt,  also  das,  was  der  Qualitätsentschei- 
dung unterworfen  wird,  unabhängig  vom  urteilenden  Befin- 
den darüber  die  Gegensätzlichkeit  bereits  in  sich 
trägt  und  nicht  eine  indifferente  „Materie"  der  Urteilsent- 
scheidung darstellt.  Mögen  doch  —  worauf  es  vorläufig 
ja  noch  garnicht  ankommen  soll  —  die  wahren  und  wahr- 
heitswidrigen Gefüge  erst  irgendwie  durch  ein  Schalten,  ein 
Zusammenfügen  von  selten  der  erkennenden  Subjektivität 
zustande  kommen,  so  haftet  doch  dem,  was  derart  zustande 
gebracht  wird,  unabhängig  jedenfalls  von  der  Entschei- 
dung darüber,  an  sich  die  Wert-  oder  Unwertqualität  an 
(vgl.  ob.  S.  20  f.).  Die  Urteilsentscheidung  bringt  nicht  die 
Qualität  erst  hinzu,  sie  macht  lediglich  den  Versuch,  die  dem 
Gefüge  an  sich  gebührende  Qualität  ihm  auch  zuzuweisen. 

Freilich  läßt  sich  leicht  begreifen,  wodurch  die  Urteils- 
lehre zum  Begriff  der  indifierenten  „Materie"  gedrängt 
wurde.  In  dem  nämlich,  was  an  den  der  Entscheidung 
unterliegenden  Objekten  dem  erkennenden  Verhalten  vor 
der  hinzutretenden  Urteilsentscheidung  vorschwebt,  fehlt 
allerdings  noch  die  gegensätzliche  Wertqualität.  Da  ist  es 
bloß  bis  zur  Zusammenfügung  der  Elemente,  zur  Beziehung 
des  „Subjekts"  und  des  „Prädikats"  aufeinander,  bei  noch 
unentschieden  gelassener  Qualität  gekommen.  Da  gibt  es  als 
Objekt  ein  gegensatz-  und  wertindifferentes  Gefüge,  eine 
gegen  Zusammengehörigkeit  und  Nichtzusaramengehörigkeit 


—     35     — 

noch  gleichgültige  bloße  ßezogenheit,  eine  bloße  „Vorstel- 
lungsbeziehung", z.  B.  zwischen  Erde  und  Sichbewegen,  die 
erst  durch  die  sich  darauf  richtende  Bejahung  oder  Vernei- 
nung als  wahr  oder  wahrheitswidrig  hingestellt  wird.  Aber  es 
ist  unbestreitbar,  daß  es  dieses  qualitätsberaubte  Gebilde  nur 
in  den  Augen  der  Subjektivität,  aber  nicht  an  sich  gibt. 
Will  man  darum  bestimmen,  worin  das  Objekt  der  Urteilsent- 
scheidung besteht,  so  muß  man  unterscheiden  zwischen  dem, 
was  dieses  Objekt  an  sich  ist,  und  zwischen  dem,  als  was  es 
der  Subjektivität  erscheinen  muß.  Die  Urteilstheorie  hat 
mit  Vorliebe  ausschließlich  auf  das  Letztere  geachtet,  und 
so  kam  es  bei  ihr  nur  zu  dem  Begriife  einer  bloßen  quali- 
täts-  und  wertbaren  „Vorstellungsbeziehung",  die  als  Sub- 
strat der  Urteilsentscheidung  auch  als  deren  indifferente 
„Materie"  bezeichnet  wird,  aber  nicht  zu  dem  Begriff  eines 
wertgegensätzlich  gespaltenen  primären  Objekts^. 

Dieses  zur  Verkennung  der  doppelten  Gegensatzpaare 
führende  Verhalten  der  Logik  dokumentiert  sich  denn  auch 
in  der  fundamentalen  Gliederung  des  der  Qualitätsentschei- 
dung unterliegenden  Bestandes.  In  ihm  lassen  sich  nach 
der  vorangegangenen  Darstellung  die  Elemente  als  die  Be- 
ziehungsglieder der  harmonischen  und  disharmonischen  Ge- 
füge und  die  sich  auf  ihnen  aufbauende  gegensätzlich  ge- 
spaltene Verbundenheit  oder  Bezogenheit  selbst  einander 
gegenüberstellen.     Es  ist  also  gerade  das  Bezieh ungs- 

^  Doch  fehlt  es  nicht  an  gelegentlicher  ausdrücklicher  Besinnung 
darauf,  daß  Gültigkeit  und  Ungültigkeit  bereits  in  den  der  Entschei- 
dung vorliegenden  Vorstellungsobjekten  stecken  muß.  Vgl.  außer 
den  Vertretern  der  Lehre  von  der  doppelten  Gegensätzlichkeit  z.  B. 
H  e  r  b  a  r  t ,  Lehrb.  z.  Einl.  i.  d.  Philos.  §  42,  Bergmann  (außer 
den  Zitaten  ob.  S.  15  Anm.),  R.Log.,  170  f.,  38,  233,  J.  Cohn,  Vor- 
aussetzungen und  Ziele  des  Erkennens,  1908,  75:  „Die  Materie  muß 
an  sich  entweder  bejaht  oder  verneint  werden  —  aber  für  uns  kann 
leicht  der  Fall  eintreten,  daß  wir  die  Entscheidung  nicht  fällen 
können". 

3* 


—     36     — 

m  o  m  e  n  t ,  das  sich  als  der  das  Wertgepräge  verleihende 
Faktor  von  den  gegensatz-  und  wertindifferenten  Elementen 
abhebt.  Wie  sich  darum  die  Logik  zu  den  Objekten  der 
Wertentscheidung  verhält,  ob  sie  sie  an  sich  für  wertgegen- 
sätzHch  oder  für  gegensatzindifferent  erachtet,  das  muß 
darin  zum  Vorschein  kommen,  wie  sie  über  deren  ße- 
ziehungsmoment  denkt.  Dieses  muß  von  ihr  entweder  als 
ein  gegensätzliches  oder  als  ein  neutrales  angesehen  wer- 
den. Dementsprechend  ist  nun  in  der  Logik  die  Eintei- 
lung der  Entscheidungsobjekte  in  gegensatzindifferente  Be- 
ziehungselemente und  in  eine  nicht  etwa  gegensätzlich 
differenzierte,  sondern  gleichfalls  indifferente  und  neutrale 
Verbundenheit  üblich.  Die  letzten  Elemente  (öpoc,  termini) 
der  Beziehung  sind  Subjekt  und  Prädikat,  ihre  indifferente 
Bezogenheit,  das  die  Elemente  umspannende  Band,  ist  die 
Kopula.  So  mußte  die  Logik  stets  dazu  kommen,  den 
nach  Abzug  der  gegensätzlichen  Qualität  übrigbleibenden 
qualitätsindifferenten  Bestand  nach  Subjekt,  Prädikat  und 
Kopula  zu  gliedern.  Denn  auch  die  Kopula  mußte  ja 
nach  ihrer  Ansicht  noch  in  den  Bereich  der  indifferenten 
Bestandteile  fallen^.  Hingegen  mit  der  Erkenntnis,  daß 
die  Objekte  der  ürteilsentscheidung  an  sich  garnicht  in- 
different sind,  fällt  auch  die  wertindifferente  Kopula  als 
eine  an  sich  bestehende  Bezogenheit  fort.  Die  vom  gegen- 
sätzlich ausgeprägten  Zusammengehören  und  Nichtzusam- 
mengehören  unterschiedene  bloße  Kopula  stellt  sich  viel- 
mehr als  ein  Geschöpf  lediglich  der  mit  der  Qualitätsent- 
scheidung noch  zurückhaltenden  und  dadurcli  die  Qualität 
vom  ganzen  Gefüge  künstlich  loslösenden  Subjektivität  her- 


•  Daß  die  Kopula  bereits  in  der  „Materie"  der  Urteilsentschei- 
dung stecken  muß,  das  lehrt  am  einfachsten  die  Frage,  die  sich  in 
Bezug  auf  das  Moment  der  kopulativen  Bezogenheit  nicht  von  Be- 
jahung und  Verneinung  unterscheidet. 


—     37     — 

aus.  Die  Kopula  ist  in  Wahrheit  nichts  weiter  als  ein 
verselbständigtes  Abstraktionsgebilde,  nämlich  das  dem  un- 
spaltbaren Zusammengehören  und  Nichtzusammengehören 
der  Elemente  gemeinsame  Partikelchen  einer  Verbunden- 
heit überhaupt,  das  farblose  Residuum  einer  Verklammerung 
von  Elementen,  das  übrig  bleibt,  wenn  vom  harmonischen 
und  disharmonischen  Charakter  des  Gefüges  abgesehen  ist. 
Ist  doch  die  Kopula  per  definitionem  dazu  ausersehen,  den 
Zusammenhalt  gerade  zwischen  den  Elementen  herzu- 
stellen, über  deren  Zusammengehören  oder  Nichtzusammen- 
gehören in  der  Urteilsentscheidung  befunden  wird,  weshalb 
man  sie  auch  als  Objekt  der  Position  und  Negation  be- 
zeichnet hat.  Man  muß  sich  aus  diesem  Grunde  auch 
hüten,  in  die  Kopula  irgend  eine  Vielgestaltigkeit,  irgend 
einen  erdenklichen  besonderen  logischen  Bedeutungsgehalt 
hineinzulegen.  Es  ist  bei  ihr  nicht  an  irgendwelche  son- 
stigen Relationen  zu  denken,  sondern  lediglich  an  das  ganz 
unvergleichliche,  einförmige  Zusammengehören  und  Nicht- 
zusammengehören der  Elemente,  dessen  Wert-  und  ünwert- 
qualität  überdies  noch  getilgt  zu  denken  ist.  Was  dann 
als  neutraler,  überall  gleicher  namenloser  Rest  einer  Be- 
zogenheit  überhaupt  übrig  bleibt,  das  und  nichts  anderes 
ist  die  Kopula.  Genau  dasselbe  Produkt  einer  künstlichen 
Depotenzierung  stellt  die  in  der  neueren  ürteilstheorie  üb- 
liche „Vorstellungsbeziehung"  dar.  Sie  ist  weiter  nichts 
als  eine  Umschreibung  der  traditionellen  Kopula.  Nach- 
dem dies  hier  über  die  Kopula  einmal  festgestellt  ist,  wird 
im  folgenden  lediglich  zum  Zweck  der  Abkürzung  mit  dem 
Ausdruck  Kopula,  der  immerhin  mit  einem  einzigen  Wort 
die  harmonische  oder  disharmonische  Verbundenheit  der 
Glieder  im  Objekt  der  Urteilsentscheidung  bezeichnet,  ge- 
legentlich operiert  werden. 

Der    hier    vertretene    Standpunkt    läßt    sich    auch    so 


—     38     - 

formulieren:  durchschaut  man  die  künstliche  Neutralisie- 
rung der  primären  Objekte,  so  darf  man  garnicht  eine 
neutrale,  sondern  nur  eine  wertgegensätzlich  ausgeprägte 
„Kopula"  anerkennen.  Nun  wird  aber  unter  Anknüpfung 
an  Aristotelische  Andeutungen  nach  scholastischem  Sprach- 
gebrauch das  die  Elemente  zu  einer  geschlossenen  Einheit 
verknüpfende  kopulative  Moment  als  „Form",  der  zu  ko- 
pulierende Elementenbestand  als  „Materie"  bezeichnet.  Es 
ist  sonach  die  „Form"  der  ürteilsobjekte  nicht  als  eine 
indifferente,  sondern  als  eine  gegensätzlich  differenzierte 
anzusehen. 

Hier  zeigt  sich  jedoch  bereits,  daß  man  in  der  Struktur- 
lehre des  Urteils  mit  einem  ganzen  Stufenbau  von  Form- 
und Materiebegnffen  zu  rechnen  haben  wird.  Nach  der 
neuerdings,  z.  B.  von  Husserl  verwendeten  Terminologie 
sollen  die  ganzen  Objekte,  also  die  Unterlagen  der  ürteils- 
entscheidung,  im  Verhältnis  zu  dieser  und  damit  zum  ür- 
teilssinn  die  Stellung  einer  —  freilich  als  gegensatzindiffe- 
rent gedachten  —  „Materie"  einnehmen.  Die  Berechtigung 
davon  läßt  sich  daraus  entnehmen,  daß  nach  einer  früheren 
Andeutung  (ob.  S.  23  f.)  die  Unterlagen  der  Urteilsentschei- 
dung als  die  zu  beurteilenden  Gefüge  irgendwie  in  den 
ganzen  Urteilssinn  als  Bestandteile,  mithin  als  „Materie", 
eingehen.  Aber  innerhalb  dieser  Entscheidungsmaterie  soll 
sich  außerdem  nach  dem  scholastischen  Sprachgebrauch 
noch  einmal  Form  und  Materie  auseinanderhalten  lassen. 
Das  deutet  auf  den  später  sich  bewahrheitenden  Umstand 
hin,  daß  entsprechend,  wie  die  primären  Objekte  in  das 
Gefüge  des  Urteilssinns,  so  die  Gegenstände  in  die  pri- 
mären Objektsgefüge  als  Materie  hineingearbeitet  sind.  So 
ist  auch  diese  im  weiteren  Verlauf  der  Untersuchung  noch 
wiederkehrende  Vielheit  der  Materiebegriffe  wieder  ein  An- 
zeichen   dafür,    daß    es   sich    in    der    Urteilslehre    um   eine 


—     39     — 

Mehrheit,    einen    ganzen  Aufbau  von  Komplikationsstufen, 
von  Distanzen,  von  Gegensatzpaaren  handelt.  — 

Es  wurde  bereits  in  der  Einleitung  bemerkt ,  daß 
sich  in  der  Geschichte  der  Logik  Ansätze  zu  einer  Lehre 
von  gegensätzlich  gespaltenen  Objekten  der  ürteilsentschei- 
dung  fast  nur  bei  Aristoteles  finden.  Den  Anlaß  zur  Aus- 
bildung dieser  Lehre  kann  immer  die  Besinnung  auf  das 
Sichkreuzen  der  Gegensätze  von  Bejahung  und  Verneinung 
und  von  Richtigkeit  und  Falschheit  darbieten.  Es  braucht 
dann  bloß  noch  die  Einsicht  hinzuzukommen,  daß  die  das 
Maß  für  Richtigkeit  und  Falschheit  abgebende  Bejahungs- 
und Verneinungswürdigkeit  nicht  selbst  wiederum  Richtig- 
keit und  Falschheit  sein  kann.  Xun  spricht  allerdings 
Aristoteles  das  Sichkreuzen  der  Gegensätze  von  Bejahung 
und  Verneinung  und  von  Richtigkeit  und  Falschheit  in 
einer  Zuspitzung  aus,  die  dazu  führt,  das  Maß  für  Richtig- 
keit und  Falschheit  der  bejahenden  und  verneinenden  Ur- 
teile, mithin  das  objektive  Korrelat  der  richtigen  Bejahung 
und  Verneinung,  weit  über  alle  nichtgegenständliche  gegen- 
sätzlich gespaltene  Region  hinaus,  unmittelbar  in  die  Gegen- 
stände selbst  zu  verlegen.  Richtigkeit  besteht  ihm  demgemäß 
darin,  das  Zusammenbestehende  (auyxcojisvov)  für  zusammen- 
seiend und  das  Getrennte  (6LT[jpyj(JL£vov)  für  getrennt  zu  er- 
achten, Falschheit  in  dem  dazu  gegenteiligen  Verhalten  ^ 
Hiernach  scheint  also  als  Maß  von  Richtigkeit  und  Falsch- 
heit und  als  Objektskorrelat  von  Bejahung  und  Verneinung 
nicht  ein  primäres  Gegensatzpaar,  sondern  ein  verschiede- 
ner gegenständlicher  Sachverhalt  angenommen  zu  sein,  der 
Gegensatz  von  Bejahung  und  Verneinung  in  den  Gegen- 
ständen selbst  zu  wurzeln,  eine  metaphysisch-ontologische 
Bedeutsamkeit   zu   erhalten  -.     Doch   es   hat   stets   für    die 


1  Vgl.  Met.  VI,  4,  1027  b,  20—23,  IX,  10,  1051b,  2—5. 
«  Vgl.  Prantl  I,  118  f. 


—     40     — 

Aristoteles-Forschung  zu  den  quälendsten  und  unbegreif- 
lichsten Widersprüchen  gehört,  daß  im  unversöhnbaren 
Gegensatz  dazu  Aristoteles  jegUche  GegensätzUchkeit  aus- 
drücklich aus  dem  Bereiche  des  das  Objekt  der  Metaphysik 
bildenden  eigentlichen  Seins  (-/.upiü);  öv)  ausschließt  und  in 
eine  niedere,  erst  auf  dem  Boden  des  Denkens  (ev  -zrj  o:a- 
vc:a)  entstehende  Region  verweist  ^  Nur  dann  eröffnet 
sich  jedenfalls  eine  Aussicht,  diesen  noch  niemals  geschlich- 
teten Widerstreit  in  den  Lehren  des  Aristoteles  zu  lösen, 
wenn  es  möglich  sein  sollte,  das  von  ihm  für  Bejahung 
und  Verneinung  statuierte  Objektskorrelat  nicht  als  einen 
gegenständlich-metaphysischen  Maßstab,  sondern  im  Sinne 
einer  gegensätzlich  gespaltenen  Gültigkeits-  und  üngültig- 
keitsnorm,  also  eines  einen  Maßstab  für  Richtigkeit  und 
Falschheit  bildenden,  von  der  Entscheidung  darüber  unab- 


»  Besonders  Met.  VI.  4.  102Tb— 1028a,  vgl.  Prautl.  117  tf., 
185,  Brentano,  V.  d.  mannigf.  Bedeutg.  d.  Seienden  nach  Ar., 
1862,  39.  Die  Unausgeglichenheit  zwischen  der  , idealistischen"  und 
der  , realistischen"  Fassung  der  Urteilsgegensätzlichkeit  wird  nicht 
durch  den  von  M  a  i  e  r  I.  24  ff.  erbrachten,  für  sich  sehr  wichtigen 
Nachweis  eines  Unterschiedes  zwischen  einer  rein  subjektiv-psycho- 
logischen und  einer  das  Korrelat  von  z'jf/.tlzb-oi:  und  SiaipsisO-ai  bilden- 
den, eine  objektiv-logische  Bedeutung  enthaltenden  aüv^-sois  und 
S'.aipea-.g  behoben  (vgl.  dazu  auch  ob.  S.  15  Anm.).  Der  "Widerspruch 
zwischen  der  subjektiven  und  der  objektiven  Fassung  ist  eine  inner- 
halb der  nicht  psychologischen  Seite  des  Urteils  sich  abspielende 
Angelegenheit,  bei  der  es  sich  darum  dreht,  ob  das  logische  We- 
sen der  Urteilsgegensätzlichkeit,  der  Gegensatz  der  Si ungefüge,  in 
den  Gegenständen  sein  Korrelat  hat  oder  —  ungeachtet  seiner  ob- 
jektiv-logischen Relevanz  —  lediglich  erst  auf  dem  Boden  des  ver- 
bindenden und  trennenden  Denkens  erwächst.  Die  Schwierigkeit 
besteht  darin ,  daß  das  die  Synthesis  und  Diairesis  im  objektiv- 
logischen Sinne  bedingende,  der  Bejahung  und  Verneinung  als  Ob- 
jektskorrelat zugrundeliegende  Moment  der  Gegensätzlichkeit,  das 
einemal  als  in  die  Gegenstände  verlegt  —  nicht  nur  an  ihnen  meß- 
bar — ,  das  andremal  als  durch  einen  Abstand  von  ihnen  geschieden, 
somit  das  einemal  als  von  gegenständlich-metaphysischer,  das  andre- 
mal als  von  nichtgegenständlich-subjektiver  Bedeutung  erscheint. 


—     41     — 

hängigen  Zusammengehörens  und  Nichtzusammengehörens, 
Zukommens  und  Nichtzukommens ,  zu  deuten,  mithin  darin 
in  letzter  Linie  nur  den  Ausdruck  für  eine  dem  subjek- 
tiven Belieben  als  Richtpunkt  gegenübergestellte  objektive 
Gültigkeit  zu  erblicken. 

Nun  steht  zunächst  soviel  außer  Zweifel,  daß  Ari- 
stoteles ein  Urbild  für  Bejahung  und  Verneinung  mit  der 
ausdrücklichen  Absicht  aufstellt,  der  Willkürlichkeit  des 
Meinens  einen  absolut  gültigen  Maßstab  entgegenzuhal- 
ten ^  Aber  sollte  nicht  außerdem  das  Sichzusammenbefinden 
und  Getrenntsein  doch  im  Grunde  wertgegensätzlich  ge- 
spaltene Gebilde  bedeuten  und  so  genau  die  Zwischen- 
stellung einnehmen,  die  den  wahren  und  wahrheits widrigen 
Gefügen  zukommt?  Dann  müßte  es  als  das  Ansich  eines 
maßstabartigen  Zukommens  und  Nichtzukommens,  das  „Zu- 
sammenliegen" als  die  Gültigkeit  oder  Notwendigkeit  eines 
Zusammengehörens,  das  Getrenntsein  als  die  Ungültigkeit, 
als  das  Nichts-Miteinander-Zutunhaben  des  Nichtzusammen- 
gehörigen gedeutet  werden.  Nichts  steht  dieser  Interpre- 
tation im  Wege,  und  so  ist  es  von  größtem  Interesse, 
daß  sie  dementsprechend  denn  auch  unbedenklich  vertreten 
wird  -.     Der  tiefere  Sinn   der  Koordination   von  Bejahung 


1  S.  die  Stellen  Prantl,  118,  Anm.  113. 

2  Schwegler,  Komm.  1848,  IV,  31:  jSuyxsIoO'at  bezeichnet  im 
gewöhnlichen  Aristotelischen  Sprachgebrauch  die  logische  Zusammen- 
gehörigkeit oder  Zusammenstimmung  eines  Subjekts  mit  einem  Prä- 
dikat: als  aoY>^eitisva  verhalten  sich  Subjekt  und  Prädikat  in  einem 
bejahenden,  als  §i7}py)p.eva  in  einem  verneinenden  Urteil."  Bonitz, 
Ind.  Ar.  708  b,  36  fi'.  zu  1051b.  4:  ^logice  de  conjunctis  inter  se  .  .  . 
subjecto  et  praedicato".  Die  im  Text  vertretene  Auffassung  erhält 
noch  eine  weitere  Unterstützung  durch  M  a  i  e  r  s  Interpretation,  wo- 
nach das  ewige  Zusammenbestehen  und  Getrenntsein  den  metaphy- 
sischen Wesensbegriff,  aber  „bereits  unter  dem  Gesichtspunkt  des 
Urteils  betrachtet",  d.  h.  auf  dem  Boden  des  diskursiven,  zerlegenden 
Denkens,  darstellt,  somit  sich  bereits  als  Produkt  einer  Umarbeitung 


—     42     — 

und  Verneinung  bei  Aristoteles  läge  dann  darin,  daß  sich 
beide  nachbildlich  einem  urbildlichen  Korrelat  gegenüber 
verhielten,  auch  die  Verneinung;  daß  dieses  Urbild  aber 
bei  beiden  noch  in  einer  Distanz  zu  den  Gegenständen 
selbst  stände.  Eine  metaphysische  Verabsolutierung  der 
Negativität  wäre  dann  vermieden  ^ 


und  als   von    der    metaphysisch-gegenständlichen  Region    durch    eine 
Distanz  geschieden  erweist,  a.  a.  0.  I,  21  f.,  30  ff. 

'  Zur  Unterstützung  der  Ansicht,  daß  die  Aristotelische  Urteils- 
theorie eine  Doppeltheit  von  Gegensatzpaaren  kennt,  erscheint  es  auf 
den  ersten  Anblick  verlockend,  auch  noch  die  Unterscheidung  zweier 
Arten  von  cbsOSog,  einer  Falschheit  der  Aussage  und  einer  in  den 
Dingen  liegenden,  sachartigen  Falschheit  (wg  Ti^ä.y\i.a.  disOSog)  heran- 
zuziehen. Met.  V,  29,  1024b,  vgl.  darüber  Brentano,  31  S.,  Maier 
I,  10  S.  Dies  sachliche  'heubot;  wäre  dann  als  das  wahrheitswidrige  Ge- 
füge zu  denken.  Insofern  es  nicht  mit  der  Falschheit  der  Aussage 
selbst  zusammenfällt,  ihr  vielmehr  als  ein  der  aburteilenden  Ent- 
scheidung unterliegendes  Objekt  gegenübersteht,  wäre  es  ein  sach- 
artiges Gebilde;  insofern  es  aber  um  seiner  Unwertigkeit  willen  doch 
nicht  den  gegensatzjenseitigen  Gegenständen  angehört,  dürfte  es  nur 
ein  gegenstands artiges  Objekt  genannt  werden.  Daß  es  aber  das 
wahrheits widrige  Gefüge  darstellen  soll,  dafür  könnte  der  Umstand 
zu  sprechen  scheinen,  daß  Aristoteles  an  dieser  Stelle  und  sonst  dem 
({jstjdoc  dieselbe  Funktion  eines  Objektskorrelats  und  Maßstabs  der 
Verneinung  zuweist  wie  sonst  dem  Siaipelad-ai,  vgl.  Schwegler, 
Komm.  III,  241  und  die  dort  zitierte  Bemerkung  des  Alexander  Schol. 
731b.  20,  Maier  I,  11  und  ebenda  Anm.  5,  ferner  z.B.  Brentano, 
a.  a.  0.,  35  zu  1017  a,  3  und  die  dort  zitierte  Stelle  aus  dem  Kom- 
mentar des  Alexander.  Andernfalls  müßte  man  den  Aristoteles  das 
Bejahen  als  ein  Fürrichtig-,  das  Verneinen  als  ein  Fürfalschhalten 
erklären  lassen,  ihm  also  zumuten,  daß  er  bei  ausdrücklicher  Be- 
sinnung darauf,  daß  dem  Bejahen  und  Verneinen  ein  Wertgegen- 
satz, ein  äXTjt)-£5  und  !{jeü5og,  korrespondiert,  dennoch  der  in  der  Ein- 
leitung charakterisierten  —  allerdings  die  ganze  Entwicklung  der 
Urteilstheorie  begleitenden  —  Zirkeldefinition  verfallen  sei  (vgl.  ob. 
S.  20  ff.).  —  Ist  jedoch  diese  ganze  Interpretation  der  Lehre  von  den 
beiden  Arten  des  '4'-55og  unzutreffend,  dann  liegt  das  Bedeutsame 
dieser  Unterscheidung  darin,  daß  hier  Aristoteles  ausdrücklich  den 
Sinn  des  Urteils  oder  den  „  Urteilsinhalt"  vom  Urteilsakt  und  ent- 
sprechend die  Falschheit  des  im  Urteil  Gemeinten  von   der  Irrigkeit 


—     43     — 

Genau  dieselbe  von  der  metaphysischen  Seinsregion 
unterschiedene  Stellung  wie  diese  Maßstabsgebilde  müßte 
das  mit  Zusammenbestehen  und  Getrenntsein,  mit  Zukom- 
men und  Nichtzukommen  (ÜTidp/^ecv  und  (Jirj  brtapyeiv)  gleich- 
bedeutende Sein  und  Nichtsein  (ecvat  und  (jitj  stvat)  ein- 
nehmen ^  Grade  das  Seiende  als  das  Wahre  und  das 
Nichtseiende  als  das  Falsche  (ov  6)c,  äXy]d-ec,  und  {xrj  Sv  öyq 
4'£öSos)  wird  ja  ausdrücklich  als  einer  niederen  Sphäre  des 
„Seins"  angehörend,  dem  eigentlichen  gegensatzlosen  meta- 
physischen Sein  gegenübergestellt  ^.  Es  ist  somit  zwischen 
einem  gegensatzlosen  Sein  und  einem  positiven  Sein,  das 
einen  Gegensatz  zuläßt  und  in  einer  ganz  andern  Sphäre 
liegt,  zu  unterscheiden.  Das  Sein  in  der  letzteren  Be- 
deutung ist  gleichbedeutend  mit  dem  Wahren,  mit  dem  in 
Wahrheit  „Zukommen"  oder  „Stattfinden",  kurz,  es  ist 
lediglich  ein  Ausdruck  für  die  Positivität  als  das  eine  Glied 
des  Gegensatzes.  Dieses  Sein  und  Nichtsein  ist  zugleich 
das  der  Kopula.  Wie  denn  hervorgehoben  werden  muß, 
daß  Aristoteles  die  Kopula  immer  als  eine  gegensätzlich 
gespaltene  und  nicht  als  eine  neutrale  Verbundenheit  auf- 


des  urteilenden  Aussagens  scheidet,  vgl.  ob.  S.  15  Anm.  Als  „den 
Gegenstand  eines  falschen  Urteils"  deutet  Brentano,  a.  a  0.,  31/32, 
als  „den  Inhalt,  die  Materie  eines  Urteils  ....  —  seine  Form,  das 
Wesen  des  Urteils  als  Urteil  bleibt  hierbei  außer  Betracht  — "  M  a  i  e  r 
I,  11  das  ü)5  TtpäY[ia  ti^sOSog.  Als  ausgesagter  „Sachverhalt"  stellt  es 
sich  gegen  Stands  artig  dem  Urteil  selbst  gegenüber,  als  gegen- 
sätzliches Gebilde  dagegen  erscheint  es  nur  als  gegenstandsartig. 
Als  Parallelstelle  wäre  das  ob.  S.  15  Anm.  erwähnte  Zitat  aus  der 
Kategorienschrift  herbeizuziehen,  wo  der  positive  und  der  negative 
Sachverhalt  von  der  Bejahung  und  der  Verneinung  unterschieden 
wird. 

»  Vgl.  d.  ob.  zit.  Stelle  1024b,  ferner  z.  B.  Met.  IX,  10,  1051b, 
III,  2,  996b,  29  f.,  IV,  3,  1005b,  19  ff.,  1006a,  an.  pr.  2,  53b,  15. 

2  Met.  VI,  4,  1027  b— 1028  a,  vgl.  de  interpr.  3,  16  b,  22  ff.,  dazu 
noch  Brentano,  Sittl.  Erk.,  1889,  58,  61,  64,  75  f.,  Marty,  Unters., 
309  ff.,  316  f. 


—     44     — 

treten  läßt,  ohne  sie  freilich  als  bereits  den  primären  Ob- 
jekten angehörend  zu  behandeln  ^. 

Allerdings  ist  zu  allem  Vorausgegangenen  schließlich 
zu  bemerken,  daß  Aristoteles  immer  wieder  den  Abstand 
zwischen  dem  logisch  -  gegensätzlichen  und  dem  metaphy- 
sisch- und  metalogisch-gegensatzlosen  Sein  verwischt  und 
entsprechend  auch  im  Zukommen  (uT:apX£^v)  die  bloße  Po- 
sitivität  des  Zusammengehörens  und  das  reale  Verhältnis 
des  Inhärierens  ineinandergeschoben  hat  -.  Als  eklatan- 
testes Symptom  ebendafiir  erweist  sich  die  Tatsache,  daß  er 
den  auf  dem  Wesen  der  Gegensätzlichkeit  beruhenden  Satz 
vom  Widerspruch  zu  den  metaphysischen  Prinzipien  zählt. 
Doch  das  hängt  mit  dem  allgemeinsten  und  schwierigsten 
Streitpunkt  der  Aristotelischen  Logik  überhaupt,  mit  ihrem 
schwer  bestimmbaren  Verhältnis  zur  Metaphysik,  zusammen. 

Zweiter  Abschnitt. 

Die  metagranimatische  Subjekt-Prädikats-Theorie. 

Als  spezifisches  Phänomen  der  Urteilsregion  ist  in  der 
Einleitung  die  Gegensätzlichkeit  bezeichnet  worden.  Jetzt 
aber  hat  sich  herausgestellt,  daß  die  Gegensätzlichkeit  sich 
als  Beziehungsmoment,  als  „Form",  auf  einem  gewissen 
Elementenbestand  aufbaut.  Will  man  nun.  wie  es  die  Ab- 
sicht dieser  Abhandlung  ist,  der  Urteilsregion  ihre  Stel- 
lung innerhalb  der  Gesamtheit  der  logischen  Phänomene 
anweisen,  so  wird  es  darauf  ankommen  müssen,  zu  er- 
gründen, worauf  sich  denn  die  spezifische  „Form"  der 
primären  Urteilsgefüge  aufbaut,  d.h.  wie  sich  der  die  „Ma- 


'  Mai  er  I,  111  ff. 

*  Ueber  daR  Schwanken  insbesondere  hinsichtlich  des  Verhält- 
nisses zwischen  existentialem  und  kopulativem  Sein  vgl.  bes.  Tren- 
delenburg, Geschichte  der  Kategorienlehre.  1846,  68  f.,  Bren- 
tano, Mannigf.  Bed.,  38,  M  a  i  e  r  I.  114  ff.,  118  f.,  IIb,  282  ff. 


—     45     — 

terie''  im  scholastischen  Sinne  bildende  gegensatzindifferente 
Elementenkomplex  gliedert.  In  ihm  wird  offenbar  der  ur- 
teilsjenseitige Bestand  zu  suchen  sein,  der  in  die  eigen- 
tümliche „Form"  und  Strukturkomplikation  der  primären 
Objekte  und  damit  der  ürteilsregion  überhaupt  eingeht. 
Denn  ist  auch  das  Urteil  ein  nichtgegenständliches  Phä- 
nomen, als  ein  Mittel  der  Gegenstandsbemächtigung  ent- 
hält es  doch  in  irgendwelcher  Verarbeitung  den  Gegen- 
stand. Es  wird  sich  also  darum  handeln  müssen,  daß  in 
die  Zwischenregion,  in  die  der  primären  Objektsgefüge,  die 
oberste  Region,  die  Region  der  Gegenstände,  hineingear- 
beitet ist. 

Für  die  Orientierung  innerhalb  dieses  Elementenbe- 
standes bietet  die  traditionelle  Logik  die  Scheidung  nach 
„Subjekt"  und  „Prädikat"  dar.  Es  fragt  sich  jetzt, 
was  es  mit  dieser  Gliederung  für  eine  Bewandnis  hat. 

An  diesem  Punkte  sieht  sich  jedoch  die  logische  For- 
schung vor  eine  letzte  Alternative  gestellt.  Es  kommt  alles 
darauf  an,  ob  der  Gliederung  nach  Subjekt  und  Prädikat 
eine  bloß  psychologisch-grammatische  oder  eine  sachliche 
und  logische  Bedeutung  zukommt.  Nur  im  letzteren  Falle 
wird  für  die  Logik  überhaupt  ein  Anlaß  vorliegen,  für  die 
Gliederung  der  Urteilsstruktur  sich  um  die  urteilsjenseitige 
Region  zu  bekümmern ,  während  die  grammatisierenden 
Theorien  solcher  Kriterien  für  die  Auseinanderhaltung  von 
Subjekt  und  Prädikat  garnicht  bedürfen. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  decken  sich  noch  frag- 
los die  sprachlichen  Ausdrucksmittel  und  die  Einheit  des 
logischen  Sinnes.  Es  korrespondiert  nämlich  dem  geschlos- 
senen Ganzen  des  harmonischen  oder  disharmonischen  und 
folgeweise  des  kopulativ  verknüpften  Sinngefüges  das  ge- 
schlossene Ganze  des  Satz-  oder  Aussage-  oder  Prädika- 
tionsgefüges.     Dem   logischen  Sachverhalt   des   Zusammen- 


—     46     — 

gehörens  oder  Nicbtzusammengehörens  irgendwelcher  Be- 
standteile entspricht  die  sprachliche  Formulierung,  daß 
irgend  ein  Element  irgend  einem  andern  Element  als  zu- 
kommend ausgesagt  oder  irgend  Etwas  von  irgend  Etwas 
prädiziert  wird.  Es  ist  darum  eine  noch  ganz  harmlose 
und  zutreffende  Ausdrucksweise,  wenn  man  im  primären 
Objekt  der  Urteilsentscheidung  oder  der  „Aussage"  ein 
Element,  von  dem  etwas,  und  ein  Element,  das  von  jenem 
ausgesagt  wird,  auseinanderhält. 

Allein  in  den  Termini  Subjekt  und  Prädikat  (utxoxsc- 
|jievov,  xaxr^yopoujjievov)  ist  die  Einsinnigkeit,  die  bestimmte 
Richtung  einer  Beziehung,  angedeutet,  also  zum  Ausdruck 
gebracht,  daß  die  beiden  Glieder  innerhalb  des  Gefüges 
ganz  bestimmte,  unverwechselbare  Funktionen  zu  erfüllen 
haben.  Das  eine  Element  wird  ja  als  das  zugrundeliegende, 
das  andere  als  das  hinzutretende,  in  der  Aussage  dem 
andern  erst  zuerteilte,  hingestellt.  Es  erhebt  sich  nun  erst 
die  entscheidende  Frage,  ob  diese  Einsinnigkeit  der  Be- 
ziehungsrichtung, die  charakteristische  Verschiedenheit  in 
der  Stellung  der  beiden  Glieder,  in  einem  grammatischen 
oder  metagrammatischen  Sinne  vorliegt. 

Die  eine  Möglichkeit  bestände  nämlich  darin,  daß  die 
Subjekts-  und  Prädikatsstellung  lediglich  von  der  zeitlichen, 
psychologisch-grammatischen  Reihenfolge  abhängt,  von  dem 
Weg,  den  das  urteilende  Aussagen  nun  einmal  einschlägt, 
sodaß  jedes  beliebige  Element  unterschiedslos  in  die  Situ- 
ation des  Subjekts  wie  des  Prädikats  geraten  kann.  Dann 
würde  diese  Reihenfolge  des  Aufgreifens  und  Angliederns 
der  Elemente  als  bestimmend  dafür  anzusehen  sein,  was 
als  Subjekt  und  Prädikat  zu  gelten  hat.  Subjekt  wäre 
stets  das  Element,  das  vom  Erkennen  zum  Ausgangspunkt 
der  Aussage  gewäblt  und  in  diesem  Sinne  als  Anknüpfungs- 
punkt und  Unterlage  zugrunde  gelegt,    Prädikat  stets  das- 


—     47     — 

jenige,  das  zu  jenem  sodann  in  Beziehung  gesetzt  wird. 
In  diesem  Fall  wäre  lediglich  eine  auf  ein  logisches  Mini- 
mum sich  bescheidende  Theorie  verstattet.  Das  logisch 
Relevante  im  Aussagegefüge  reduzierte  sich  auf  eine  Ver- 
bundenheit von  Gliedern  überhaupt.  Obwohl  also  unter 
dieser  Voraussetzung  logische  Sinngefüge  und  sprachliche 
Satzgefüge  in  ihrer  Ganzheit  sich  decken,  so  wäre  es  trotz- 
dem immerhin  noch  gerechtfertigt,  scharf  herauszuarbeiten, 
welches  dem  Sinn  nach  die  aufeinander  bezogenen  Glieder 
sind,  dies  der  sprachlichen  Formulierung  gegenüber  klar- 
zustellen und  so,  wie  es  z.  B.  Erdmann  tut,  grammatisches 
und  logisches  Subjekt  und  Prädikat  immer  noch  ausein- 
ander zu  halten  '.  Allein  die  Entscheidung  darüber,  wel- 
ches von  den  Gliedern  als  Subjekt  und  welches  als  Prä- 
dikat anzusehen  ist.  entnimmt  man  auch  dann  stets  nur 
der  von  Element  zu  Element  hinführenden  Richtung  des 
Erkenntnisverlaufs.  Ein  von  dieser  Bemächtigung  des  Er- 
kennens  unabhängiges,  in  den  Elementen  selbst  liegendes 
Kriterium  gibt  es  nicht.  Es  bleibt  immer  denkbar,  daß 
je  nach  dem  vom  aussagenden  Verhalten  eingeschlagenen 
Weg  ein  jetziges  Prädikat  in  einem  anderen  Zusammen- 
hang Subjekt  wird  und  umgekehrt. 

Eine  darüber  hinausgehende  wahrhaft  sachliche  Be- 
deutung würden  Subjekt  und  Prädikat  erst  dann  erhalten, 
wenn  der  Inbegriff  des  Denkbaren  in  zwei  Arten  von  Be- 
standteilen zerfiele,  die  ihrem  eigenen  Wesen  und  Gehalt 
nach  —  ganz  unabhängig  von  ihrer  Verwendung  durch  das 
Erkennen  im  Einzelfall ,  von  der  Reihenfolge  des  Denk- 
fortschritts —  gleichsam  geborene  oder  prädestinierte  Sub- 
jekte und  Prädikate  darstellten.  Dann  wäre  auch  die  der 
Subjekt-Prädikatsbeziehung  eigentümliche  Einsinnigkeit  der 


'  S.  B.  Erdmann,  Logik  P,  1907,  334  ff. 


—     48     — 

Richtung  lediglich  durch  das  Wesen  dieser  Bestandteile 
bestimmt. 

In  allen  einzelnen  Aussagegefügen  würde  immer  als 
das  eigentliche  Subjekt  und  Prädikat  unabhängig  von  der 
psychologisch-grammatischen  Anordnung  das  seinem  We- 
sen nach  dazu  Berufene  anzusehen  sein.  Danach  und 
danach  allein  würde  sich  unverrückbar  bestimmen,  was  in 
allen  einzelnen  Aussagen  das  der  Sache  nach  Zugrunde- 
liegende ist,  das,  von  dem,  und,  was  das  Hinzutretende 
ist,  das,  was  ausgesagt  wird. 

Unter  dieser  Voraussetzung  würde  die  Lehre,  daß  das 
Objekt  der  Urteilsentscheidung,  das  Aussagegefüge,  aus  Sub- 
jekt und  Prädikat  bestehe,  ein  ganz  anderes  Gewicht  erhalten. 
Diese  Lehre  würde  dann  als  im  Wesen  des  Aussagegefüges 
liegend,  fordern,  nicht  etwa  nur,  daß  in  ihm  ein  Zweierlei 
von  irgendwelchen  zu  kopulierenden  und  von  einander  aus- 
zusagenden Elementen  vorkommt,  sondern  daß  gerade  jene 
zwei  dem  Gehalt  und  der  Art  nach  unterschiedenen  Be- 
standteile in  ihm  vertreten  sein  müssen  und  daß  gerade 
zwischen  ihnen  das  Zusammengehören  und  Nichtzusammen- 
gehören  statthat. 

Wenn  aber  derart  die  psychologisch-grammatische  und 
die  sachliche  Zweigliedrigkeit  der  Aussagegefüge  gänzlich 
auseinandertielen,  so  könnte  es  als  zweifelhaft  erscheinen, 
ob  es  dann  überhaupt  noch  berechtigt  ist ,  sie  beide  mit 
demselben  Namen  des  Subjekt-Prädikats- Verhältnisses  zu 
bezeichnen.  Allein  es  haben  in  der  logischen  Theorie  zu 
allen  Zeiten  die  beiden  verschiedenen  Bedeutungen  der 
Subjekts-  und  der  Prädikatsstellung  durcheinandergespielt; 
und  es  haben  sogar  auch  die  grammatisch  orientierten  Glie- 
derungsversuche den  Anspruch  erhoben ,  zugleich  einen 
metagrammatischen  Sachverhalt  abzubilden. 

Für  eine  vom  Psychologisch-Grammatischen  sich  eman- 


—     49     — 

zipierende  Subjekts-  und  Prädikatstheorie  besteht  aber  noch 
eine  weitere  und  zwar  grundlegende  Vorfrage.  Die  Ele- 
mente des  Aussagegefüges  sind  nicht  einfachste  ,  sondern 
selbst  schon  zusammengesetzte  Bestandteile,  „Begriffe'S  also 
„Merkmalskomplexe".  Hier  steht  die  Forschung  wiederum 
vor  zwei  Möglichkeiten.  Entweder  wird  die  Komplexität 
der  Begriffe  als  tote  genere  von  der  Zusammengefügtheit 
der  Aussageganzheiten  unterschieden  angesehen.  Dann 
fällt  die  Lehre  von  der  Zusammengesetztheit  der  Begriffe 
ganz  aus  dem  Bereich  der  Urteilslehre  heraus,  und  die  be- 
grifilichen  Aussagebestandteile  sind  innerhalb  der  Urteils- 
lehre als  ein  Unauflösliches,  als  relative  Elemente,  anzu- 
sehen. Die  Aussageelemente  sind  dann  xaia  [Jir^$£[a{av 
c7u;i7:Äoy.r,v  XeyoiXiVa  ,  insofern  als  unter  a'j[XT:Ä07.r^  die  ganz 
spezifische  ,  von  der  Komposition  der  Begriffe  unterschie- 
dene a'j[x-Xoy.r,  der  Aussage-Zusammenfügung  verstanden 
wird.  Das  ist  der  Aristotelische  Standpunkt,  nach  dem  in 
der  Urteilssynthese  mit  den  Gliedern  eines  festen  Begriffs- 
systems gearbeitet  wird.  Oder  aber  es  herrscht  die  Auf- 
fassung, daß  in  der  Zusammengesetztheit  der  Begriffe  nichts 
anderes  als  die  aussagende  Zusammenfügung  niedergelegt  ist, 
die  Begriffe  nichts  anderes  als  einen  festgewordenen  Aussage- 
und  Urteilsniederschlag  repräsentieren.  Dann  sind  die  Schran- 
ken zwischen  Begriff  und  Urteil  niedergerissen,  und  die  Ver- 
schiedenheit beider  wird  in  letzter  Linie  als  genau  ebenso  psy- 
chologisch-grammatische Angelegenheit  der  Reihenfolge  des 
bald  dieses  bald  jenes  gerade  aufgreifenden  und  entspre- 
chend bald  dieses  bald  jenes  als  bereits  „begriffen'-  vor- 
aussetzenden Erkenntnisprozesses  durchschaut ,  wie  die 
grammatische  Scheidung  von  Subjekt  und  Prädikat'.    Mit 


1  Hierzu  vgl.  Schleiermacher,  Dialektik  §  142  ff.,  247,  304, 
Trendelenburg,  Log.  Unters.  IP,  1870,  231  ff.,  Schuppe, 
Erkenntnistheoretische  Logik,  1878,  6  f.,  101  f..  117  ff.,   Bergmann, 

Lask    Lehre  vom  Urteil.  4 


—     50     — 

einer  solchen  Nivellierung  von  Begriff  und  Urteil  sind  die 
Vorbedingungen  gegeben  zu  einer  Tendenz  radikaler  ,  bis 
zu  den  einfachsten  Elementen  vordringender  Auflösung. 
Da  unterschiedslos  hinter  jeder  Zusammengesetztheit  Aus- 
sage-Zusammenfügung steht,  so  können  als  die  echten  Aus- 
sageelemente nur  die  Urbestandteile  überhaupt  angesehen 
werden.  Es  muß  sich  dann  des  Weiteren  fragen,  welches 
die  Q-iO'.yßct.  gerade  im  logischen  Sinne  sind,  d.  h.  wie  die 
keinerlei  Verbundenheit  in  sich  bergenden  Elemente  ihrer 
letzten  logisch  relevanten  Diskrepanz  nach  und  darum  im 
Sinne  einer  wahrhaft  logischen  Subjekts-  und  Prädikats- 
theorie gegen  einander  abzugrenzen  sind. 

Doch  von  dieser  Angelegenheit  der  Auflösbarkeit  in 
letzte  Elemente  soll  vorläufig  abgesehen  und  zunächst  nur 
der  metagrammatische  Charakter  einer  Subjekt -Prädikats- 
theorie ins  Auge  gefaßt  werden.  Er  wird  sich  in  dem  Ver- 
such dokumentieren  müssen,  die  Struktur  der  Urteilsgefüge 
der  Gliederung  des  urteilsjenseitigen  Bestandes,  also  den 
Gegenständen  selbst,  zu  entnehmen. 

Maßgebend  für  die  ganze  Folgezeit  hat  Aristoteles 
diesen  sachlichen  Hintergrund  in  der  theoretischen  Struk- 
turlehre hervortreten  lassen.  Er  hat  die  Grundeinteilung 
des  im  eigentlichen  und  metaphysischen  Sinne  Seienden  nach 
den  Kategorien  als  den  „Gattungen  der  Aussage"  vorge- 
nommen und  damit  schon  terminologisch  die  höchste  sach- 
liche Gliederung  zur  Gliederung  des  Aussagebestandes  in 
Beziehung  gebracht;  er  hat  die  kategorialen  Bestimmun- 
gen als  Aussageelemente,    als  xata  |jirjOe|xtav  a'jjj-TcXoxr^v  Xe- 

21  f.,  39,  W  i  n  d  e  1  b  a  n  d  ,  Beitr.  z.  Lehre  v.  negat.  Urteil  (Festschr. 
f.  Zeller),  1884,  180  f.,  V.  System  der  Kategorien  (Festschr.  f.  Sigwart), 
1900,  45  f.,  Rickert,  Z.  Lehre  v.  d.  Definition,  1888,  44  tt".,  Mei- 
nung, Ueb.  Annahmen,  57  f.,  J.  Cohn,  Vorauss.  u.  Ziele  d.  Erk., 
81  f.,  Natorp,  D.  log.  Grundlagen  d.  exakt.  Wissenschaften,  1910, 
39  ff.,  bes.  42,  Philosophie,  1911,  50  f. 


—     51     — 

YOfieva,  charakterisiert  S  also  allem  Anschein  nach  von  den 
Aussagebestandteilen  ausgehend,  in  ihnen  einen  „Leitfaden 
zur  Entdeckung  der  Kategorien"  finden  zu  können  ge- 
meint ^  Er  hat  ferner  die  Scheidung  nach  Subjekt  und 
Prädikat  von  einer  gegenständlich-kategorialen  Rangord- 
nung in  Abhängigkeit  gebracht,  indem  er  für  das  wahre 
Subjekt  der  eigentlichen  und  ursprünglichen  Aussage  das 
seiner  metaphysischen  Wesenheit  nach  Zugrundeliegende, 
die  Substanz,  für  die  wahren  Prädikate  das  der  Sache  nach 
den  Substanzen  Anhängende  ,  die  Akzidenzen  ,  erklärt  ^ 
Damit  ist  Aristoteles  das  Vorbild  aller  späteren  meta- 
grammatischen Subjekts-  und  Prädikatstheorien  geworden. 
Nur  muß  man  sich  gegenwärtig  halten  ,  daß  die  übliche 
Formel,  nach  der  das  Subjekt  in  letzter  Linie  auf  das 
„Ding",  das  Prädikat  auf  „Eigenschaft"  und  „Tätigkeit" 
zurückweist,  lediglich  einen  schwächlichen  Nachklang  der 
Aristotelischen  Auffassung  gibt,  da  mit  ihr  eine  Bornie- 
rung  der  kategorialen  Ordnung  auf  die  sinnlich-anschau- 
liche, räumlich-zeitliche  Wirklichkeit  verbunden  zu  sein 
pflegt,  die  dem  Aristoteles  völlig  fernlagt.  Andernfalls 
müßte  seine  Substanz- Akzidenz-Theorie  ja  auch  ganz  ratlos 
vor  den  doch  gleichfalls  aus  Subjekt  und  Prädikat  bestehen- 
den Urteilen  stehen,  die  das  philosophisch-metaphysische 
Erkennen  zu  fällen  hat.  Für  all  die  das  Subjekt-Prädi- 
kats-Verhältnis auf  die  Gliederung  der  Sache  selbst  zurück- 
führenden Theorien  besteht  nun  die  Notwendigkeit,  zwischen 

*  S.  bes.  cat.  4,  Ib. 

'-Vgl.  Trendelenburg,  Geschiclite  d.  Katl.,  6  ff.,  11,  33, 
Schuppe,  D.  Aristotelischen  Kai,  1871,  9  fF.,  Mai  er  IIb,  bes. 
291  ff.,  318  ff.,  A  p  e  1 1 ,  Beitr.  z.  Gesch.  d.  griech.  Philos.,  1891, 124  ff"., 
132  ff.,  138  ff. 

3  Vor  allem  an.  post.  I,  22,  vgl.  T  r  e  n  d  e  1  e  n  b  u  r  g  14  ff.,  19, 
21,  34,  53  f. 

*  Vgl.  Log.  d.  Philos.,  227  fl'. 

4* 


—     52     — 

einem  grammatischen  und  einem  metagrammatischen  Sub- 
jekts- und  Prädikatsbegriff  zu  unterscheiden  und  überall 
das  sachliche  Subjekt  und  Prädikat  durch  Umformung  des 
sprachlichen  Ausdrucks  als  vorliegend  nachzuweisen,  wie  es 
vorbildlich  bereits  bei  Aristoteles  geschehen  ist '. 

Doch  bei  diesem  Unternehmen,  die  theoretische  Sinn- 
struktur auf  die  Konstitution  der  Gegenstände  zurückzu- 
führen, muß  sich  die  ganze  Kluft  zwischen  der  vorkanti- 
schen  und  der  Kantischen  Orientierung  in  der  Logik  be- 
merkbar machen.  Für  den  Vorkantianismus  der  Logik  muß 
die  Gegenstandsstruktur  ins  Metalogische  fallen,  kann  sie 
eine  Angelegenheit  garnicht  der  Logik,  sondern  nur  der 
Metaphysik,  d.  h.  der  Metalogik,  sein.  Die  Aussage-  und 
Urteilsstruktur  an  die  Gegenstandsstruktur  anknüpfen,  das 
heißt  im  vorkantischen  Zeitalter  der  Logik  so  viel  wie : 
das  Metalogische  ins  Logische  hineinragen  lassen.  Denn 
dort  fällt  das  Urteilsjenseitig-Gegenständliche,  das  übers 
Urteilsartig-Theoretische  Hinausliegende  sofort  ins  Meta- 
theoretische überhaupt.  So  krankt  diese  Aristotelische 
metagrammatische  Subjekts-  und  Prädikats-Theorie  am 
Uebel  der  Metalogizität.  Es  ist  garnicht  einzusehen,  warum 
es  sich  bei  ihr  um  eine  überhaupt  die  Logik  interessierende 
Angelegenheit  handelt.  Zugegeben  einmal ,  daß  mit  der 
Scheidung  in  Substanz  und  Akzidenz  die  Urgliederung  aller 
Gegenständlichkeit  enthüllt  ist,  und  desgleichen,  daß  es  die 
Bestimmung  des  Erkennens  und  der  theoretischen  Sinnge- 
füge  ist,  mit  den  Gegenständen  übereinzustimmen,  so  muß 
sich  die  höchste  gegenständliche  Gliederung  allerdings  im 
Erkennen  und  in  den  theoretischen  Aussagegefügen  wieder- 
finden lassen.  Aber  in  gar  keinem  andern  Sinne,  als  sich 
jegliche  Mannigfaltigkeit  der  Gegenstände  beliebig  weit  ins 
Einzelne  hinein   im  Erkennen  widerspiegeln  kann.     Denn 

'  An.  post.  1,22. 


—     53     — 

eine  genau  so  metalogische  Bewandnis  hat  es  mit  dieser 
höchsten  gegenständlichen  Gliederung  wie  mit  jeder  belie- 
bigen Inhaltlichkeit  der  Gegenstände.  Es  geschieht  darum 
nur  per  nefas,  wenn  dennoch,  wie  jene  Theorie  es  unter- 
nimmt, von  diesen  metatheoretischen  Gegenstandsunter- 
schieden eine  spezifisch  und  intern  theoretische  Angelegen- 
heit, die  Gliederung  der  Sinnstruktur,  abgelesen  wird. 

Dagegen  zeigt  sich  hier  nun  die  umwälzende  Bedeu- 
tung von  Kants  Kopernikanischer  Tat  für  die  ganze  Lehre 
von  der  Gliederung  der  theoretischen  Sinngefüge.  Indem 
Kant  die  Gegenstände  selbst  vom  Logischen,  Theoretischen, 
Erkenntnisartigen  durchdrungen  sein  läßt,  schafft  er  die 
Möglichkeit,  die  Gliederung  der  Gegenstände  doch  zugleich 
als  eine  ureigene  Wesenseigentümlichkeit  des  Logischen  zu 
begreifen.  Jetzt  erst  wird  die  Berechtigung  dafür  gewon- 
nen, die  Sinnstruktur  der  Urteilsregion  an  die  urteilsjen- 
seitige Gegenstandsstruktur  anzuknüpfen ,  ohne  doch  den 
Herrschaftsbereich  des  Logischen  zu  verlassen.  Jetzt  erst 
sind  die  Vorbedingungen  für  eine  an  den  Urteils  jen- 
seitigen Gegenständen  orientierte  metagram- 
matische und  dennoch  inner  lag  i  s  c  h  bleibende 
Theorie  gegeben.  — 

Aus  der  Eigenart  des  Logischen  überhaupt  also  muß 
die  Gespaltenheit  in  Subjekt  und  Prädikat  sich  verstehen 
lassen.  Und  wenn  es  sich  doch  dabei  um  die  grundlegende 
Scheidung  der  nach  Abzug  des  Gegensatzmoments  übrig- 
bleibenden eigentlichen  Elemente  des  Aussagebestandes,  um 
den  entscheidenden  Einschnitt  in  der  Struktur  der  theo- 
retischen Gefüge,  handeln  soll,  so  muß  hierbei  der  von  der 
psychologisch-grammatischen  Richtung  unabhängige  letzte 
Sinn  des  theoretischen  Gebiets  überhaupt  bestimmend  sein. 
Die  Einteilung  nach  Subjekt  und  Prädikat  verliert  entwe- 
der ihren  Anspruch  auf  wahrhaft  logische  Bedeutsamkeit, 


—     54     - 

oder  aber  das  Erkennen  muß  sich  so  interpretieren  lassen, 
daß  es  seinem  logischen  Sinn  nach  auf  das  Ausstatten  eines 
Subjekts  mit  einer  prädikativen  Bestimmung  hinausläuft, 
die  Einsinnigkeit  der  Subjekt-Prädikatsrichtung  sich  auf 
eine  durch  den  Sinn  des  Theoretischen  bestimmte  Stellung 
der  Glieder  zurückführen  läßt. 

Worin  besteht  aber  die  über  das  theoretische  Gebiet 
herrschende  ürgliederung  ? 

Es  kann  nun  keine  fundamentalere  Entscheidung  dar- 
über geben,  als  wenn  das  Logische,  das  Theoretische  über- 
haupt und  als  solches,  wenigstens  das  Theoretische  in  sei- 
ner ursprünglichen  Gestalt  —  und  als  solches  sollte  es 
nach  den  Bemerkungen  der  Einleitung  die  Gegenstands- 
region selbst  beherrschen  — ,  als  wenn  der  logische  Feinge- 
halt am  All  des  Denkbaren  sich  zu  einem  gesonderten  Phä- 
nomen verdichtete  und  dann  seinem  gleichsam  funktionel- 
len Wesen  nach  in  einer  ganz  bestimmten  charakteristi- 
schen Situation  zu  allem  Denkbaren  stünde  und  darum  um- 
gekehrt alles  Denkbare  in  einer  ganz  bestimmten  Stellung 
gegenüber  dem  Logischen.  An  das  Auftreten  dieses  theo- 
retischen Grundphänomens  wäre  dann  das  Wesen  alles  Er- 
kennens  gebunden,  auf  das  Verhältnis  alles  Denkbaren  zu 
ihm  gründete  sich  die  letzte  Gliederung  auf  theoretischem 
Gebiet. 

Es  muß  einer  umfassenderen  Darstellung  der  Nach- 
weis vorbehalten  bleiben,  wie  eine  systematisch  unternom- 
mene Behandlung  der  logischen  Probleme  in  ihrem  grund- 
legenden Teil  sich  des  in  den  Gegenständen  selbst  liegen- 
den logischen  Urphänomens  zu  bemächtigen  hätte  ^  Dort 
wäre  allen  möglichen  Angriffen  gegenüber  der  Satz  sicher- 
zustellen ,    der  an    der  Spitze    der    gesamten    theoretischen 

'  Statt  dessen  kann  liier  für  das  folgende  nur  auf  die  vorlilufigen 
Ausführungen  Log.  d.  Philos.,  31  ff.  hingewiesen  werden. 


—     55     — 

Philosophie  zu  stehen  hat :  der  Satz  vom  Form  charakter 
des  logischen  Gehalts.  Im  Hinweisungscharakter  ,  in  der 
Ergänzungs-  und  Erfüllungsbedürftigkeit ,  kurz  in  der 
Formartigkeit,  ist  die  funktionelle  Eigenart  des  Logischen 
aufgedeckt.  Danach  bestimmt  sich  die  höchste ,  die  alles 
beherrschende  Artikulation  im  Reiche  theoretischer  Sach- 
lichkeit: die  Gespaltenheit  in  Form  und  Inhalt.  Form  ist 
hinweisend  zum  Material,  und  das  Material  steht  in  der 
Form.  In  der  Form-Material-Duplizität,  in  der  ümschlos- 
seuheit  und  Betroffenheit  des  Materials    durch   die    Form, 

'^  liegt  die  Urgliederung  der  gesamten  theoretischen  Struktur, 
die  nach  Kopernikanischer  Voraussetzung  mit  der  Gegen- 
standsstruktur zusammenfällt,  und  damit  jene  letzte  Situa- 

/    tionsbestimmtheit,   die  zwischen    dem  Logischen   überhaupt 

\  und  dem  All  des  Denkbaren  statthat.  Am  Gesamtbestand 
des  Denkbaren  nimmt  der  eigentlich  logische  Gehalt  da- 
von ,  der  für  das  theoretische  Gebiet  geprägeverleihende 
Faktor,  ohne  den  es  nur  eine  logisch  amorphe  Masse  gäbe, 
die  Stellung  einer  für  sich  leeren  Form  ein,  und  ihm  ge- 
genüber steht  jegliches  Etwas  in  der  Situation  des  Materials. 
Die  logische  Einzelform  aber  soll  als  Kategorie  be- 
zeichnet werden. 

Da  jedoch  vorher,  als  von  der  „Form"  der  Objekts- 
gefüge  des  Urteils  im  Gegensatz  zu  ihrer  „Materie"  die  Rede 
war  (ob.  S.  38),  von  dem  Begriff  der  „Form"  bereits  ein  an- 
derer Gebrauch  gemacht  wurde,  so  ist  ausdrücklich  darauf 
hinzuweisen,  daß  seit  dem  Hineinspielen  des  Kantischen  Be- 
griffs der  kategorialen  Form  ganz  verschiedene  Formbegrifle 
in  der  Logik  durcheinandergehen.  Die  „Form"  z.  B.  des 
Urteils,  des  Begriffs,  des  Schlusses  usw.  ist  ganz  etwas  an- 

f  deres  als  die  Form  im  Sinne  der  Kategorie.  Man  unter- 
scheidet beide  Formarten  am  besten  als  Strukturforra  und 
Gehaltsform.    Denn  bei  der  Kategorie  handelt  es  sich  nicht 


—     56     — 

um  die  die  Struktur  eines  Gefüges  ausmachende  Bezogen- 
heit  und  Gefügtheit  von  Elementen,  sondern  um  ein  Ele- 
ment selbst,  nämlich  um  das  logische  Element,  das  nur  in 
seiner  ganz  bestimmten  Situation  einem  andern  Element 
gegenüber,  nämlich  um  jener  ganz  eigentümlichen  Hinge- 
wiesenheit  und  Ergänzungsbedürftigkeit  willen,  „Form"  ge- 
nannt wird.  Eine  bestimmte  kategoriale  Einzelform,  wie 
Identität  oder  Kausalität,  bedeutet  also  einen  in  der  Form- 
stellung stehenden  bestimmten  logischen  Gehalt.  Sein  Form- 
charakter allerdings  stellt  eine  eigentümliche  Bezogenheit 
zwischen  Elementen  und  insofern  eine  eigentümliche  Struk- 
tur oder  Strukturform,  nämlich  die  für  das  der  Gegen- 
standsregion angehörende  logische  Urphänomen  charakte- 
ristische Strukturform,  also  die  logische  Urstruktur  dar,  im 
Unterschied  zu  den  komplizierteren  Strukturformen,  die  in 
der  Region  der  nichtgegenständlichen  sekundären  logischen 
Phänomene  herrschen.  So  deutet  der  Formcharakter  der 
Kategorie  auf  eine  besondere  Strukturform  hin.  Spricht 
man  aber  von  einer  Kategorie  oder  kategorialen  Form,  so 
meint  man  den  in  der  Formsituation  und  damit  in  dieser 
eigentümlichen  gegenständlich-logischen  Strukturform  ste- 
henden bestimmten  logischen  Gehalt,  also  mehr  als  eine 
bloße  Strukturform,  nämlich  diese  mitsamt  ihrer  logischen 
.,Materie",  d.  h.  mitsamt  eines  in  ihr  stehenden  bestimmten, 
beispielsweise  des  in  Identität  oder  Kausalität  steckenden, 
logischen  Bedeutungsgehalts.  Aus  diesem  Grunde  soll  die 
Kategorie  als  Gehaltsform  ausgezeichnet  werden. 

Damit  wird  der  Begriff  der  kategorialen  Form  zum 
Grundbegriff  der  gesamten  Logik.  Indem  nun  die  Unter- 
suchung der  Urteilsstruktur  unmittelbar  bis  zur  theoretischen 
Urgliederung  hingeführt  hat,  so  ist  darin  der  Beginn  des 
in  der  Einleitung  erwähnten  Versuchs  zu  erblicken,  die 
gesamte  theoretische  Sinnstruktui-  am  Urphänomen  theore- 


—       0/        

tischer  Struktur  einheitlich  zu  orientieren.  Sobald  einmal 
die  als  fundamental  erkannte  Form-Material-Duplizität  in 
der  theoretischen  Philosophie  aus  ihrer  Isolierung  befreit 
wird,  muß  in  der  Tat  der  Entwurf  einer  absolut  einheit- 
lichen Logik  vorschweben,  in  der  nur  ein  einziges  theoretisches 
Phänomen  als  ursprünglich  anerkannt  wird,  alle  übrigen 
logischen  Erscheinungen  dagegen,  und  so  auch  die  Urteils- 
struktur, irgendwie  als  Derivate  und  Komplikationen  des 
Grundphänomens  zu  begreifen  sind. 

"Wenn  so  die  Gespaltenheit  in  Kategorie  und  Katego- 
rienmaterial zu  höchst  bestimmend  für  das  theoretische 
Gebiet  wird,  so  ergibt  sich  daraus  auch  eindeutig  der  eigent- 
liche transzententallogische  und  urteilsjenseitige  Urbegriff 
des  Erkennens,  aus  dem  sich  nunmehr  das  Subjekt-Prädi- 
katsverhältnis wird  entnehmen  lassen  müssen.  Ist  Erkennen 
die  spezifisch-theoretische  Subjektsaktivität,  so  ist  seine  Auf- 
gabe darin  beschlossen,  jegliches  Etwas  als  ein  Kategorien- 
material und  d.  h.  in  seiner  Betroffenheit  durch  logische 
oder  kategoriale  Form  aufzusuchen.  Schon  liegen  ja  die 
mannigfachsten  Ansätze  dazu  vor,  die  Eigenart  des  Erken- 
nens in  der  Bewältigung  eines  Erkenntnismaterials  durch 
kategoriale  Erkenntnisformen  zu  erblicken.  Erkennen  läuft 
in  der  Tat  darauf  hinaus,  ein  Material  in  die  Gewalt  des 
Logischen  zu  bringen,  ein  der  theoretischen  Objektivität 
Entblößtes  theoretisch  zu  objektivieren.  Ist  nun  einmal 
mit  dem  Theoretischen  als  solchem  der  Formcharakter  un- 
abtrennlich  verknüpft,  so  muß  mit  dem  spezifisch-theoreti- 
schen Verhalten,  also  mit  jeglichem,  mit  dem  systematisch 
vollendetsten  wie  mit  dem  tiüchtigsten  und  primitivsten  Er- 
kennen, mag  man  es  nun  Forschen,  Untersuchen,  Begreifen, 
Erklären  oder  Reflektieren,  Betrachten,  Nachdenken,  Er- 
gründen, Grübeln,  Sichbesinnen,  empirisches  oder  philoso- 
phisches Wissen  nennen,   eine  wenn  auch  noch  so  summa- 


—     58     — 

rische  Umklammerung  eines  Materials  durch  kategoriale 
Form  dem  Sinn  nach  solidarisch  sein,  ganz  gleich,  ob  nun 
diese  Sachlage  in  Worten  ihren  adäquaten  Ausdruck  findet 
oder  nicht ^.  Durch  das  Erkennen  wird  die  logische  „Ma- 
terie", das  „Chaos"  in  logischer  Hinsicht,  in  ein  formgepräg- 
tes Ganzes  umgewandelt,  das  logisch  Dunkle  in  rationale 
Klarheit  hineingestellt.  Was  Kant  für  das  sinnlich-an- 
schauliche Gebiet  gezeigt  hat,  wie  sich  dort  ein  „Gewühl" 
von  Empfindungen  zu  einer  kategorial  disziplinierten  Welt 
von  Dingen  und  Geschehnissen  erhöht,  das  ist  auf  die  Ge- 
samtheit der  theoretisch  unberührten  Inhaltlichkeit,  insbe- 
sondere auf  das  philosophische  Erkenntnismaterial,  auszu- 
dehnen. Dadurch  erst  wird  der  durch  Kants  transzenden- 
tallogischen Formbegriff  bestimmte  Ürbegrifi'  des  Erkennens 
in  seiner  wahren  Einheitlichkeit  und  Weite  zur  Anerkennung 
gebracht  ^. 

Bei  diesem  Erkenntnisbegriff  nimmt  nun  das  in  der 
kategorialen  Form  stehende  Material  die  Stellung  von  etwas 
ein,  was  auch  unabhängig  von  kategorialer  Umschlossenheit 
als  kategorial  unbetroffen  vorkommen  und  demgemäß  einem 
theoretisch  unberührten  „unmittelbaren  Erleben"  zugänglich 
sein  kann.  Mit  dem  Erkennen  verbindet  sich  einzig  und 
allein  der  Hinzutritt  logischer  Form  zur  logisch  amorphen 
Materialsmasse.  Das  Material  ist  darum  für  das  Erkennen 
das  Zugrundeliegende,  das  ihm  „Gegebene",  die  Unterlage 
des  Erkennens,  das,  woran  es  seine  Leistung  zu  verrichten 
hat.  Die  Kategorie  dagegen  stellt  den  bloßen  logischen 
Zusatz,  das  zum  materialen  Substrat  Hinzutretende  dar. 
Das  wahre  „Subjekt"  ist  mithin  das  Material,  das  wahre 
„Prädikat"    —    die   „Kategorie"!    Erkennen    ist    logisches 

'  Vgl.  Log.  (1.  Philos.,  80  ft'.,  88  f.,  182. 

*  Das   zu    zeigen,    ist   die   Grundabsicht   meiner  Schrift   Log.   d. 
/    Philos. 


—     59     — 

Bestimmen,  logisches  Registrieren  und  Charakterisieren,  ist 
Ausstatten  des  logisch  Nackten  mit  kategorialen  Prädikaten. 
Indem  das  Erkennen  das  Material  in  die  kategorialen  Be- 
stimmungen hineinstellt,  in  denen  es  an  sich  steht,  ihm  die 
theoretische  Weihe  zuerteilt,  die  ihm  gebührt,  es  mit  den 
ihm  zustehenden  kategorialen  Epitheta  legitimiert,  legt  es 
dem  Subjekt  das  ihm  „zukommende"  Prädikat  bei.  Kate- 
gorie und  Kategorienmaterial  und  nichts  anderes  sind  in 
letzter  Linie  die  Elemente,  die  in  den  Urteilsgefügen  ein- 
ander „zukommen"  und  nicht  zukommen.  Das  Material 
ist  das,  -worum  oder  worüber  gewußt  wird,  die  Kate- 
gorie das,  was  das  Erkennen  darüber  weiß  und  „auszu- 
sagen" hat.  Das  in  Angriff  zu  nehmende  Material  bildet 
die  zu  bearbeitende  „Materie",  den  „Stoff",  an  dem  die 
Erkenntnisaufgabe  bewährt  werden  soll,  gibt  das  „Sujet" 
ab ;  der  darauf  angewandte  kategoriale  Apparat  enthält  die 
eigentliche  Durchführung  und  Leistung  dieser  Aufgabe  ^ 
.  Damit  sind  die  Bedingungen  erfüllt,   die  früher  gefor- 

(     dert  wurden.     Das  Erkennen  läßt  sich  seinem  "Wesen  und 
\    der  Sache  nach  als  ein  Prädizieren  auffassen,  als  ein  Prä- 
\  dizieren  des  kategorialen  Prädikats  vom  materialen  Subjekt. 
j  Hier  ist  eine  wirklich  deduzierbare,  aus  dem  theoretischen 
^^    \    Grundphänomen    ableitbare   Zweigliedrigkeit    des    theoreti- 
■^^^^  j   sehen  Strukturbestandes  nachgewiesen  und  daraus  auch  die 
^     I    Einsicht  in  die  Einsinnigkeit  des  Subjekt-Prädikatsverhält- 
j    nisses,    in  die  Unvertauschbarkeit   der  beiden  Glieder,    ge- 
V  Wonnen. 

Daß  sich  aber  auch  in  jedem  Einzelfalle  der  Aussage 
die  beiden  Strukturbestandteile,  die  sich  aus  dem  Wesen 
des  Erkennens  überhaupt  ergaben,  fraglos  müssen  antreffen 


1  Im  Hinblick  auf  die  darauf  zu  gründende  Prädikatstheorie 
wurde  die  Form-Material-Duplizität  bereits  in  der  ,Log.  d.  Philos." 
dargestellt,  vgl.  bes.  69  ff. 


—     60     — 

lassen,  darüber  ist  gleichfalls  bereits  die  Entscheidung  ge- 
geben. Soll  in  irgend  einem  Einzelfall  eines  .,Aussagens'' 
oder  .,Urteilens"  mit  Recht  von  „Erkennen",  also  von  theo- 
retischem Verhalten,  die  Rede  gewesen  sein,  so  tritt  hier 
das  früher  erwähnte  Argument  in  Kraft,  daß  dann  ganz 
unabhängig  von  der  Angelegenheit  des  sprachlichen  Aus- 
drucks dem  „Sinn"  und  der  Sache  nach  eine  theoretische 
Kategorialform  vorliegen  muß.  Mit  dem  Erkennen  ist  die 
Kategorie  solidarisch  verknüpft  (vgl.  ob.  S.  57/58).  So  wahr 
aber  Form  vorliegt,  bedarf  sie  um  ihrer  Ergänzungsbedürf- 
tigkeit willen  der  inhaltlichen  Erfüllung.  Mit  dem  einen 
Strukturelement  ist  das  andere  und  damit  das  ganze  Ge- 
füge eindeutig  festgelegt.  Freilich  sind  hier  Kategorien- 
material wie  kategoriale  Form  in  ihrem  ganzen  Umfang  zu 
nehmen  und  nicht  auf  die  sinnlich-anschauliche  Sphäre 
einzuschränken.  Andernfalls  wäre  es  gewiß  ein  Leichtes, 
unter  Hinweis  auf  philosophischen  Aussagebestand  die  Un- 
zulänglichkeit der  auf  die  Form-Material-Duplizität  gestütz- 
ten Prädikationstheorie  zu  erweisen.  Die  Erweiterung  der 
kategorialen  Form  über  das  sinnlich-anschauliche  Anwen- 
dungsgebiet hinaus  erweist  sich  als  eine  notwendige  Voraus- 
setzung und  Stütze  für  die  hier  aufgestellte  Prädikations- 
theorie. Umgekehrt  gilt:  wer  diese  Prädikationstheorie 
akzeptiert,  muß,  da  auch  die  Sätze  des  philosophischen  Er- 
kennens  sich  nach  Subjekt  und  Prädikat  gliedern,  die  Struk- 
turspaltung in  Kategorie  und  Kategorienmaterial  auch  für 
das  philosophische  Erkenntnisgebiet  zugeben. 

Es  ist  jedoch  mit  der  hier  vorgenommenen  Deutung 
zugleich  eine  gewisse  zunächst  vielleicht  bedenklich  erschei- 
nende Rangumkehrung  von  Subjekt  und  Prädikat  verbunden. 
Das  Zugrundeliegende,  die  breite  Basis,  der  Träger  der 
kategorialen  Form,  ist  die  Unterlage  zugleich  im  Sinne 
eines  den   logischen  Bestimmungen  Unterliegenden,   Unter- 


—     61     — 

stehenden,  Unterworfenen,  eines  „sujet"  in  diesem  Sinne. 
Und  die  dem  Subjekt  prädikativ  zukommende  Bestimmung 
ist  ein  Hinzukommendes  zugleich  im  Sinne  eines  Bestim- 
menden, Gepräge  Verleihenden.  Allein  zu  allen  Zeiten  in 
der  Greschichte  der  Logik  ist  das  Verhältnis  zwischen  Sub- 
jekt und  Prädikat  ein  in  dieser  Weise  labiles  gewesen. 
Zieht  man  die  zwischen  Allgemeinheit  und  Logizität  statt- 
habende Problemverschlingung  in  Rücksicht  \  so  kann  man 
sagen:  die  metaphysische  Prävalenz  des  Aristotelischen  sub- 
stanziellen  Einzelsubjekts  mußte  immer  wieder  —  und  be- 
reits bei  Aristoteles  selbst  —  der  logisch-metaphysischen 
Vorherrschaft  des  allgemeinen  Prädikats  weichen.  Daß  im 
Prädikat  das  allgemeine  und  darum  —  im  Sinne  dieser 
Problemverschlingung  —  das  einzig  logische  Moment,  der 
logische  Schwerpunkt  des  theoretischen  Gefüges  liegt  ^,  bringt 
von  Anfang  an  die  Subsumtionstheorie  des  Urteils  zum 
Ausdruck.  Auch  sie  nimmt  das  Subjekt  als  subjectum  zu- 
gleich im  Sinne  des  subsumtum,  im  Sinne  des  Untergeord- 
neten, und  sie  fühi't  dazu,  auf  Subjekt  und  Prädikat  das 
Alogische  und  das  Logische  zu  verteilen.  Urteilen  bedeu- 
tet nach  ihr  in  letzter  Linie  das  Hineinstellen  des  Unbe- 
grifflichen ins  Begriff'liche  ^.     Noch  näher  aber  kommt  der 


1  Vgl.  darüber  Log.  d.  Philos.,  78  f. 

^  Vgl.  auch  Trendelen  bürg,  Log.  Unters.,  II,  231/2 :  „In- 
dessen noch  im  Urteil  dieser  Art  ist  das  Prädikat,  welches  die  Tätig- 
keit darstellt,  der  Hauptbegriff  wie  die  vorwiegende  Betonung  das 
Prädikat  zur  lebendigen  Seele  des  Satzes  macht.  Wir  denken  in 
Prädikaten. " 

3  Geistreich,  wenn  auch,  soweit  ich  sehe,  aus  den  Platonischen 
Schriften  nicht  direkt  verifizierbar,  ist  die  Bemerkung  Apelts,  daß 
bei  Plato  die  Sinnenwelt  das  Subjekt,  die  Idee  das  allgemeine  Prä- 
dikat abgibt  und  die  Beziehung  zwischen  den  beiden  Welten  im  Ur- 
teil ihren  Ausdruck  findet,  s.  Apelt,  Metaphysik,  1857,  125,  vgL 
bereits  Fries,  Gesch.  d.  Philos.,  1837,  I,  370  tf.  und  0.  Apelt, 
Beitr.,  207. 


—     62     — 

kategoriallogischen  Prädikationslehre  die  transzendentale 
Anwendung  der  Subsumtionstheorie  bei  Kant.  Besteht  doch 
nach  ihm  die  Funktion  der  ,, Urteilskraft"  in  transzenden- 
taler Hinsicht  in  der  „Subsumtion"  des  sinnlich-anschau- 
lichen Materials  unter  die  kategorialen  Verstandesbegriffe, 
so  daß  die  Kategorien  als  die  transzendentalen  Prädikate 
erscheinen  ^ 

Allein,  es  läßt  sich  historisch  noch  ein  Schritt  weiter 
gehen  und  feststellen,  daß  die  hier  unternommene  katego- 
riallogische  Prädikationstheorie  schließlich  der  Kategorie 
die  ursprüngliche,  die  ihr  von  Aristoteles  zugedachte  Funk- 
tion wieder  zuweist.  Denn  wenn  auch  bei  Aristoteles  zwei- 
fellos innerhalb  der  Kategorienreihe  sich  die  übrigen  Kate- 
gorien zur  Substanz  wie  Prädikate  zum  Subjekt  verhalten, 
so  nehmen  doch  die  Kategorien  insgesamt  und  unterschieds- 
los die  Stellung  von  xaty^Yopoufjieva,  von  Prädikaten  des 
Seienden,  von  höchsten  und  geborenen  Prädikaten,  ein  -. 
Man  kann  dies  Hinausgehen  über  die  bloße  Gegenüber- 
stellung von  Substanz  und  Akzidenz  so  deuten,  daß  zu 
dieser  einen  Auseinanderhaltung  von  Subjekt  und  Prädikat 
sich  noch  eine  weitere  Auflösung  hinzugesellt.  Dann  muß 
auch  das  in  letzter  Linie  nur  relative  Subjekt,  die  Substanz 
(o{ja:a),  sich  in  ein  substanzielles  Subjekt  {xioe  xi)  und  in 
ein   substanzielles   kategoriales   Prädikat   (zi  eaxiv)    spalten 

>  Kr.  d.  r.  V.  B  170  tt".,  Kr.  d.  Urteilskr.  Einl.  IV.  Aber  auch 
Kants  allgemeine,  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ß  93  f.  angedeu- 
tete Subsumtionstheorie  des  Urteils  tritt,  wie  hier  nicht  genauer 
belegt  werden  soll,  von  vornherein  in  einer  transzendentallogischen 
Umbiegung  auf,  wie  denn  Kant  überhaupt  Begriff,  Urteil  und  Schluß 
gegenständlich-transzendentale  Korrelate  entsprechen  zu  lassen  be- 
müht ist. 

*  S.  die  Stelleu  bei  Bonitz,  Index  377  1".,  dazu  an.  post.  1,22. 
83a  18  tf.,  Trendelenburg  4  ff.,  19,  Brentano  102  ff.,  113  ff., 
Schuppe,  D.  Ar.  Kat.,  40  ff.,  M  a  i  e  r  11  b,  318  ff.,  A  p  e  1 1 ,  124  ff.. 
132  ff.,  138  ff. 


—     63     — 

lassen  ^  So  ergibt  sich  eine  Lehre  von  einem  metagram- 
matisch gefaßten  Stufenbau  prädikativer  Bestimmung.  Das 
kategorial  ganz  unbestimmte  Seiende  ist  absolutes  Subjekt 
im  Verhältnis  zu  sämtlichen,  das  substanziell  bestimmte 
Seiende  relatives  Subjekt  im  Verhältnis  zu  den  übrigen 
kategorialen  Bestimmungen  2.  Die  auf  die  Gliederung  nach 
Substanz  und  Akzidenz  aufgebaute  Theorie  aber  würde  da- 
durch den  Charakter  einer  nur  vorläufigen  und  relativen 
Bestimmung  von  Subjekt  und  Prädikat  erhalten. 

Es  muß  hier  jedoch  wieder  daran  erinnert  werden,  daß 
für  Aristoteles  die  gegenständlich-kategorialen  Momente 
metalogischer  Natur  sind.  Wenn  früher  bemerkt  wurde, 
daß  es  für  die  vorkopernikanische  Auffassung  unstatthaft 
ist,  die  theoretischen  Aussagebestandteile  nach  der  Gliede- 
rung der  gegenständlichen  Region  zu  bestimmen  (ob.  S.  52  f.), 
so  ist  jetzt  ersichtlich,  daß  solches  von  ihr  dennoch  geübte 
Verfahren  wider  den  Geist  der  dort  herrschenden  erkennt- 
nistheoretischen Grundauffassung  heimlich  durch  die  Gewalt 
der  Sache  geleitet  wird.  Nur  aus  diesem  Grunde  vermag 
bereits  die  vorkantische  Kategorienlehre  bestimmend  in  die 
logische  Strukturlehre  hineinzuragen.  Und  man  darf  dar- 
über nicht  vergessen,  daß  in  ihr  die  Kategorien  gerade  um 
ihrer  Gegenständlichkeit  willen  eine  metalogische  Bedeu- 
tung haben,  dagegen  alle  logischen  Phänomene  die  Gegen- 
ständlichkeit höchstens   zu   spiegeln  vermögen.     Erst  Kant 

'  Vgl.  Apelt,  143. 

-  Einige  Aristotelisclie  Stellen  verführen  geradezu,  das  kategorial 
unbestimmte  und  bestimmbare  Seiende  für  die  Materie  zu  halten. 
So  wird  Met.  VI,  4,  1029  a  20  ff',  geradezu  gesagt,  daß  die  übrigen 
Kategorien  von  der  Substanz  prädiziert  werden,  diese  aber  von  der 
Materie.  Vgl.  dazu  1028  b  36  f.  über  das  uTtoxsi|j.evov  aller  Prädika- 
tion und  1049  a  25  (falls  hier  die  Lesart  xax'  äXXo-j  richtig  ist).  Da- 
zu P  ran  tl  I.  188  Anm.  308,  dagegen  Schuppe,  19  f..  Maier  IIb, 
308/9  Anm.  Ueber  das  'j7ioxsi|i£vov  im  Sinne  der  qualitätslosen  Ma- 
terie als  Subjekt  bei  der  Stoa  s.  P  r  a  n  1 1  I,  429  f. 


—     64     — 

hat  die  Kategorien  zu  ,,Verstandes'--Formen  gemacht,  sie 
aus  der  Metaphysik  in  die  Logik  hinübergenonimen.  Darauf 
beruht  im  Grunde  der  tiefste  Abstand  zwischen  der  Ari- 
stotelischen und  der  Kantischen  Kategorienlehre.  Gegen- 
ständliche Kategorien  und  logische  Formen  gab  es  vor 
Kant,  aber  nicht,  daß  die  gegenständlichen  Kategorien 
selbst  als  logische  Formen  galten.  Unter  diesem  Gesichts- 
punkt fehlt  der  Kategorienlehre  eine  einheitliche  Entwick- 
lung ;  vielmehr  bei  Kant  angelangt,  begeht  sie  auf  einmal 
eine  [iciapiaj::  eic.  aAAo  yevo:.  Erst  der  als  logisch  gedach- 
ten Kategorie  im  Sinne  Kants  darf  mit  Fug  die  logische 
Mission  des  Prädikats  zugewiesen  werden.  — 

Es  liegt,  wie  bereits  einmal  bemerkt  worden  ist  (ob. 
S.  51/52),  im  Wesen  jeder  metagrammatischen  Prädikations- 
theorie, daß  die  von  ihr  erkannte  Urgliederung  der  Struk- 
tur durch  den  psychologisch-grammatisch  sich  gliedernden 
Aussagebestand  schrankenlos  durchkreuzt  und  verwischt 
wird.  Eben  daraus  wird  verständlich,  daß  die  herkömm- 
lichen Subjekts-  und  Prädikatstheorien  gewöhnlich  nur  eine 
den  wahren  logischen  Struktureinschnitt  verdeckende  Zer- 
legung der  Bestandteile  vorzunehmen  in  der  Lage  sind  und 
daß  mit  ihrem  Subjekt  und  ihrem  Prädikat  sich  nur  ge- 
legentlich und  zufällig  die  wahren  Bestandteile  des  Sinnes 
decken  können.  Es  bedarf  deshalb  fortwährend  einer  üeber- 
tragung  der  psychologisch-grammatischen  Interpretation  in 
die  Sprache  der  metagrammatischen  Theorie.  Immer  gilt 
es  dabei,  in  jedem  tatsächlichen  Aussagebestand  den  Typus 
des  aus  Kategorie  und  Kategorienmaterial  sich  zusammen- 
setzenden Gefüges  hervortreten  zu  lassen.  Bei  dieser  Um- 
formung kann  zunächst  einmal  mit  der  Fiktion  operiert 
werden,  daß  die  katogorialen  und  die  materialen  Bestand- 
teile sich  in  einer  schematisch  vereinfachten  Verteilung 
antreffen  lassen,    d.  h.  es  kann    von  der  Zusammengesetzt- 


—     65     — 

heit  oder  dem  „Begriffs "-Charakter  der  Aussageelemente, 
also  von  jener  früher  (S.  49  f.)  erwähnten  Angelegenheit  einer 
Auflösbarkeit  in  letzte,  unzusammengesetzte  Bestandteile, 
vorläufig  noch  abgesehen  vrerden. 

In  den  Gefügen  „a  ist  verschieden  von  b"  oder  „a  ist 
Ursache  von  b"  nimmt  nach  der  grammatisch  orientierten 
THeorie'aTHie  Subjekts-  und  verschieden  von  b  sein,  Ur- 
sache von  b  sein  die  Prädikatsstellung  ein.  Die  wahre 
Gruppierung  jedoch  verlangt,  das  Material,  also  a  und  b, 
auf  der  einen  Seite  zusammenzunehmen  und  die  kategoriale 
Form,  also  Verschiedenheit,  Ursächlichkeit,  auf  die  andere 
Seite  zu  schlagen.  Dem  —  durch  die  sprachliche  Formu- 
lierung verborgenen  —  logischen  Sinn  nach  wird  vom 
Kategorienmaterial  a,  b  das  Stehen  in  der  kategorialen 
Form,  in  der  „Relation"  Verschiedenheit  oder  Kausalität, 
als  ihm  „zukommend"  ausgesagt.  Zuweilen  fallen  freilich 
Subjekt  und  Prädikat  nach  der  grammatisierenden  und 
nach  der  wahren  Gliederung  zusammen.  In  solchen  Sätzen 
nämlich  wie:  a  existiert,  a  gilt,  aist  identisch  (mit  sich).  Hier 
stimmt  zufällig  das  grammatische  Prädikat  mit  dem  echten 
Prädikat,  mit  der  Kategorie  Existenz,  Gelten,  Identität 
überein.  Hier  verbindet  in  der  Tat  die  Kopula,  die  Ur- 
teilssynthese, die  Urteilsrelation,  die  in  Wahrheit  zu  kopu- 
lierenden Glieder:  Kategorie  und  Kategorienmaterial.  Diese 
günstigen  Sonderfälle  werden  dem  Umstand  verdankt,  daß 
in  ihnen  die  Kategorie  ausnahmsweise  nicht  Relation  ist  '. 
In  diesem  Falle,  wenn  nämlich  das  Kategorienmaterial  ein- 
gliedrig ist,  macht  auch  die  grammatisierende  Theorie  das 
ganze  Kategorienmaterial  zum  einen  Urteilsglied,  zum  Sub- 
jekt. Wenn  jedoch  die  Kategorie  relationsartig,  das  Kate- 
gorienmaterial mithin  zweigliedrig  ist,  pflegt  die  gramma- 
tisch orientierte  Theorie   die  kategoriale  Relation   und  die 

'  Als  „ Gebietskategorie "  nämlich,  vgl.  Log.  d.  Philos.,  70  f. 

L  a  8  k ,  Lehre  vom  Urteil.  5 


—     66     — 

Subjekt  und  Prädikat  kopulierende  Urteilsrelation  mitein- 
ander zu  verquicken.  Xicht,  wie  erforderlich  wäre,  das 
ganze  Kategorienmaterial  (im  Beispiel :  a,  b),  sondern  nur 
das  eine  Glied  der  kategorialen  Relation  (a),  macht  sie 
zum  Subjekt,  zum  einen  Glied  der  kopulierenden  Synthese. 
Das  andere  Glied  der  kategorialen  Relation  (b)  amalgamiert 
sie  mit  dieser  Kategorie  selbst  (im  Beispiel:  Verschieden- 
heit, Ursache)  zum  zweiten  Relationsglied  der  Kopulation, 
zum  Prädikat.  Der  dabei  begangene  Fehler  besteht  somit 
nicht  in  einer  einfachen  Gleichsetzung,  sondern  nur  in  einer 
partiellen  Durcheiuanderschiebung  von  kategorialer  und 
kopulierender  Relation.  In  Wahrheit  findet  die  kopulie- 
rende Relation  stets  zwischen  Kategorienmaterial  und  kate- 
gorialer Form  statt.  Ist  nun  die  kategoriale  Form  eine 
Relation,  so  besteht  sie  in  einer  Relation  zwischen  Kate- 
gorienmaterial und  kategorialer  Relation.  Sprachlich  läßt 
sich  der  wahre  Sachverhalt  stets  durch  eine  Umformung 
zum  Ausdruck  bringen,  in  der  genau  wie  im  Existential- 
satz  die  Kategorie  auch  zum  grammatischen  Prädikat  ge- 
macht wird,  also  etwa  durch  die  Formulierung:  a  und  b 
stehen  im  Kausalverhältnis.  So  entspricht  in  den  ver- 
schiedenen Fällen,  in  denen  die  Kategorie  entweder  re- 
lationsartig ist  oder  nicht,  dem,  was  in  grammatischer  Hin- 
sicht gleichmäßig  Prädikat  ist,  in  logischer  Hinsicht  etwas 
ganz  Verschiedenes,  und  umgekehrt  erhält  dabei  das  logisch 
Gleichartige  einen  ganz  verschiedenen  grammatischen  Aus- 
druck. 

Dieser  Korrektur  des  grammatisierenden  Verfahrens 
liegt  lediglich  das  Hauptargument  aller  metagrammatischen 
Theorien  zugrunde,  wonach  der  Struktureinschnitt,  wenn 
doch  nun  einmal  überhaupt  eine  Gegliedertheit  und  Gefügt- 
heit  vorliegt,  sich  in  letzter  Linie  allein  nach  den  sachlich 
relevanten  Unterschieden  bestimmen  kann. 


—     67     — 

Läßt  man  es  jedoch  bei  der  soeben  absichtlich  vor- 
genommenen schematischen  Vereinfachung  sein  Bewenden 
haben,  so  ist  diese  ganze  Prädikationstheorie  vorläufig  noch 
den  einfachsten  Einwänden  schutzlos  ausgesetzt.  Wenn 
man  nämlich  auch,  der  hier  aufgestellten  Forderung  ge- 
horchend, das  theoretische  Gefüge  nach  seinen  formalen 
und  materialen  Bestandteilen  auseinander  zu  wirren  sucht, 
so  wird  man  noch  garnicht  imstande  sein,  im  tatsächlichen 
Aussagebestand  sich  zurechtzufinden.  Denn  niemals  lassen 
sich  nach  vorgenommener  Zerlegung  die  echten  Urbestand- 
teile  in  so  einfach  angeordneter  Verteilung  herausfinden, 
wie  vorher  angenommen  wurde.  Niemals  wird  ein  gram- 
matisches Subjekt  (wie  a  in  den  obigen  Beispielen)  bloßes 
kategorial  unbetrofifenes  Material  enthalten.  Es  muß  darum 
zunächst  der  Anschein  entstehen,  als  ob  die  Einteilung 
nach  Kategorie  und  Kategorienmaterial  garnicht  zur  Be- 
wältigung des  tatsächlichen  Befundes  ausreicht. 

Um  die  letzten  Bedenken  zu  beheben,  muß  jetzt  noch 
die  vorher  (S.  49  f.)  besprochene  Auflösbarkeit  der  zusammen- 
gesetzten Gefüge  in  ihre  einfachsten  Bestandteile  hinzu- 
treten. Denn  die  vorläufig  noch  bestehende  Unbeherrsch- 
barkeit  des  tatsächlichen  Aussagegefüges  hat  ihren  Grund 
darin,  daß  man  beim  Versuch  einer  Zerlegung  in  Kate- 
gorie und  Kategorienmaterial  zwar  wohl  auf  die  isolier- 
baren und  auf  die  eine  Seite  sich  bringen  lassenden  kate- 
gorialen  Prädikate,  niemals  aber  auf  die  ebenso  isolierbaren 
ürsubjekte,  auf  bloßes  kategorial  unbetroffenes  Material, 
stößt.  An  Stelle  logisch  nackten  Materials  finden  sich  viel- 
mehr als  gesonderte  Aussagebestandteile  immer  nur  „Be- 
griffe" vor.  Doch  dieser  Umstand  bedeutet  eben  nichts 
anderes  als  die  Aufforderung,  auf  diese  „Begriffe",  auf  das 
als  begriffen  Niedergelegte,  auf  diese  festgewordenen  Pro- 
dukte   ehemaligen   Aussagens,    nach    der   früher    im   allge- 

5* 


—     68     - 

meinen  erörterten  Auflösungstendenz  dieselbe  Scheidung 
wie  auf  die  Aussagegefüge  überhaupt,  und  d.  h.  die  Zer- 
legung in  Kategorie  und  Kategorienmaterial,  anzuwenden. 
Stellt  man  sich  auf  den  Standpunkt  der  konsequenten 
Auflösungstheorie,  so  kann  man  in  der  Tatsache,  daß  im 
Aussagebestand  sich  niemals  bloßes  kategorial  unbetroffenes 
Material  vorfindet,  in  letzter  Linie  wieder  nur  eine  ledig- 
lich psychologisch-grammatische  Angelegenheit  finden.  Sie 
scheint  sich  auf  den  ersten  Anblick  nur  so  deuten  zu  lassen, 
daß  die  primitivsten,  vom  materialen  Ursubjekt  prädizie- 
renden  Aussagen  sich  nicht  in  ihrem  ausdrücklichen  Voll- 
züge, sondern  immer  nur  im  Zustande  der  Abgeschlossen- 
heit und  „Begriffenheit"  antreffen  lassen.  Denn  daß  über- 
haupt in  diesen  „Begriffen",  sofern  ja  in  ihnen  kategorial 
umgriffenes,  also  „begriffenes"  Material  steckt,  Prädikationen 
investiert  sind,  steht  außer  Zweifel.  Liegt  doch  nun  ein- 
mal hier  ein  Material  vor,  dem  irgendwie  kategoriale  Be- 
stimmungen zudiktiert  sind.  Bezeichnet  man  ein  solches 
mit  einem  Minimum  kategorialer  Form  bereits  umschlosse- 
nes Material  als  Urbegriff,  so  kann  man  sagen:  es  fungie- 
ren als  Aussageelemente  niemals  bloße  Materialsstücke, 
sondern  mindestens  stets  Urbegrifi'e.  Um  sich  also  der 
Unmöglichkeit  des  Auftretens  von  bloßem  Material  in  der 
Rolle  des  Subjekts  zu  vergewissern,  darf  man  sich  nicht 
beispielsweise  auf  zusammengesetzte  Ding-  oder  Geschehens- 
begriffe berufen.  Denn  was  hier  im  Stadium  des  Begriffs 
zusammengedrängt  vorliegt,  läßt  sich  immer  noch  in  eine 
Reihe  von  Aussagen  auflösen.  Man  muß  vielmehr  bis  zu 
den  einfachsten,  garnicht  mehr  kategorienhaltigen,  pures 
Material  repräsentierenden  Inhalten  zurückgehen  und  sich 
die  reinen  Fälle  eines  Ursubjekts  zu  konstruieren  suchen, 
wie  sie  etwa  durch  Sätze  wie  „es  gibt  rot  (=  rot  existiert)", 
„es  donnert  (=  Donnern  geschieht)"  angedeutet  sein  mögen. 


—     69     — 

Von  diesen  Fällen  ist  dann  einzusehen,  daß  sogar  sie  nicht 
logisch  nacktes  sinnlich-anschauliches  Impressionsmaterial 
als  Subjekt  aufweisen,  vielmehr  auch  in  diesen  extremen 
Fällen,  was  hier  freilich  nicht  genauer  auszuführen  ist,  im 
Subjekt  das  ürmaterial  schon  irgendwie  kategorial  umhüllt 
vorliegt,  immer  irgend  eine  logische  Form  dabei  sich  vor- 
drängt. 

Diese  ganze  Sachlage  i^t  nun  zuzugeben,  erschüttert 
aber  nicht  im  mindesten  die  hier  vertretene  Prädikations- 
theorie. Zunächst  würde  sich  ja  jetzt  lediglich  die  Hin- 
sicht genauer  bestimmen  lassen,  in  der  es  von  bloß  psycho- 
logisch-grammatischer Relevanz  sein  soll,  wenn  im  Aus- 
sagegefüge  nie  materiale  Ursubjekte,  sondern  höchstens 
ürbegriffe  auftreten.  Der  Sache  nach  ist  eben  schon  das 
Zustandekommen  der  Ürbegriffe  als  Prädikationsleistung 
des  Erkennens  anzusehen.  Vergleicht  man  den  Bestand 
von  Urbegriffen  beispielsweise  mit  dem,  was  beim  bloß  im- 
pressionalen  sinnlichen  Erleben  vorliegt,  so  erweist  er  sich 
bereits  als  Ergebnis  theoretischer  Prädikationsfunktion.  Nur 
zu  dem  Zugeständnis  wäre  man  eventuell  genötigt,  daß 
alles  Aussagen  im  psychologisch  -  grammatischen  Stadium 
der  Aktualität  immer  bereits  die  fixierten  Produkte  der 
urbegrifflichen  Prädikation  als  Unterlage  voraussetzt. 

Allein  als  Unterlage  in  welchem  Sinne?  Sollen  die 
urbegrifflichen  Gefüge  als  Subjekte  im  richtig  interpretier- 
ten Aussagebestand ,  also  als  das  dort  durch  das  kate- 
goriale  Prädikat  geforderte  Korrelat,  angesehen  werden? 
Beim  Aufwerfen  dieser  Frage  bemerkt  man  sofort,  daß 
diese  Deutung  unstatthaft  wäre.  Die  im  Aussagebestand 
als  Prädikat  auftretende  Kategorie  fordert  als  Kategorie 
eindeutig  und  fraglos  das,  worauf  sie  in  ihrer  Formartig- 
keit hinweist,  somit  ein  Material  und  nichts  als  ein  Mate- 
rial.    Nicht    der  ganze  ürbegriff,    das  ganze  urbegriffliche 


—     70     — 

Form-Material- Gefüge,  sondern  an  ihm  lediglich  sein  ma- 
terialer Bestand,  kann  im  Aussagegefüge  das  Subjekt  der 
Kategorie  repräsentieren.  Es  kann  sich  darum  garnicht 
anders  verhalten,  als  so,  daß  das  im  Urbegriff  enthaltene 
Material  nach  zwei  Seiten  hin  als  Subjekt  fungiert.  Ein- 
mal gegenüber  der  Kategorie,  die  es  innerhalb  des  ürbe- 
griffs  vom  bloßen  Material  zum  Begriff  erhöht  hat,  und 
sodann  gegenüber  der  in  der  Aussage  ihm  zuerteilten  Ka- 
tegorie. Genauer  ausgedrückt:  am  materialen  Bestand  des 
Urbegriffs  sind  gewisse  Momente  für  die  Zuerteilung  der 
einen,  gewisse  für  die  der  andern  Kategorie  bestimmend.  Also 
keineswegs  ist  das  urbegrifiliche  Form-Material-Gefüge  Sub- 
jekt für  das  Prädikat  des  aktuellen  Aussagegefüges.  Viel- 
mehr es  liegen  zwei  Aussagegefüge  vor,  eins  im  Zustand 
der  Begriffenheit,  das  andere  in  dem  der  Aktualität.  Aus 
den  materialen  Subjekten  beider  setzt  sich  das  Gesamt- 
material des  Urbegriffs  zusammen,  das  somit  in  seiner  Ge- 
samtheit nach  der  einen  wie  nach  der  andern  Seite  einen 
überschüssigen  Teil  aufweist.  Von  der  Kategorie  aus  an- 
gesehen, stellt  sich  dies  so  dar,  daß  jede  der  beiden  Kate- 
gorien unbekümmert  um  die  konkurriende  Kategorie  auf 
das  Material  hinzielt. 

Was  hier  vom  Urbegriff  ausgemacht  wurde,  gilt  all- 
gemein für  alle  begrifflich  oder  kategorial  bereits  geformten 
Aussageelemente.  Es  mag  darum  derselbe  Sachverhalt  an- 
deutungsweise an  einem  etwas  zusammengesetzteren  Fall 
bestätigt  werden.  Wiederum  nämlich  läßt  sich  beispiels- 
weise nicht  bestreiten,  daß  in  einem  Kausalgefüge  nach 
Abzug  der  Kausalrelation  nicht  bloße  Materialsstücke,  son- 
dern höchstens  „Begriffe",  Dinge  und  Ereignisse,  also  ihrer- 
seits selbst  bereits  kategorial  geprägte  Bestände,  übrig 
bleiben.  Es  wird  nun  wiederum  das  Material  a,  b,  unge- 
achtet seiner  anderweitigen,    nämlich    „ begriff  lieh  "• -katego- 


—     71     — 

rialen,  also  etwa  dingartigen  Umschließung,  unmittelbar  von 
der  Kausalkategorie  betroffen.  Und  wiederum  wird  an 
diesem  Material  gewissen  Momenten  die  Ding-,  gewissen 
andern  die  Kausalkategorie  „zukommen".  Es  greift  die 
Kausalkategorie  gleichsam  durch  die  in  den  „Begriffen'^  a 
und  b  vorliegende  kategoriale  Umhüllung  der  Dinghaftig- 
keit  hindurch  und  schließt  am  a-  und  b-Material  lediglich 
das  dortige  Kausalmaterial  kausalartig  zusammen.  Das 
Material  und  folglich  das  Strukturkorrelat  der  Kausal- 
kategorie vermag  wiederum  nicht  ein  bereits  „begrifflich" 
geformtes,  sondern  nur  das  sinnlich  anschauliche  Urmaterial 
abzugeben. 

So  gibt  es  ganz  allgemein,  ungeachtet  aller  erdenklichen 
sonstigen  „begrifflichen",  kategorialen  Geprägtheit,  immer 
ein  bestimmtes  bloßes  Material  und  eine  bestimmte  Kategorie, 
die  sozusagen  im  Vordergründe  steht  und  worauf  allein 
im  Einzelfalle  der  aktuellen  Aussage  die  Kopulation  es 
abgesehen  hat.  In  jeder  Aussage  wird  ein  Teil  der  Er- 
kenntnisgegenstände als  bereits  „begriffen"  vorausgesetzt, 
d.  h.  es  wird  etwas  von  der  theoretischen  Gesamtaufgabe, 
also  von  der  kategorialen  Bewältigung  des  Materials,  als 
schon  geleistet  angesehen.  An  diesen  Ertrag  knüpft  jede 
Aussage  an  und  sucht  durch  einen  weiteren  Beitrag  die 
Arbeit  des  Erkennens  fortzusetzen.  Es  ist  der  tiefere  Sinn 
der  psychologisch  -  grammatischen  Prädikationstheorie,  daß 
sie  das  Geleistete  als  Ausgangspunkt  und  Unterbau  und 
darum  als  Subjekt,  die  Weiterführung  des  theoretischen 
Werkes  als  Prädikat  betrachtet. 

Es  soll  hier  nicht  untersucht  werden,  ob  die  Bestimmt- 
heit des  Materials  es  vielleicht  fordert,  eine  gewisse  Schich- 
tung, einen  Stufenbau  kategorialer  Form  nach  dem  Muster 
der  Einteilung  in  Substanz  und  Akzidenz ,  anzunehmen, 
wonach   beispielsweise    die    Kausalrelation   etwa    die  Ding- 


—     72     — 

relation  der  Sache  nach  voraussetzte.  Das  Bestehen  eines 
solchen  Aufbaus  würde  jedenfalls  die  hier  vertretene  Grund- 
anschauung nicht  umstürzen.  Das  Hindurchgreifen  der 
Kategorie  bis  zum  Material  hin  bliebe  unangefochten,  es 
fände  dann  eben  nur  nach  einer  sachlich  bestimmten  Ord- 
nung statt. 

So  läßt  sich  denn  auch  der  verwickeitere  Sachverhalt 
des  tatsächlichen  Aussagegefüges  von  der  hier  aufgestellten 
Prädikationstheorie  aus  einheitlich  bewältigen.  Was  nicht 
aus  bloßer  Form  und  aus  bloßem  Material  besteht,  darin 
sind  irgendwie  Form  -  Material  -  Gefüge  investiert.  Damit 
erweisen  sich  die  Aussagegefüge  als  in  jeder  Hinsicht  in 
die  beiden  ürglieder  der  Prädikation  auflösbar.  Der  gram- 
matisierenden  Theorie  mußte  diese  Interpretation  der  Be- 
griffe ebenso  fern  liegen,  wie  die  sachliche  Scheidung  der 
Elemente  überhaupt.  Daß  von  den  zusammengesetzteren 
Gliedern  gerade  auf  die  beiden  Ürglieder  zurückzugehen 
ist,  konnte  nicht  in  ihren  Gesichtskreis  treten. 

Durch  diese  metagrammatische  Prädikationstheorie  wer- 
den nicht  nur  die  Schranken  zwischen  Urteil  und  Begriff 
aufgehoben,  sondern  es  wird  auch  ermittelt,  worin  in  letzter 
Linie  die  Gebilde  bestehen,  die  in  beiden  gleichmäßig  ent- 
halten sind  ^  — 


'  Nachdem  diese  metagrammatische  Prädikatstheorie  vollständig 
ausgebildet  war,  ließen  sich  nachträglich  ganz  gelegentliche  und  ver- 
streute Spuren  von  ihr  bei  einzelnen  Logikern  entdecken.  So  heißt 
68  einmal  bei  Schuppe:  „Im  eigentlichen  logischen  Sinne  sind  die 
Data  das  Subjekt,  und  Prädikat  sind  diejenigen  Begriffe,  welche  sie 
in  ihr  eigentümliches  Verhältnis  zu  einander  stellen,  eben  das  Ver- 
hältnis, welches  die  Art  des  Aneignens  ausmacht,  als  identische  oder 
verschiedene  oder  ursächlich  verknüpfte,  die  Kategorie  im  eigent- 
lichen Sinne.  Die  Sprache  hat  diesen  Sachverhalt  nicht  zum  Aus- 
druck gebracht,  sondern  läßt  das  eine  der  beiden  so  Verknüpften 
Subjekt  und  das  andere  Prädikat  sein  .  .  .  .*  Erkth.  Log.,  98.  Allein 
zu  einer  darauf  aufgebauten  Prädikationstheorie   kommt  es   bei  ihm 


—     73     — 

Es  mag  verwunderlich   erscheinen,    daß  in  den  voran- 
gegangenen Ausführungen   die   Hineinarbeitung   der  Kate- 

nicht.  Daß  bei  Nivellierung  von  Begriff  und  Urteil  in  beiden  der 
gleiche  Urakt  eines  logischen  Bestimmens  des  Unbestimmten  steckt, 
deutet  Natorp  an,  s.  Grundlag.  d.  exakt.  Wftn.  II.  Kap.,  §  2—4, 
bes.  40  f.,  47,  Philos.  Propäd.^,  1909,  13  f.,  Philos.,  50  f.;  vgl.  über 
Natorp  auch  ob.  S.  49  Anm.  Auch  Ansätze  dazu,  mit  dieser  Prä- 
dikationstheorie die  Lehre  vom  Eingegliedertsein  primitiver,  als  „  Sub- 
strate" fungierender  Prädikationsgebilde  in  die  Gesamtgefüge  des 
Urteils  zu  verbinden,  finden  sich  vereinzelt  vor.  So  vertritt  Schleier- 
macher die  Ansicht,  daß  im  „primitiven  Urteil"  unmittelbar  „das 
ursprüngliche  Chaos",  „sofern  es  die  organischen  Affektionen  veran- 
laßt", das,  was  er  sonst  auch  „Stoff"  oder  „Materie"  nennt  —  vgl. 
Dialektik,  Beilage  E  XXIV  ff.,  §  185  ff.  —  Subjekt  ist.  Annäherungen 
daran  sieht  er  in  den  einfachsten  Impersonalien,  Dial.  §  304  ff.  mit 
d.  Anm.,  Beil.  E  LXXVII  ff.  Wie  denn  überhaupt  Schleiermacher 
die  Leistung  des  Erkennens  in  das  logische  Bestimmen  des  Chaos 
setzt  (vgl.  Dial.  §  108  ff'..  Beil.  E  XXIV  ff.)  und  auch  die  Gleichartig- 
keit von  Begriff  und  Urteil  in  dieser  Urleistung  erkennt,  vgl.  ob. 
S.  49  Anm.  Aehnlich  wie  Schleiermacher  findet  Trendelen- 
burg, L.  U.  II,  281  ff.  in  den  Impersonalien  die  Urform  des  Urteils 
und  den  „Keim  der  weiteren  Bildung".  Aus  der  „Fixierung"  dieser 
„ersten  Tätigkeit"  entstehen  die  Substanzbegriffe.  Gegenwärtig  ist 
besonders  Mai  er  auf  die  „primitivsten  Betätigungen  des  Urteils" 
zurückgegangen,  auf  solche,  die  nicht  „ihrerseits  in  ihren  Subjekten 
bereits  vollzogene  Erkenntnisvorstellungen  voraussetzen".  Bei  Maier 
findet  sich  die  im  Text  vertretene  Auffassung,  daß  die  „elementaren 
Urteile"  sich  „nicht  in  grammatisch  normalen  Sätzen  ausdrücken 
lassen",  „nicht  selbständig  vorkommen",  dagegen  in  den  „Substrat- 
urteilen" als  vollzogen  vorausgesetzt  zu  denken  sind,  sodaß  in  diesen 
zu  unterscheiden  ist  „zwischen  einem  Urteil,  welches  das  Substrat 
bildet  und  dem  Haupturteil,  das  sich  auf  dieser  Grundlage  erhebt". 
Das  führt  denn  auch  zu  der  Konsequenz,  als  Subjekt  des  elementaren 
Urteils  das  Material,  den  objektivierten  „Vorstellungsinhalt",  anzu- 
sehen. „Uebrigens  könnte  im  elementaren  Urteilsakt  recht  wohl  der 
Inhalt  der  aufzufassenden  Vorstellung  als  logisches  Subjekt  betrach- 
tet werden"  (163).  Von  da  aus  kommt  Maier  zur  Verwerfung  der 
einseitig  auf  die  „Substraturteile"  zugeschnittenen  Scheidung  in  Sub- 
jekt und  Prädikat.  Endlich  verbindet  er  mit  dieser  Darlegung  die 
Hineinarbeitung  der  Kantischen  Kategorienlehre  in  die  Urteilstheorie 
und  stellt  demgemäß  die  Leistung  des  Urteils  als  ein  Objektivieren 
durch  einen  kategorialen  Apparat  fest.     Psychologie  des  emotionalen 


—     74     — 

gorienlehre  in  die  ürteilstheorie  als  ein  Desiderat  erschien, 
während  es  doch  seit  Kant  geläutig  geworden  ist,  die  kate- 
gorialen  Formen  zum  mindesten  unter  dem  Kapitel  „Re- 
lation des  Urteils"  abzuhandeln.  So  wertvoll  es  nun  auch 
ist,  die  kategoriale  „Synthesis"  überhaupt  als  eine  in  das 
urteilende  Erkennen  eingegliederte  Funktion  hervorzuheben, 
so  bedarf  es  dagegen  einer  ausdrücklichen  Prüfung,  in  was 
für  einer  bestimmten  Beziehung  die  Kategorie  zur  Struktur 
des  Urteilsgefüges  stehen  soll.  Es  gibt  nämlich  Versuche, 
die  kategoriale  Relation  mit  der  kopulierenden  Urteilssyn- 
these, mit  der  Subjekt -Prädikats -Relation,  also  mit  der 
Struktur  des  Urteilsgefüges,  in  Eins  zu  setzen.  IVIindestens 
ganz  nahe  kommt  dieser  Auflfassung  bereits  Kant  selbst, 
wenn  er  das  objektiv  gültige  „Verhältnis"  der  im  Urteil 
„enthaltenen  Begriffe'-  in  die  transzendentale  Einheit  der 
Apperzeption  und  damit  in  die  kategoriale  Synthesis  ver- 
legt. Die  kategoriale  Relation  fällt  ihm  mit  der  Kopula, 
deren  Glieder  mit  den  im  Urteil  verbundenen  „Begriffen", 
also  mit  Subjekt  und  Prädikat,  zusammen.  Urteilsform 
und  Urteilsmaterie  nach  der  scholastischen  Abgrenzung 
decken  sich  mit  kategorialer  Form  und  Kategorienmaterie. 
Wie  denn  Kant  mit  dem  scholastischen  Terminus  „Form 
des  Urteils"  sich  einverstanden  erklärt  und  genau  das  da- 
mit Gemeinte  mit  der  Einheit  der  Apperzeption  gleichsetzt  ^ 
Bei  einer  solchen  Identifizierung  von  Kopula  und  katego- 
rialer Relation  sind  sodann  Theorien  denkbar,  die  das  Ver- 
hältnis zwischen  Subjekt  und  Prädikat   auf  gewisse  beson- 


Denkens,  1908,  147  ff.,  163  ff.,  170  ff.,  373  ff'.  Schließlich  sei  darauf 
hingewiesen,  daß  in  Rickert.s  Aufsatz  , Das  Eine,  die  Einheit  und 
die  Eins",  Logos  1911,  48,  sich  die  Bemerkung  findet,  daß  unter  Prä- 
dikat die  Form,  unter  Subjekt  der  Inhalt  zu  verstehen  ist  und  daß 
in  jedem  sprachlichen  Subjekt  bereits  eine  Verbindung  von  Form 
und  Inhalt  steckt. 

'  Kr.  d.  r.  V.  §  19  und  B  322,  vgl.  auch  Logik  §  18  ff.,  24. 


—      io     — 

dere  kategoriale  Bestimmungen  zu  reduzieren  suchen,  wie 
es  der  Sache  nach  z,  B.  die  Identitäts-  und  Subsumtions- 
theorien  des  Urteils  tun,  und  weiterhin  andere  Theorien, 
die  die  kopulative  Beziehung  als  so  vielgestaltig  annehmen, 
wie  die  kategoriale  Relation  sein  soll,  die  vermeintlich 
zwischen  Subjekt  und  Prädikat  statthat  i. 

Allein  dieser  ganzen  Auffassung  gegenüber  ist  daran 
zu  erinnern,  daß  in  die  kopulative  Verbundenheit  der  Aus- 
sagegefüge  keinerlei  bestimmter  Bedeutungsgehalt  und  so 
insbesondere  keinerlei  bestimmte  kategoriale  Gehaltsform 
hineinzulegen  ist,  die  Kopula  vielmehr  nichts  anderes  als 
jene  einförmige  Bezogenheit  darstellt,  die  sich  als  indiffe- 
rente Unterlage  des  eigentümhchen,  aber  überall  gleichen 
und  einförmigen  Zusammengehörens  und  Nichtzusammen- 
gehörens  der  Strukturelemente  erwiesen  hat  (vgl,  ob.  S.  36  f.). 
Die  Kategorien  und  also  auch  die  kategorialen  Relationen 
sind  unzweifelhaft  zu  den  zu  kopulierenden  Elementen 
zu  zählen.  Sie  sind  nicht  zur  „Form",  sondern  zur  „Ma- 
terie" in  der  Struktur  der  Urteilsobjekte  zu  rechnen.  "Wie 
sie  denn  auch  dementsprechend  der  urteilsjenseitigen  Gegen- 
standsregion angehören,  auf  der  sich  erst  durch  eine  be- 
sondere Strukturkomplikation  die  „Form"  der  Urteilsobjekte 
aufbaut.  Die  Strukturrelation  der  Urteilsgefüge  und  die 
kategorialen  Relationen  sind  somit  durch  die  fundamentale 
Kluft,  die  zwischen  den  beiden  Regionen  logischer  Phäno- 
mene besteht,  geschieden.  Doch  der  Nachweis  davon,  daß 
innerhalb  der  Aussagestruktur  die  Kategorien  nur  die  Rolle 
von  Elementen  spielen  können,  wird  im  zweiten  Kapitel 
fortgesetzt  werden. 

Sieht  man  aber  auch  ganz   von   dem  soeben  angedeu- 


»  So  z.B.  Lotze,  Logik,  1880S  59.  72  ff.,  565,571,  Schuppe, 
99  ff.,  Win  de  Ib  and,  Beitr.  z.  Lehre  v.  negat.  Urt.,  180  ff.,  185, 
V.  Syst.  d.  Kat.,  46. 


—  Tö- 
teten Argument  ab,  so  steht  und  fällt  die  der  Kategorie 
die  Kopulationsfunktion  zuerteilende  Theorie  außerdem  noch 
mit  der  ihr  eigentümlichen  Voraussetzung,  es  müsse  die  kate- 
goriale  Form  unbedingt  in  einer  „Synthesis",in  einer  Relation, 
bestehen.  Gibt  es  nämlich  nichtrelationsartige  Kategorien,  so 
kann  offenbar  nicht  der  Kategorie  als  solcher  die  Funktion 
der  Kopula  zugedacht  werden.  Vielmehr  muß  dann  deutlich 
zum  Vorschein  kommen,  daß  die  Kategorie  als  solche  und 
überhaupt  nicht  als  Verbindung,  sondern '  als  eines  der  zu 
verbindenden  Gnecler  tungiert.  Nun  arbeitet  aber  das  Er- 
kennen lort^lirend  mit  nichtrelationsartigen  Kategorien, 
von  denen  hier  nur  an  die  der  Existenz  erinnert  sei  ^.  Für 
die  sog.  „Existentialsätze"  läßt  sich  garnicht  leugnen,  daß 
in  ihnen  jedenfalls  die  kopulierende  Synthese  von  der  kate- 
gorialen  Form  verschieden  ist  und  die  Kategorie  zum  einen 
der  Elemente  gemacht  wird.  So  versagt  diese  Theorie  ge- 
rade in  den  Fällen,  in  denen  die  grammatische  Interpre- 
tation zufälhg  mit  der  richtigen  Deutung  zusammentrifft 
(vgl.  ob.  S.  65). 

Gerade  die  soviel  umstrittenen  Existentialurteile  sind 
nach  der  wahren  Prädikationstheorie  auf  das  einfachste  zu 
intei-pretieren  '^.  Freilich  muß  dabei  eingesehen  werden, 
daß  es  sich  auch  hier  um  das  Zusammengehören,  Einan- 
der-^Zukommen"  eines  materialen  Subjekts  und  eines  kate- 
gorialen  Prädikats  handelt.  Dazu  aber  ist  vor  allem  er- 
forderlich,   daß    das    „Existieren''    als    gegensatz-jenseitige 


'  Vgl.  über  diese  nichtrelationsartigen  , Gebietskategorien "  Log. 
d.  Phil ,  70  f. 

-  Die  Kategorie  Existenz   oder   Realität    existiert   freilich  selbst 
\      nicht,  d.  h.  sie  gehört  nicht  den  sinnlich-anschaulichen  Inhalten  an. 
I     sondern  sie  «gilt",  und  insofern  ist  sie,  wie  Kant  bemerkt  hat,  allor- 
V     A     dings  kein  , reales",  existierendes,  sondern  ein  bloß  logisches,  gelten- 
)    des  Etwas.     Aber  gerade   darum   macht  sie  das  Prototyp  eines  Prä- 
dikats aus. 


—     ( ( 


gegenständliche  Kategorie  erkannt  und  nicht  mit  dem  einen 
Gegensatz  zulassenden  „Sein",  also  mit  dem  Objektskorre- 
lat der  richtigen  Bejahung,  mit  gegensätzlicher  Wertpositivi- 
tät,  mit  der  positiven  Kopula,  vermengt  wird.  Genau 
diesen  Fehler  begeht  aber  Brentano.  Das  verleitet  ihn 
dazu,  in  den  Existentialsätzen  eine  Gegeninstanz  gegen  die 
uralte  Theorie  zu  erblicken,  nach  der  es  sich  bei  der  Ur- 
teilsentscheidung stets  um  Anerkennung  oder  Verwerfung 
gerade  von  „Verbindungen"  und  „Trennungen"  handelte 
Indem  er  bei  den  sog.  „Existenzial" -Sätzen  unter  der  „Exi- 
stenz" das  kopulative  und  zwar  positiv  gedachte  „Sein", 
den  Ausdruck  für  die  Anerkennungs-  oder  Bejahungswür- 
digkeit, das  „öv  d);  dXr;^£s",  unter  Existenz  und  Nichtexi- 
stenz  „Korrelate"  „ der  wahrhaft  affirmativen  und  negativen 
Urteile",  nicht  aber  das  versteht,  was  er  das  „Sein" 
„im  Sinne  der  Realität",  das  „ov  im  Sinne  des  Dinglichen 
(Wesenhaften)",  nennt ^,  verschließt  sich  ihm  der  wahre 
Sachverhalt,  daß  die  Bejahungswürdigkeit  sich  auch  hier 
auf  eine  Zweiheit  von  Elementen  aufbaut,  auf  einem  Zu- 
sammengehören beruht,  nämlich  auf  dem  Zusammengehören 
der  Kategorie  Existenz  (nach  Brentanos  Terminologie  „Reali- 
tät") und  des  dazu  gehörigen  Materials,  dem  die  Existenz 
zukommt.  NichtoieE^stenz^^dauch  nicht  das,  dem  die 
Existenz  zukommen  soll,  sondern  das  Zukommen  der  Exi- 
stenz oder  Realität  ist  es,  was  bejaht  wird.  Die  Existenz 
stellt  das  gegensatzlose  Moment  dar,  das  zu  einem  Struktur- 
element im  wertigen  oder  unwertigen,  harmonischen  oder 
disharmonischen,  ein  öv  ws  oCkrß-ic,  oder  jatj  öv  w;  <]^t\)Ooq 
enthaltenden  Gefüge  wird.  Das  „Sein"  oder  „Nichtsein" 
der  Kopula  tritt  stets  zur  Existenz  oder  Realität  hinzu. 
Steckte  freilich,  wie  Brentano  meint,  in    der  Existenz    das 


»  Psychologie  v.  emp.  Standp.,  1874,  276  f.,  Sittl.  Erk.  71  ff. 
«  Sittl.  Erk.  58,  61,  64,  75  f. 


—     78     — 

Moment  der  Positivität,  dann  könnten  allerdings  nicht  nur 
"Verbindungen,  sondern  auch  Einzelinhalte  mit  der  Wert- 
positivität  ausgestattet  sein  und  das  Bejahungsobjekt  dar- 
stellen. 

Die  Umwandelbarkeit  aller  urteile  in  Existentialsätze, 
die  Brentano  geltend  macht,  beweist  garnichts  für  ihn^. 
Sie  bedeutet  lediglich  eine  Umformbarkeit  aller  sonst  irgend- 
wie formulierten  urteile  in  solche  Sätze,  bei  denen  —  der 
wahren  Prädikationstheorie  gemäß  —  die  Kategorie 
als  eins  der  Elemente  im  bejahungs-  oder  verneinungswür- 
digen Gefüge  auch  in  der  sprachlichen  Formulierung  deut- 
lich hervortritt.  Daß  aber  innerhalb  der  Kategorien  ge- 
rade die  Existenz  ausnahmslos  in  dieser  Bolle  zu  fungieren 
vermag,  liegt  daran,  daß  sie  als  die  höchste,  die  Gesamt-, 
die  Gebietskategorie,  für  alle  übrigen  einzutreten  vermag-. 
Aus  diesem  Grunde  kann  jegliches  Zurechtbestehen 
und  Zusammenstimmen,  d.  h.  die  positive  Wahrheit  über- 
haupt und  als  solche,  grade  als  ein  Zusammenstimmen  von 
Inhalten  mit  der  Existenz  ausgesprochen  werden,  wie  ja 
auch  die  Positivität  ganz  allgemein  die  üebereinstimmung 
mit  den  „existierenden"  Gegenständen  ausdrückt.  Man 
kann  deshalb  sagen:  weil  nach  der  metagrammatischen 
Prädikationstheorie  in  allen  Urteilen  ein  kategoriales  Prä- 
dikat vorkommen  muß,  müssen  sich  alle  Urteile  als  Exi- 
stentialsätze aussprechen  lassen  ^. 


'  Psychologie,  281  ft". 

2  Vgl.  darüber  Log.  d.  Philos.,  70  f. 

3  Daß  freilich  die  Existenz  im  Sinne  der  Realexistenz  doch  nicht 
ein  ausreichend  umfassendes  Prädikat  darstellt  und  sich  somit  Bren- 
tano auch  in  dieser  Hinsicht  einer  nicht  genügenden  Auseinander- 
haltung der  verschiedenen  Bedeutungen  des  Seienden  schuldig  ge- 
macht hat,  ist  ihm  von  Windelband  mit  Recht  entgegengehalten 
worden,  vgl.  Beitr.  z.  L.  v.  neg.  Urt.,  184,  dazu  ferner  Log.  d.  Philos., 
107/8. 


79 


Dritter  Abschnitt. 

Die  Anwendung  des  Kriteriums  der  Gegensätzlichkeit  auf  die 
echten  Strukturelemente. 

Nunmehr  braucht  bloß  noch  das  im  ersten  Abschnitt 
festgestellte  Kriterium  der  gegensätzlichen  Wertqualität  auf 
die  jetzt  in  ihrer  wahren  Gliederung  begriffenen  theoreti- 
schen Gefüge  angewandt  zu  werden.  Bei  Einsetzung  der 
echten  Strukturelemente  erweist  sich  dann  die  "Wahrheit 
und  Wahrheitswidrigkeit  der  primären  Objekte  als  ein  Zu- 
sammengehören und  Xichtzusammengehören  gerade  von 
Kategorie  und  Kategorienmaterial. 

Die  Voraussetzung  für  das  Zustandekommen  einer 
Verschiebung  von  Kategorie  und  Material  gegeneinander 
bietet  dabei  offensichtlich  die  Vielheit  der  kategorialen  Ein- 
zelformen dar.  Denn  wenn  man  sich  die  Kategorie  un- 
differenziert gelassen  denkt,  so  ist  entweder  nur  die  Unbe- 
troffenheit  von  jeglichem  Etwas  oder  seine  Betroffenheit 
durch  die  eine  einzige  kategoriale  Form  möglich.  Für  irgend- 
welches Nichtzusammen stimmen  wäre  bei  der  gänzlichen 
Uniformität  des  kategorialen  Prädikats  kein  Spielraum  da. 
Erst  die  Vielheit  logischer  Formen  bietet  die  Gelegenheit 
zu  einer  Durcheinanderwerfung  der  Elemente.  Aller  Un- 
wert muß  auf  einer  Verschobenheit  der  Kategorie  gegen 
das  Material  oder  des  Materials  gegen  die  Kategorie,  auf 
dem  disharmonischen  Verhältnis  beruhen,  das  zwischen 
einem  Material  und  einer  solchen  Einzelform  stattfindet, 
in  der  das  Material  in  Wahrheit  nicht  steht.  Wo  sollte 
auch  sonst  in  das  Kopulationsgefüge  „a  ist  die  Ursache 
von  c"  die  Wahrheitswidrigkeit  sich  einnisten?  Man  zer- 
lege richtig  in  die  Bestandteile,  also  in  a,  c  auf  der  einen 
und  in  die  ürsachenkategorie  auf  der  andern  Seite.  Weder 


—  So- 
das materiale  Moment  a,  c  noch  das  kategoriale  Moment 
kann  Wahrheitswidrigkeit  bergen.  Diese  steckt  vielmehr 
lediglich  in  der  Disharmonie  zwischen  Kausalität  und  dem 
Material  a,  c,  das  in  Wahrheit  nicht  in  der  Relation  der 
Ursächlichkeit,  sondern  nur  in  der  dinghaften  oder  in  einer 
sonstigen  irgendwie  verwickelteren  Relation  steht. 

Alle  Ausgeburten  des  Wahns  und  des  Traums,  alle 
Mythen  und  dichterischen  Phantasieprodukte  enthalten  — 
rein  theoretisch  angesehen  —  lauter  Gebilde  wahrheitswid- 
rigen Sinnes,  disharmonischer  Zusammen gefügtheit  von 
Form  und  Material.  So  sind  —  um  grob  zu  exemplifi- 
zieren —  im  Zentaur  weder  Pferdeleib  noch  Menschen- 
oberkörper ersonnen :  es  wird  vielmehr  hier  nur  der  die 
materialen  Elemente  umspannenden  Dingheitskategorie  ein 
unpassendes  Material  geboten.  Wiederum  also  darf  nicht 
von  der  Unzusammengehörigkeit  zwischen  irgendwelchem 
Material  auf  der  einen  und  irgendwelchem  Material  auf 
der  andern  Seite  geredet,  sondern  es  muß  wie  stets  der 
Gesamtbefund  so  zerfällt  werden,  daß  ein  Nichtzusammen- 
passen  des  auf  die  eine  Seite  gebrachten  Materials  und 
der  auf  die  andere  Seite  geschlagenen  Kategorie  heraus- 
kommt. Die  eigentlichen  Elemente  können  ebensowenig 
jemals  ersonnen  wie  unwertig  sein.  Es  braucht  nach  den 
Ausführungen  des  vorigen  Abschnitts  nicht  umständlich  aus- 
geführt zu  werden,  daß  jede  erdenkliche  Wahrheitswidrig- 
keit sich  so  umformen  läßt,  daß  sie  als  ungehörige  Zu- 
sammensetzung gerade  von  Kategorie  und  Kategorienma- 
terial kenntlich  wird.  Zu  allen  Zeiten  sind  Versuche  ge- 
macht worden,  zu  den  der  Verfehltheit  entnommenen,  „ein- 
fachsten" Elementen  vorzudringen,  aus  deren  Verbindung 
erst  aller  Unwert  entspringt.  Nur,  welche  diese  Ele- 
mente sind  und  daß  sie  —  von  den  Problemen  des  theo- 
retischen Sinnes  aus  betrachtet  —  nichts  anderes  als  Kate- 


—     81     — 

gorie  und  Kategorienmaterial  sein  können,  ist  das,  worauf 
hierbei  alles  ankommt. 

Insofern  für  die  Geltungs-  und  Werttheorie  Gelten 
und  Wert  an  Gegensätzlichkeit  gebunden,  folglich  Gegen- 
satzindifferenz mit  Geltungs-  und  Wertindifl'erenz  zusam- 
menfällt (vgl.  ob.  S.  30),  ergibt  sich  für  sie  noch  die  beson- 
ders bemerkenswerte  Konsequenz,  daß  ebenso  wie  die  ma- 
terialen  Bestandteile  auch  die  Kategorien  als  Elemente  und 
d.  h.  als  gegensatzindifferent,  als  geltungs-  und  wertindiffe- 
rent, als  neutral  angesehen  werden  müssen.  Gültigkeit  und 
Ungültigkeit,  Wert  und  Unwert  sind  eben  nicht  anders 
denn  als  ein  harmonisches  oder  disharmonisches  „Verhält- 
nis" zwischen  den  Elementen  zu  denken.  Es  gibt  auch 
offenbar  nicht  wahre  und  wahrheitswidrige,  positive  und 
negative  Kausalität  oder  Dingheit  oder  Unterschiedenheit 
usw.,  sondern  nur  an  wahrer  oder  verkehrter  Stelle  stehende, 
mit  wahrem  oder  unpassendem  Material  verbundene,  kurz 
harmonierende  oder  disharmonierende  Kausalität  oder  Ding- 
heit oder  Unterschiedenheit  usw.  Die  Kategorien  sind  nur 
Glieder,  nur  Bausteine  einer  unteilbaren,  ihre  Elemente 
umschlingenden  Ganzheit  des  Sinnes,  die  allein  der  Alter- 
native von  Wahrheit  und  Wahrheitswidrigkeit  unterliegt. 
Will  nun  die  Werttheorie,  ohne  die  übliche  Verschlingung 
von  Wertartigkeit  und  Gegensätzlichkeit  preiszugeben,  den- 
noch an  der  Wertartigkeit  der  Kategorie  festhalten,  so 
bleibt  ihr,  wie  sich  im  zweiten  Kapitel  zeigen  wird,  nur 
der  andere,  ebenso  verfehlte  Ausweg  übrig,  in  das  urteils- 
jenseitige gegenständlich-logische  Phänomen  der  Kategorie 
die  gegensätzliche  Wertqualität  der  Urteilsregion  hineinzu- 
verlegen.  — 

Als  Ertrag  dieses  Kapitels  hat  sich  ergeben,  daß  un- 
geachtet der  bloß  „formallogischen"  und  nichtgegenständ- 
lichen Bedeutsamkeit  von  Struktur  und  „Form"  des  Urteils 

Lask,  Lehre  vom  Urteil.  6 


—     82     — 

dennoch  die  Gliederung  seiner  ., Materie'-  nicht  ohne  An- 
knüpfung an  die  transzendental-logische  und  gegenständ- 
liche Urstruktur  Yorgenommen  werden  kann. 

Zweites  Kapitel. 
Die  Uebergegensätzlichkeit. 

Bisher  ist  eine  Beziehung  zwischen  der  nichtgegen- 
ständlichen Urteüsregion  und  den  gegenständlich-logischen 
Phänomenen  nur  soweit  verfolgt  worden,  daß  die  Rolle 
hervortrat,  die  der  Kategorie  in  der  Struktur  der  Urteils- 
objekte zufällt.  Nur  um  das  Eingegliedertsein  des  Gegen- 
ständlichen ins  Xichtgegenständliche  handelte  es  sich  da- 
bei. Jetzt  dagegen  soll  sich  die  Untersuchung  auf  den 
Abstand  richten,  der  zwischen  den  Urteilsobjekten  und 
der  Gegenstandsregion  besteht. 

Dabei  wird  sich  das  Phänomen  der  Gegensätzlichkeit 
in  der  Urteilsregion  als  das  Symptom  ihrer  Xachbildlich- 
keit  und  sekundären  Stellung  erweisen.  In  diesem  Punkte 
die  Urteilsregion  an  den  Kopernikanisch  interpretierten,  in 
ihrer  Logizität  durchschauten  Gegenständen  messen,  das 
heißt,  ihr  die  ihr  gebührende  Stelle  in  der  Gesamtheit  der 
logischen  Phänomene  anweisen.  Nur  durch  das  Fort- 
schreiten zu  einem  urteilsjenseitigen  Maßstab  läßt  sich  die 
Urteilsregion  selbst  erkennen. 

Es  erhebt  sich  darum  zunächst  die  Frage,  ob  nicht 
ein  genaueres  Eindringen  in  das  Wesen  jenes  Zusammen- 
gehörens  und  Xichtzusammengehörens  der  Strukturelemente, 
auf  dem  die  gegensätzliche  Wertqualität  beruht,  zu  einer 
Erschütterung  der  ganzen  Gegensatzregion  führen  muß 
(1.  Abschnitt).  Sodann  ist  das  Hinausgetrieben  werden  über 
die  Gegensätzlichkeit  in  seinen  Konsequenzen  für  das  Wert- 
problem zu  untersuchen  (2.  Abschnitt). 


—     83     — 
Erster  Abschnitt. 

Die  Künstlichkeit  der  Urteilsstruktur  und  ihr  Abstand  von 
der  gegenständlich-logischen  Region. 

Wie  bereits  in  der  Einleitung  erwähnt  wurde  (S.  5), 
droht  die  Aufgabe  einer  Messung  der  Urteilsregion  au  einem 
urteilsjenseitigen  Maßstab  gerade  durch  die  Kopernikani- 
sche  Umwälzung  in  der  Logik  wieder  erschwert,  die  Di- 
stanzstellung der  Urteilsregion  gegenüber  den  Gegenständen 
wieder  verdunkelt  zu  werden.  Indem  nämlich  durch  die 
Kopernikanische  These  der  Herrschaftsbereich  des  Logi- 
schen bis  in  die  Gegenstände  hinein  ausgedehnt  wird,  er- 
W'ächst  die  Gefahr,  in  die  Gegenstände  den  vorkantischen 
Typus  des  Theoretischen  und  so  das  Urteilsartig-Theoreti- 
sche hineinzuverlegen.  Es  muß  darum  der  Nachweis  er- 
bracht werden,  daß  die  Urteilsregion  auch  von  den  Koper- 
nikanisch  interpretierten,  in  den  Bereich  des  Logischen  hin- 
eingezogenen Gegenständen  durch  die  ganze  Kluft  der 
Künstlichkeit  und  Nachbildlichkeit  geschieden  ist ;  die  Gegen- 
stände, obgleich  nicht  mehr  als  metalogisch,  dennoch  nach 
wie  vor  als  urteilsjenseitig  anzusehen  sind. 

Zunächst  soll  dabei  kurz  skizziert  werden,  wie  sich  für 
die  vorkopernikanische  Auffassung  die  Distanz  zwischen  ur- 
bildlicher und  nachbildlicher  Region  ausnimmt. 

Für  den  vorkopernikanischen  Standpunkt  muß  der  Ab- 
stand zwischen  der  Urteilsregion  und  den  Gegenständen 
einfach  deshalb  unverkennbar  sein,  weil  er  sich  dort  als 
Distanz  zwischen  dem  Theoretischen  und  dem  Metatheore- 
tischen aufdrängt.  Denn  das  Theoretische  als  solches  steht 
dort  im  Abstand  der  Nachbildlichkeit  von  den  Gegenstän- 
den. Es  unterscheidet  sich  vom  gegenständlichen  Urbild 
durch  das  Auftreten  gewisser  in    den  Gegenständen   selbst 

6* 


—     84     — 

fehlender  und  deshalb  gegenständlicher  Bedeutung  barer 
Strukturkomplikationen,  die  mit  den  der  Gegenstandsregion 
entnommenen  Elementen  vorgenommen  werden  und  zur 
gegenständlichen  ^Materie'-  als  spezifische  „Form'-  des  Theo- 
retischen hinzutreten.  Danach  stehen  sich  denn  auch  in 
der  vorkantischen  Philosophie  die  beiden  im  gegenständ- 
lichen Urbild  und  im  theoretischen  Nachbild  forschenden 
Wissenschaften  der  Metaphysik  und  der  Logik   gegenüber. 

Geradezu  das  "Wesen  und  der  Ursprung  des  Theoreti- 
schen liegt  nach  der  vorkopernikanischen  Ansicht  im  Spe- 
zifischen der  Xachbildlichkeit,  im  Uebereinstimmen  und 
Nichtübereinstimmeu.  Das  Theoretische  läßt  sich  geradezu 
definieren  durch  seine  Yergleichbarkeit  mit  den  Gegenstän- 
den, sein  Uebersichhinausweisen  auf  ein  Urbild.  Es  ent- 
springt dadurch  allererst  das  ..Wahrheits'*-Moment,  dessen 
Kriterium  von  jeher  in  dem  Uebereinstimmungsverhältnis 
zum  Gegenstand  gefunden  wurde.  Damit  ist  in  der  vor- 
kantischen Logik  zugleich  bereits  darüber  entschieden,  daß 
auch  das  mit  dem  Wahrheitscharakter  verbundene  Gel- 
tungs-  und  Wertmoment  einzig  und  allein  aus  dem  Wesen 
der  Nachbildlichkeit  stammt,  sich  ganz  ausschließlich  nach 
dem  den  theoretischen  Gebilden  innewohnenden  einheitlichen 
Sinn  und  Zweck  der  Uebereinstimmung  bestimmt.  So  bildet 
der  Wertcharakter  gleichsam  das  Aequivalent  für  die  Künst- 
lichkeit der  theoretischen  Strukturphänomene  und  ihren 
Mangel  an  gegenständlicher  Bedeutung.  Dem  Nichtgegen- 
ständlichen eignet  wenigstens  wertartiges  Gelten. 

Diesem  über  die  Distanz  hinwegreichenden  Hinwei- 
sungsverhältnis entspricht  die  bekannte  Formulierung,  die 
die  theoretische  Region  als  eine  Region  der  Wahrheiten 
„über"  die  Gegenstände  bezeichnet,  wobei  das  „Wahrheit 
über"  die  vox  media  für  Uebereinstimmung  und  Nichtüber- 
einstimmung bedeutet.    Das  „Ueber^-Verhältnis  ist  der  Aus- 


[ 


—     85     — 

druck  für  die  durch  den  Abstand  hindurch  bestehende  Zu- 
geordnetheit  des  Nachbilds  zum  Urbild. 

Die  eigentümlichen  theoretischen  Phänomene  machen 
den  zum  Anteil  der  Gegenstände  von  Seiten  des  Theo- 
retischen hinzugebrachten  Beitrag  aus.  Das  letzte  Ziel 
des  Erkennens  sind  die  Gegenstände.  Aber  bei  Gelegen- 
heit ihrer  Bemächtigung  schieben  sich  diese  aus  einem 
Schalten  mit  den  Gegenstandselementen  hervorgegangenen 
Phänomene  dazwischen.  Sie  stehen  ganz  im  Dienst  der 
Erreichung  des  gegenständlichen  Urbilds.  In  ihnen  und 
mittelst  ihrer  wird  das  Erkennen  der  Gegenstände  habhaft. 

Nur  beiläutig  ist  hierbei  anzumerken,  daß  die  nach- 
bildliche Region  der  einzelnen  Wahrheits-  und  Urteilsge- 
füge,  der  „materialen  Wahrheit",  lediglich  die  erste  Stufe 
der  theoretischen  Strukturkomplikationen  repräsentiert.  Es 
gibt  noch  das  weitere  Strukturphänomen  der  „formalen 
Wahrheit",  der  auf  den  einzelnen  Wahrheitsgefügen  sich 
aufbauenden  Wahrheitszusammenhänge.  Daß  dieses  Phä- 
nomen erst  recht  der  gegenständlichen  Bedeutung  entbehrt, 
leuchtet  ein.  Fehlt  doch  diesen  logischen  Gebilden  sogar 
die  Meßbarkeit  und  Nachbildlichkeit  gegenüber  den  Gegen- 
ständen. Es  dreht  sich  bei  ihnen  alles  um  das  Verhältnis 
der  Wahrheiten  „untereinander",  aber  nicht  zum  Gegen- 
stand. Wie  die  Wahrheiten  im  Dienste  der  Gegenstands- 
erfassung, so  stehen  diese  Phänomene  im  Dienste  der  Wahr- 
heitserfassung. Es  fällt  deshalb,  wie  sich  schon  früher 
zeigte  (ob.  S.  31  ff.),  das  Zusammengehören  und  Nichtzu- 
sammengehören  der  Elemente  im  einzelnen  Urteilsgefüge,  so 
sehr  es  auch  ein  nichtgegenständliches  Phänomen  darstellt, 
weder  mit  einem    „bloß    logischen"    Widerstreit,    noch   mit 


einer  „Kealrepugnanz"  zusammen,  sondern  es  steht  in  der 
Mitte  zwischen  beiden.  So  zerfallen  die  spezifisch  theore- 
tischen Gebilde  im  ganzen  in  solche  mit  und  ohne  Meßbar- 


—     86     — 

keit.  Sie  alle  aber  stellen  sich  im  weitesten  Sinne  als  Werk- 
zeug der  Gegenstandserfassung,  als  ., Organen'-,  dar. 

Damit  enthüllt  sich  auch  der  tiefere  Sinn  der  Aristo- 
telisch-scholastischen Unterscheidung  von  „  Form"  und  „Ma- 
terie" der  theoretischen  Gebilde.  Die  Materie  ist  der  den 
Gegenständen  selbst  entnommene  Bestand,  dem  die  gegen- 
ständlichen Elemente  Subjekt  und  Prädikat  angehören. 
Die  Form  dagegen  besteht  in  den  besonderen  Struktur- 
komplikationen ,  denen  die  Gegenstände  in  der  theoreti- 
schen Region  unterworfen  werden.  Die  Gegenstände  stel- 
len den  Rohstoff  oder  das  Bewältigungsmaterial,  die  theo- 
retischen Strukturphänomene  die  Formen  der  werkzeug- 
mäßigen Umgestaltung  und  Verarbeitung,  die  den  Gegen- 
ständen fremden,  ureigenen  Formen  des  „Denkens'-  und 
„Erkennens'*  dar,  in  die  die  Gegenstände  im  theoretischen 
Prozeß  hineingeraten. 

Es  nimmt  aber  das  theoretische  Strukturphänomen  die 
Rolle  der  „Form"  ein,  außer  im  Sinne  der  Umgestaltung 
des  Gegenstandes  zugleich  auch  im  Sinne  der  Allgeraein- 
heit gegenüber  der  variierenden  Gegenstandsmasse.  Denn 
das  Gegenstandsmaterial  bildet  die  grenzenlose  Mannigfal- 
tigkeit, beispielsweise  der  Urteilsmaterie,  des  Subjekts  und 
Prädikats ;  das  theoretische  Strukturphänomen  dagegen,  bei- 
spielsweise die  Urteilsstruktur  mit  ihrem  Geltungs-  und 
Wertcharakter,  ihrer  positiven  und  negativen  Qualität  und 
folgeweise  ihrer  Kopula ,  mit  der  Zweigliedrigkeit  ihres 
Eleraentenbestandes,  repräsentiert  das  überall  gleiche  Ge- 
präge. Die  Unermeßlichkeit  der  Gegenstände  fügt  sich  so 
in  einige  wenige  Formen  hinein.  Innerhalb  der  theoreti- 
schen Form  aber  kann  sich,  entsprechend  wie  vorher  die 
Strukturkomplikation,  so  auch  das  Formverhältnis  wieder- 
holen. Es  ist  darum  die  Strukturform  der  Wahrheitszu- 
sammenhänge   „formal'-    noch    gegenüber    der    „materialen 


—     87     — 

Wahrheit",  die  selbst  schon  in  Wahrheits-  oder  Urteils- 
form  und  in  Urteilsmaterie  zerfällt.  — 

Dieses  vorkopernikanische  Gesamtbild  wird  nun  von 
der  Kopernikanischen  Lehre  gänzlich  zerstört.  Allein  jetzt 
kommt  es  darauf  an,  zu  begreifen,  daß  es  nur  als  erkennt- 
nistheoretisches Gesamtbild  verworfen,  daß  nichtsdestowe- 
niger aber  eine  Distanz  und  Nachbildlichkeitssituation  der 
ürteilsregion  aufrecht  erhalten  werden  muß.  Verworfen 
nämlich  wird  die  Stellung  der  Nachbildlichkeit  nur  für  das 
Theoretische  als  solches  und  überhaupt,  nicht  aber 
für  die  Urteilsregion.  Was  im  Abstand  zu  den  Gegen- 
ständen steht ,  ist  fortan  nicht  mehr  das  Theoretische, 
sondern  ein  Theoretisches.  Und  die  Funktion  des  Urbilds 
nimmt  nicht  mehr  eine  metatheoretische,  sondern  eine  gleich- 
falls theoretische  Region  ein.  Es  bleibt  somit  alles  von 
der  vorkantischen  Logik  über  die  Urteilsregion  Ausge- 
machte bestehen,  bloß  daß  darin  jetzt  nicht  mehr  das  We- 
sen des  Theoretischen  überhaupt  getroffen  wird.  Urbild- 
liche und  nachbildliche  Region  stehen  sich  nicht  mehr  als 
gegenständliche  und  theoretische,  sondern  als  gegenständ- 
lich- oder  urbildlich-theoretische  und  als  nichtgegenständ- 
lieh-  oder  nachbildlich-theoretische  gegenüber.  Nicht  die 
Distanz-  und  Uebei-'^nsfmimungstheorie  überhaupt  ist  das 
exklusive  Charakteristikum  des  „dogmatischen"  Standpunkts, 
nicht  sie  ist  es,  was  mit  ihm  steht  und  fällt,  vielmehr  nur 
diese  Theorie  bei  gleichzeitiger  Behauptung  der  Metalogi- 
zität  für  das  gegenständliche  Urbild. 

Jetzt  erst  hat  sich  die  Darstellung  der  Untersuchung 
zuzuwenden,  worin  denn  überhaupt  der  „  Abstand"  zwischen 
den  beiden  Regionen  und  die  Künstlichkeit  der  nachbild- 
lichen Region  besteht.  Dabei  wird  zugleich  das  Vorgehen 
des  ersten  Kapitels ,  die  Uebereinstimmungs-  und  Nach- 
bildtheorie vom  dogmatischen  Standpunkt  einfach  zu  über- 


nehmen,  seine  nachträgliche  Rechtfertigung  erhalten. 

Auszugeheu  ist  bei  diesem  Nachweis  von  dem  Umstand, 
daß  auch  für  die  Kopernikanische  Auffassung  das  Spezifi- 
sche der  Urteilsregion  in  der  Gegen sätzlichkeit  gegliederter 
Ganzheiten  und  d.  h.  im  Zusammengehören  und  Nicht- 
zusammengehören  von  Elementen  besteht.  Dadurch  lassen 
sich  aber  für  das  Problem  der  Urteilsgegensätzlichkeit  ge- 
wisse allgemeine ,  aus  dem  Begriff  des  Zusammengehörens 
und  Nichtzusammengehörens  von  Elementen  ableitbare  Sätze 
gewinnen,  die,  für  sich  von  den  spezifischen  Voraussetzun- 
gen der  Kopernikanischen  Ansicht  unabhängig,  doch  ohne 
weiteres  auch  auf  diese  die  Anwendung  gestatten  und 
fordern. 

Zunächst  gilt  es,  sich  darauf  zu  besinnen  —  was  im 
ersten  Kapitel  bei  der  Darstellung  der  üebereinstimmungs- 
theorie  bereits  implicite  enthalten  war  — ,  daß  mit  dem  Ge- 
danken eines  Zusammengehörens  und  Nichtzusammenge- 
hörens von  Elementen  die  Vorstellung  einer  Distanz  zwi- 
schen zwei  Regionen  unabtrennlich  verknüpft  ist.  Das  für 
die  Struktur  der  Objektsgefüge  des  Urteils  charakteristische 
Zusammengehören  und  Nichtzusammengehören  der  Elemente 
bedarf  eines  ^  ^^^tm,^^  seiner  jelM..feM4§Jill,aßes,  e^er 
Messung  amxT^enstande.  Dadurch  gerade  unterscheidet 
sich*3^"BW^J'fi!Sfmale"  Wahrheit  von  der  sog.  „formalen". 
Während  bei  dieser  das  Kriterium  in  einer  unabHangig 
von  aller  Messung  an  den  Gegenständen  konstatierbaren 
Uebereinstimmung  und  Nichtübereinstimmung  der  Sinnge- 
füge  untereinander  liegt  und  es  infolgedessen  hierbei 
gar  nicht  erforderlich  ist,  über  die  Region  dieser  theoreti- 
schen Sinngefüge  selbst  hinauszugehen,  weist  die  Wahrheit 
und  Wahrheitswidrigkeit  des  einzelnen  Gefüges  über  sich 
hinaus  auf  einen  Maßstab,  von  dem  aus  allein  sie  beurteil- 
bar wird.     Wenn  darum  früher  gesagt  wurde,   das  Ueber- 


■\ 


—     89     — 

einstimmen  und  Nichtübereinstimmen  von  gegliederten  Ganz- 
heiten mit  den  Gegenständen  führe  zur  Vorstellung  des  Zu- 
sammenstimmens  und  Nichtzusammenstimmens  der  Glieder 
innerhalb  der  einzelnen  Gefüge  (ob.  S.  32),  so  muß  jetzt  schärfer 
umgekehrt  ausgemacht  werden :  dies  Zusammengehören  und 
Nichtzusammengehören  ist  von  vornherein  ein  solches,  das 
auf  der  Meßbarkeit  dieser  gegliederten  Einheiten  an  einer 
ihnen  jenseitigen  Region  beruht.  Nur  um  ein  derartiges 
Zusammengehören  und  Nichtzusammengehören  handelt  es 
sich  hier  überhaupt. 

Nun  kann  es  offenbar  von  den  besonderen  Phänome- 
nen, auf  denen  die  Distanz  einer  meßbaren  Region  gegen- 
über ihrer  Maßstabsregion  beruht ,  in  dieser  selbst  noch 
keine  Spur  geben.  Es  bildet  aber  gerade  das  Zusammen- 
gehören und  Nichtzusammengehören  von  Bestandteilen  das 
spezifische  Moment,  das  über  sich  selbst  auf  einen  Maß- 
stab hinausweist  und  also  diese  gegensätzliche  Region  zu 
einer  nachbildlichen  stempelt.  Daraus  folgt,  daß  e  s  i  m 
gegenständlichen  Urbild  ein  Zusammen- 
gehören und  Nichtzusammengehören  von 
Elementen  garnicht  geben  kann.  Und  zwar 
liegt  der  größte  Anlaß  vor ,  mit  besonderem  Nachdruck 
hervorzuheben,  daß  das  Zusammengehören  der  gegenständ- 
lichen Region  ebenso  fremd  und  daß  es  ebenso  ausschließ- 
lich auf  das  Nachbild  eingeschränkt  ist  wie  das  Nichtzu- 
sammengehören. Daß  also  auch  das  übereinstimmende 
Nachbild  nicht  etwa  dem  Gegenstand  gleicht,  vielmehr  durch 
dieselbe  Kluft  der  Nachbildlichkeit  von  ihm  geschieden  ist 
wie  das  von  ihm  abweichende.  Die  positive  "Wertigkeit  in 
der  nachbildlichen  Region  steht,  was  die  spezifischen  Nach- 
bildlichkeitsphänomene anlangt ,  der  gegenständlichen  Re- 
gion ebenso  fern  wie  die  Unwertigkeit. 

Der  Nachweis    hierfür   wird    bei  Zugrundelegung    der 


—     90     — 

echten  Strukturelemente  und  unter  der  Voraussetzung  der 
Kopernikanischen  These  zu  führen  sein.  Ermangeln  auch 
im  Lichte  der  Kopernikanischen  Interpretation  die  Gegen- 
stände des  Phänomens  der  Zusammengehörigkeit  ebenso 
wie  der  Isichtzusammengehörigkeit,  dann  ist  außer  Zweifel 
gestellt,  daß  auch  die  Kopernikanisch  interpretierten  Ge- 
genstände urteilsjenseitig  zu  denken  sind. 

Hier  zeigt  sich  nun  sofort,  wie  sehr  gerade  die  Ko- 
pernikanische  Auffassung  dazu  verführt,  mit  dem  Gedan- 
ken der  Zusammengehörigkeit  das  Urteilsartig-Theoretische 
in  die  Gegenstände  hineinzuverlegen.  Denn  was  sollen,  so 
meint  man ,  die  die  Gegenständlichkeit  und  Objektivität 
konstituierenden  kategorialen  Relationen  anderes  sein,  als 
notwendige  und  allgemeingültige  Zusammengehörigkeiten, 
was  die  Ding-  und  Kausalrelation  anderes  als  ein  in  Wahr-  • 
heit  „Zusammengehören"  (Lotze)?  So  droht  die  Ko- 
pernikanische  Konstituierung  des  Gegenstandes  durch  das 
Logische  immer  in  eine  Konstituierung  durch  das  Gegen- 
sätzlich- und  Urteilsartig-Logische  umzuschlagen.  Bevor 
deshalb  der  Hauptnachweis  geführt  wird ,  daß  die  ganze 
Gegenstandsregion  oder  die  gegenständliche  Struktur 
jenseits  der  Strukturphänomene  des  Zusammengehörens  und 
Nichtzusammengehörens  liegt,  muß  erst  dem  Mißverständ- 
nis vorgebeugt  werden,  das  die  Zusammengehörigkeit  in  den 
Kategorien,  also  in  einem  der  Elemente  des  Gegen- 
standsbereichs, finden  will. 

Es  ist  früher  bereits  im  allgemeinen  die  Ansicht  ab- 
gewehrt worden,  daß  das  eigentümliche  Zusammengehören 
und  Nichtzusammengehören  mit  irgend  einem  bestimmten 
Bedeutungsgehalt,  insbesondere  dem  der  Kategorien,  zusam- 
menfällt (vgl.  ob.  S.  37  u.  75).  Aber  zur  genaueren  Kenntnis 
davon  bedarf  es  jetzt  der  erneuten  Besinnung  darauf,  daß  in 
den  harmonischen    und    disharmonischen  Gefügen   wie   alle 


—     91     — 

Kategorien  so  auch  die  kategorialen  ß,  e  1  a  t  i  o  n  e  n  nur  auf 
Seiten  der  harmonierenden  oder  disharmonierenden  Elemente 
stehen  können.  Was  besagen  denn  die  eine  kategoriale 
Relation  enthaltenden  Urteilsgefüge  ?  Was  bedeutet  es, 
wenn  gesagt  wird ,  daß  in  dem  der  urteilenden  Stellung- 
nahme vorliegenden  Objekt  a  und  c  kausal  nicht  zusammen- 
gehören, also  ein  wahrheitswidriges  Kausalgefüge  vorliegt? 
Nicht  ünzusammengehörigkeit  überhaupt  soll  doch  zwischen 
den  beiden  Inhalten  bestehen,  sondern  nur  gerade  kausal 
sollen  sie  nicht  zusammengehören.  Das  heißt  aber  nichts 
anderes,  als  daß  eine  Unvereinbarkeit  zwischen  der  Kau- 
salität auf  der  einen  und  dem  Material  a,  c  auf  der  an- 
deren Seite  vorliegt,  die  Kausalität  an  verkehrter,  an  wahr- 
heitswidriger Stelle  steht.  Von  einer  Nichtzusammenge- 
hörigkeit  zwischen  a  und  c  ist  hierbei  garnicht  die  Rede. 
Ebenso  wäre  es  unsinnig,  zu  meinen,  daß  die  Kausalität  außer 
als  Kausalrelation  als  NichtZusammengehörigkeit  die  bei- 
den Inhalte  a  und  c  umspanne.  Genau  dasselbe  gilt  aber 
offenbar  von  der  Zusammengehörigkeit.  Daß  zwei  Inhalte 
a  und  b  kausal  zusammengehören,  ist  eine  abgekürzte  Rede- 
wendung dafür,  daß  zwischen  Kausalität  und  a,  b  Zu- 
sammengehörigkeit besteht.  Also  keineswegs  stellt  die  Kau- 
salität eine  Zusammengehörigkeit  dar.  Vielmehr  in  einem 
Gefüge  kausaler  Zusammengehörigkeit  bildet  die  Zusam- 
mengehörigkeit ein  von  der  Kausalität  unterschiedenes  und 
die  Kausalität  als  eins  ihrer  Elemente  umfassendes  Ver- 
hältnis. Sie  tritt  zur  Kausalität  hinzu.  Eine  kausale  Zu- 
sammengehörigkeit ,  die  Kausalität  als  eine  Art  von  Zu- 
sammengehörigkeit, ist  ein  Unding.  Weder  Zusammenge- 
hörigkeit noch  NichtZusammengehörigkeit  kann  ja  die  Kau- 
salität sein.  Sie  ist  und  bleibt,  was  sie  bedeutet:  die  ge- 
gensatzlose Kausalität;  und  auch  im  wahren  und  wahr- 
heitswidrigen Kausalgefüge  fungiert  sie  immer  nur  als  sol- 


—     92     — 

che,  ohne  im  geringsten  ihren  Sinn  zu  ändern  ,  ohne  im 
einen  Fall  zur  Zusammengehörigkeit,  im  andern  zur  Nicht- 
zusammengehörigkeit  zu  werden.  Die  Kausalität  als  eine 
Art  von  Zusammengehörigkeit  hinzustellen,  ist  genau  so  ver- 
kehrt, "svie  sie  für  eine  Art  von  NichtZusammengehörigkeit 
zu  erklären.  Nur  eins  der  Glieder  also  kann  die  Kau- 
salität für  die  Zusammengehörigkeit  genau  so  wie  für  die 
ünzusammengehörigkeit  abgeben. 

So  ist  die  Zusammengehörigkeit,  dieser  Ausdruck  für 
die  gegensätzliche  Wertpositirität .  gänzlich  aus  dem  Be- 
deutungsgehalt einer  Kategorie  herauszuweisen.  Ebenso  wie 
von  der  Kausalität  die  Zusammengehörigkeit,  so  ist  bei- 
spielsweise von  dem  .,Inhärenz"-Verhältnis  zwischen  Ding 
und  Eigenschaft  —  diese  Kategorie  einmal  unbesehen  vor- 
ausgesetzt —  der  Nebengedanke  des  „Zukommens"  fern- 
zuhalten, wofern  darunter  wiederum  die  gegensätzliche  Wert- 
qualität verstanden  wird.  Das  „Inhärieren"  der  Eigenschaft, 
ihr  Einwohnen,  Anhaften  oder  Eignen,  das  „Haben"  der 
Eigenschaft  von  selten  des  Dinges,  steht  ebenso  jenseits  des 
Gegensatzes  von  Zukommen  und  Nichtzukommen,  wie  bei- 
spielsweise die  Kausalität  jenseits  des  Gegensatzes  von  Zu- 
sammengehörigkeit und  ünzusammengehörigkeit.  Nur  wer 
wie  Lotze  die  in  Wahrheit  gegensatzlose  kategoriale  Rela- 
tion die  Funktion  der  Kopula  übernehmen,  die  Verbindung 
der  Urteilsstrukturelemente  durch  sie  herstellen  läßt  (vgl. 
oben  S.  75),  muß  in  den  Fehler  verfallen,  die  kategoriale 
Relation  als  eine  „Zusammengehörigkeit",  die  nur  Sinn  hat 
als  Gegensatz  zur  „Zusammengeratenheit'*,  zur  Ünzusam- 
mengehörigkeit, zu  fassen.  Man  muß  sich  daran  gewöh- 
nen, aus  dem  schlichten  Bedeutungsgehalt  der  den  Gegen- 
stand konstituierenden  kategorialen  Relation  diesen  urteils- 
mäßig beteuernden  Nebengedanken  der  ..Zusammengehörig- 
keit" ganz  auszuschalten.    Mit  dieser  Entrückung  der  Kate- 


—     93     — 

gorien  über  den  Gegensatz  von  Zusammengehörigkeit  und 
NichtZusammengehörigkeit  schließt  sich  zugleich  der  früher 
begonnene  Nachweis  davon  ab,  daß  ihnen  nicht  die  Funk- 
tion der  Kopula  zuzumuten  ist  (vgl.  oben  S.  75). 

Bisher  ist  jedoch  lediglich  dargetan,  daß  der  Typus  der 
gegensätzlichen  Verbundenheit  nicht  in  den  kategorialen 
Elementen  der  Gegenstandsregion  vertreten  ist.  Es 
fehlt  noch  der  Hauptnachweis:  daß  es  solche  gegensätz- 
liche Gefügtheit  in  den  Gegenständen  überhaupt  nicht  gibt, 
oder  genauer :  daß  sie  in  der  gegenständlichen  Struktur 
^^  nicht  vorkommen  kann.  Denn  das  der  gegenständlichen 
Region  exklusiv  Angehörende,  ihre  Distanz  und  Maßstabs- 
stellung gegenüber  der  nachbildlichen  Begründende,  kann 
allein  in  ihrer  Struktur  liegen,  da  doch  ihre  Elemente  auch 
in  der  nachbildlichen  Region  vorkommen  und  dort  mit  ihnen 
geschaltet  wird.  Nicht  die  Elemente  der  gegenständlichen 
Region  können  es  sein,  denen  das  Strukturphänomen  des 
Zusammengehörens  und  Nichtzusammengehörens  gegenüber- 
steht, sondern  lediglich  an  der  gegenständlichen  Struktur, 
an  der  in  der  Gegenstandsregion  herrschenden  Verschlun- 
genheit  der  Elemente,  wird  die  nachbildliche  Struktur  ge- 
messen werden  können. 

Hier  läßt  sich  nun  ganz  allgemein  aus  dem  Begriff 
des  Zusammengehörens  und  Nichtzusammengehörens  von 
Elementen  deduzieren.  Wie  sich  bereits  aus  dem  Voran- 
gegangenen entnehmen  läßt ,  gibt  es  garnicht  ein  Zusam- 
mengehören zweier  Inhalte  überhaupt,  sondern  immer 
nur  mit  Rücksicht  auf  eine  ihnen  zugemutete  Relation,  die 
dann  selbst  jenseits  von  Zusammengehörigkeit  und  Nicht- 
zusämmengehörigkeit  stehen  muß.  Solche  harmonischen 
und  disharmonischen  Gefüge  lassen  sich  sodann  in  eine 
Zusammengehörigkeit  und  NichtZusammengehörigkeit  zwi- 
schen der  eigentümlichen  gegensatzlosen  Relation   auf  der 


—     94     — 

einen  und  ihren  beiden  Relationsgliedern    auf   der    andern 
Seite  umformen. 

Daraus  aber  ergibt  sich  nunmehr,  was  es  überhaupt 
mit  dem  Harmonieren  und  Disharmonieren  für  eine  ße- 
wandnis  hat  und  warum  es  in  den  Gegenständen  selbst 
keine  Stätte  haben  kann.  Ein  Zusammengehören  und  Nicht- 
zusammengehören,  beispielsweise  zwischen  der  Kausalrelation 
und  zwei  Inhalten,  setzt  die  Verschiebbarkeit  und  Be- 
wegHchgewordenheit  der  Kausalrelation  gegen  ihre  Glieder, 
die  Auseinanderreißung  von  Kausalverhältnis  und  Kau- 
salgliedern, die  Entwurzelung  der  Kausalrelation,  voraus. 
Zwar  kommt  die  gegensatzlose  Relation  hierbei  immer  noch 
vor,  aber  als  losgerissen  von  ihren  Gliedern  und  als  in  dieser 
Losgelöstheit  auf  die  eine  Seite  geworfenes  harmonierendes 
oder  disharmonierendes  Element.  Es  baut  sich  somit  der 
ganze  Begriff  des  Zusammengehörens  und  Nichtzusammen- 
gehörens  auf  einer  Zerbrechung  und  Verrenkung  der  ge- 
genständlichen Region  auf,  die  in  ihr  selbst  unmöglich  lie- 
gen kann,  die  vielmehr  irgendwie  einen  antastenden  Ein- 
griff verrät,  der  von  anderwärts  her  an  ihr  vorgenommen 
sein  muß.  Woher  diese  künstliche  Auseinanderspaltung 
stammt,  soll  vorläufig  noch  außer  Betracht  bleiben.  Doch 
man  wird  sich  schon  jetzt  der  Beantwortung  kaum  erweh- 
ren können,  daß  hier  irgendwie  die  erkennende  Subjekti- 
vität dahinter  stehen  muß ,  der  ein  Erfassen  des  ganzen 
und  unzerstückelten  gegenständlichen  Sachverhalts  nicht  ver- 
gönnt ist,  die  sich  vielmehr  das,  was  ihr  als  Fertiges  nicht 
gegeben  ist,  überall  erst  aus  den  isolierten  Teilen  stück- 
weise aufbauen  muß.  Für  die  Subjektivität,  die  nicht  an- 
ders als  durch  Unkenntnis  und  Schwanken  hindurch  an  den 
gegenständlichen  Sachverhalt  herankommt,  mag  ein  Anlaß 
vorliegen,  stets  „in  Gedanken"  die  zu  einander  gehörenden 
Glieder,  oder,   was  ja  auf  dasselbe  hinausläuft,   die  Rela- 


—     95     — 

tionen  und  die  dazu  passenden  Relationsglieder  zu  isolie- 
ren und  gegen  einander  zu  verselbständigen.  Im  jetzigen 
Zusammenhange  interessiert  lediglich  das  Ergebnis ,  daß 
jegliches  Zusammengehören  und  Nichtzusamm engehören  auf 
einer  Ablösung  der  Relationen  von  den  Relationsgliedern 
sich  aufbaut. 

Besonders  hervorzuheben  ist  dabei  wiederum,  daß  dies 
von  der  Zusammengehörigkeit  ebenso  gilt  wie  von  der  Un- 
zusammengehörigkeit.  Zusammengehörigkeit  ist  immer  das 
Zusammenpassen  des  Zerstückelten.  Man  braucht  bloß 
daran  zu  denken,  daß  die  Zusammengehörigkeit  als  etwas 
Neues  zur  gegensatzlosen  Relation  hinzutritt ,  also  eine 
Komplikation  gegenüber  dem  gegensatzlosen  Sachverhalt 
mit  sich  bringt  und  zwar  eine  solche,  die  ebenso  wie  bei 
der  ünzusammengehörigkeit  auf  einer  Losreißung  der  ge- 
gensatzlosen Relation  von  ihren  Gliedern  beruht.  Das 
wahre,  das  übereinstimmende  Gefüge  ist  ebensoweit  vom 
gegenständlichen  Urbild  entfernt,  wie  das  wahrheitswidrige, 
das  nicht  übereinstimmende.  Auch  das  übereinstimmende 
Gefüge  ist  nicht  ein  bloßes  wiederholendes  Abbild  des  Ge- 
genstandes, sondern  eben  ein  bloßes  „Nachbild",  mit  einem 
Phänomen  belastet ,  das  im  Urbild  gar  kein  Original  hat. 
Es  steht  darum  die  Positivität  genau  auf  demselben  Bo- 
den der  Künstlichkeit  wie  die  Negativität.  Die  Region  der 
Nachbildlichkeit  als  solche  und  nicht  etwa  bloß  die  Ne- 
gativität ist  vom  Unzerstückelten  und  Unverkünstelten  der 
Gegenstände  durch  eine  Distanz  geschieden.  Daß  dieser 
Abstand  immer  nur  gerade  an  der  Negativität  hervorge- 
hoben wird,  ist  das  untrügliche  Anzeichen  dafür,  daß  die 
Strukturkünstlichkeit  der  ganzen  Urteilsregion  als  solcher 
garnicht  durchschaut  wird.  Gewiß  steht  das  übereinstim- 
mende Gebilde  als  übereinstimmend  dem  Urbild  näher  als 
das  abweichende.     Aber  es  kommt    geradezu   alles  auf  die 


—     96     — 

Koordinierung  von  Positivität  und  Negativität  in  Hinsicht 
auf  Struktur  künstlichkeit  und  Abstand  von  den  Ge- 
genständen an.  Beim  Fehlen  dieser  Einsicht  muß  man 
unvermeidlich,  geblendet  durch  den  zweifellosen  Vorrang 
der  Wahrheit  vor  der  Wahrheitswidrigkeit,  die  Wahrheit 
als  das  einzig  Ungekünstelte  und  die  Wahrheitswidrigkeit 
als  das  Gekünstelte,  nämlich  als  die  Verzerrung  der  Wahr- 
heit, ansehen. 

Jetzt  erst  zeigen  sich  die  wahren  und  wahrheitswidri- 
gen Objekte  als  das,  was  sie  sind:  als  lauter  zusammen- 
gestückelte Gefüge  der  aus  der  Gegenstandszerstückelung 
hervorgegangenen,  künstlich  auseinandergerissenen  Bestand- 
teile. 

Sowahr  nun  diese  Zerreißung  in  den  unangetasteten 
Gegenständen  selbst  nicht  liegen  kann,  ist  jetzt  dargetan, 
daß  die  auf  solcher  Unterwühlung  der  Gegenstandsregion 
basierenden  Phänomene  des  Zusammenstimmens  und  Nicht- 
zusammenstimmens  ausschließlich  der  nachbildlichen  und 
garnicht  der  urbildlichen  Region  angehören.  Ja ,  es  be- 
steht nicht  einmal  ein  friedliches  Nebeneinander  der  beiden 
Regionen;  die  eine  erhebt  sich  vielmehr  auf  der  Zerstö- 
rung der  andern  und  gibt  sich  dadurch  im  Vergleich  mit 
ihr  als  ein  geradezu  gekünsteltes  Gebilde  zu  erkennen. 
Der  Abstand  zwischen  der  meßbaren  und  der  Maßstabs- 
region hat  sich  als  eine  Distanz  zwischen  einem  Zerstückel- 
ten und  einem  Unzerstückelten  erwiesen.  In  den  Gegen- 
ständen selbst  gibt  es  nur  zunächst  die  bestimmten  gegen- 
satzlosen kategorialen  Relationen.  Und  es  kann  des  wei- 
teren keine  Rede  davon  sein  ,  daß  dort  zwischen  diesen 
Relationen  und  ihrem  Relationsmaterial  eine  Zusammenge- 
hörigkeit besteht.  Das  würde  ja  sofort  die  künstHche  Aus- 
einandergerissenheit von  Relation  und  Relationsgliedern 
voraussetzen.    Es  gibt  darum  dort  nur  ein  schlichtes,  durch 


—     97     — 

keinerlei  Antastung  hindurchgegangenes  Stehen  der  Inhalte 
in  ihren  Relationen.  Es  muß  deshalb  dies  gegen- 
ständliche Ineinander  von  Kategorie  und  Ka- 
tegorienmaterial ausdrücklich  als  ein  derZer- 
stücklung  und  darum  der  Zusammengehörig- 
keit entrücktes,  folglich  als  ein  über  den  Ge- 
gensatz von  Wert  und  Unwert  erhabenes,  also 
gegensatzloses  Verhältnis  bezeichnet  werden. 
Nicht  nur  die  kategoriale  Relation,  sondern  auch  das  die 
gegenständliche  Struktur  ausmachende  Verhältnis,  die  Ver- 
klammerung von  Kategorie  und  Kategorienmaterial,  hat 
sich  als  gegensatzlos  erwiesen. 

Doch  genau  genommen  bedarf  es  jetzt  erst  noch  einer 
Anwendung  der  allgemeinen  Argumentation  für  die  Gegen- 
satzlosigkeit  des  Strukturverhältnisses  auf  die  eigentlichen 
Elemente  der  Gegenstandsregion.  Denn  dort  sind  ja  die 
„Inhalte",  um  deren  Harmonieren  oder  Disharmonieren 
es  sich  handelt,  nicht  a,  b  oder  a,  c,  also  beispielsweise 
Kausalinhalte,  sondern  der  eine  Inhalt  wird  durch  die  Ka- 
tegorie und  der  andere  durch  das  Kategorienmaterial  re- 
präsentiert. Auch  die  kategorialen  Relationen,  beispiels- 
weise die  Kausalität,  gehören  dort  zu  den  Elementen.  Und 
es  können  dann  wiederum  diese  Elemente  oder  Inhalte 
nicht  überhaupt  zusammengehörig  oder  unzusammengehörig 
sein,  sondern  nur  mit  Rücksicht  auf  die  zwischen  ihnen 
bestehende  Beziehung,  d.  h.  aber  mit  Rücksicht  auf  die 
zwischen  Kategorie  und  Kategorienmaterial  bestehende  Ver- 
klammerung. Im  einzelnen  harmonischen  oder  disharmoni- 
schen Objektsgefüge  ist  als  die  entwurzelte  Relation  das 
eigentümliche  Ineinander  von  Kategorie  und  Kategorien- 
material anzusehen,  und  losgerissen  ist  diese  Relation  von 
ihren  Relationsgliedern,  d.  h.  von  dem  bestimmten  Material 
und  der  bestimmten  Kategorie,  die  meist  selbst  eine  Rela- 

Lask,  Lehre  vom  Urteil.  7 


—     98     - 

tion  darstellt.  Diese  Verschlungenheit  von  Kategorie  und 
Kategorienmaterial  ist  die  gegensatzlose  Relation  der  Gegen- 
standsregion, um  deren  Lockerung  von  ihren  Gliedern,  um 
deren  Verschiebbarkeit  gegen  sie,  es  sich  handelt.  Jetzt 
erst  ist  in  Schärfe  bestimmbar,  worin  eigentlich  die  g  e- 
i  genständliche  Ur  struktur  besteht,  die  nach  der 
Kopernikauischen  These  für  die  metalogisch  gedachten 
Gegenstände  einzusetzen  ist.  Sie  erweist  sich  jetzt  als  das 
schlichte ,  durch  keinerlei  Zerreißung  hindurchgegangene 
Stehen  der  dortigen  Elemente,  d.  h.  der  bestimmten  Kate- 
gorie und  des  bestimmten  Materials,  in  der  sie  umspannen- 
den Relation,  d.  h.  in  der  eigentümlichen  Verklammerung, 
die  zwischen  Kate^rie  und  Kategorienmaterial  besteht. 
Aber  die  Verschiebung  der  eigentümlichen  Verschlungen- 
heit zwischen  Kategorie  und  Kategorienmaterial  gegen  ihre 
Glieder  läßt  sich  äquivalent  umformen  in  die  Verschiebung 
der  Kategorien  gegen  ihr  Material.  Und  so  läßt  sich  die 
gegenständliche  ürstruktur  sprachlich  weniger  umständhch, 
allerdings  nur  in  abgekürzter  Redeweise,  auch  als  das 
schlichte  Stehen  des  Kategorienmaterials  in  den  Kategorien 
aussprechen. 

Um  diese  Struktur  eines  durch  keine  Entwurzlung  an- 
getasteten Ineinanders  handelt  es  sich  hier.  Sie  stellt  das 
dar,  woran  der  Sachverhalt  der  nachbildlichen  Zerstücklung 
zu  messen  ist. 

Es  richtet  sich  aber  offenbar  auch  in  jedem  Einzelfall 
die  Wahrheit  und  Wahrheitswidrigkeit  beispielsweise  eines 
Kausalgefüges  danach,  ob  sich  ein  schlichtes  gegensatzloses 
Stehen  der  betreffenden  Elemente  in  der  Kausalrelation  als 
Urbild  aufzeigen  läßt  oder  nicht.  So  enthält  das  wahre 
Gefüge  (z.  B.  a  Ursache  von  b  oder  Ursachenrelation  zu- 
sammengehörig mit  a,  b)  wenigstens  dieselben  Elemente, 
die  im  Gegenstand  gegensatzlos  miteinander  verbunden  sind, 


[ 

\ 

I 


—     99     — 

wenn  auch  in  künstlicher  Auseinandergerissenheit  und  mit 
der  dort  garnicht  vorkommenden  Komplikation  eines  Zu- 
sammenstimmens  behaftet.  Im  wahrheitswidrigen  Gefüge 
(z.  B.  a  Ursache  von  c)  dagegen  liegen  nicht  einmal  die 
im  Urbild  gegensatzlos  mit  einander  verknüpften  Gegen- 
standselemente vor. 

Im  ersten  Kapitel,  wo  es  lediglich  auf  das  bloße  Hin- 
einragen der  gegenständlichen  Elemente  in  die  nachbildliche 
Region  ankam,  wurde  auf  den  Abstand  zwischen  den  beiden 
gleichmäßig  nach  Kategorie  und  Kategorienmaterial  geglie- 
derten Regionen,  also  auf  die  Distanz  zwischen  dem  schlichten 
Urzustand  der  Urbestandteile  und  ihrem  gelockerten,  die 
gegensätzlichen  Gefüge  ermöglichenden  künstlichen  Nach- 
bildlichkeitszustand,  noch  garnicht  Acht  gegeben. 

Der  Ausdruck  „Nachbildlichkeit"  bedarf  somit,  um  \ 
richtig  verstanden  zu  werden,  eines  wesentlichen  Vorbehalts. 
Er  bezeichnet  nur  die  Meßbarkeit  an,  die  Abhängigkeit 
von,  die  Zugeordnetheit  gegenüber  den  Gegenständen.  Er 
darf  nicht  darüber  hinwegtäuschen,  daß  diese  auf  ein  Ur- 
bild hinweisende  Nachbildlichkeit  nur  bei  gleichzeitigem 
Hinzutritt  neuer,  eines  urbildlichen  Repräsentanten  entbeh- 
render Strukturphänomene  stattfindet. 

Jetzt  ist  der  Nachweis  erbracht,  daß  auch  unter  den 
Voraussetzungen  der  Kopernikanischen  Lehre  gerade  das, 
was  der  Urteilsregion  das  Gepräge  gibt,  nicht  in  die  Gegen- 
stände hineinverlegt  werden  darf.  Auch  die  Kopernikanisch 
interpretierte  Gegenstandsregion,  die  gegenständliche  Ur- 
struktur, das  Ineinander  von  Kategorie  und  Kategorien- 
material, steht  als  übergegensätzlicher  Maßstab  den  spezi- 
fischen Phänomenen  der  Urteilsregion  gegenüber.  — 

Es  ist  bisher  das  allgemeine  Argument  für  die  Künst- 
lichkeit des  Zusammengehörens  und  Nichtzusammengehörens 
einfach  auf  die  echten  Strukturelemente,  auf  Kategorie  und 

7* 


f 


—     100     — 

Kategorienmaterial,  angewandt  worden.  Allein  ein  Zusam- 
mengehören gerade  zwischen  Kategorie  und  Kategorien- 
material bringt  noch  eine  ganz  besondere,  bisher  garnicht 
berücksichtigte  Steigerung  der  Künstlichkeit  mit  sich.  Zum 
Verständnis  davon  muß  noch  genauer  untersucht  werden, 
was  es  mit  dem  im  Mittelpunkt  der  Argumentation  stehen- 
den „Verhältnis"  zwischen  diesen  beiden  Strukturelementen 
für  eine  Bewandnis  hat. 

Zunächst  ist  vor  dem  Irrtum  zu  warnen,  Kategorie  und 
Kategorienmaterial  selbst,  so  wie  sie  bisher  auftraten,  zu 
den  Gliedern  eines  zwischen  ihnen  bestehenden  Verhält- 
nisses, zu  den  Bestandteilen  einer  sie  umspannenden  Struk- 
tureinheit, zu  machen '.  Freilich  liegt  eine  Bezogenheit, 
ein  Zusammenschluß  verschiedener  Elemente,  eine  Struktur- 
gefügtheit  überhaupt,  hier  vor.  Aber  als  diese  Elemente 
dürfen  nicht  Kategorie  und  Material  genannt  werden.  Denn 
68  ist  zu  bedenken,  daß  kategoriale  „Form"  bereits  den 
Ausdruck  für  ein  Hinweisen,  Material  bereits  den  Ausdruck 
für  eine  Betroffenheit  enthält.  Bt  die  Form  etwas  Hin- 
weisendes, bereits  auf  ein  anderes  Bezogenes,  so  muß  ein 
von  der  Formsituation  noch  unabhängiges,  gleichsam  vor- 
formales Etwas  gedacht  werden,  dessen  Verflochtensein  iWf 
einem  andern  erst  den  Formcharakter  ergibt.  Insofern  der 
logische  Formgehalt  unsinnlich  ist  im  Unterschied  zum 
sinnlich-anschaulichen  Material,  darf  auch  jenes  vorformale 
Etwas  als  unsinnlich  bezeichnet  werden.  In  der  kategoria- 
len  Form  hat  somit  eine  Relation  bereits  ihren  Ausdruck 
gefunden.  Form  ist  ja  ein  „Hin",  eine  Relation  oder  ge- 
nauer das  eine  Relationsglied,  nämlich  das  vorformale  Un- 
sinnliche mitsamt  der  zum  Gegenglied  hingehenden  Relation 
oder  mitsamt  ihrer  Stellung  innerhalb  der  gegenständlichen 
Struktur.    Nicht  die  Form,  sondern  das  vorformale  Unsinn- 

»  Vgl.  z.  Folgenden  Log.  d.  Philos.,  174  f. 


—     101     — 

liehe  ist  das  eine  Relationsglied,  die  Form  aber  schon  mehr 
als  ein  bloßes  Relationselement  (vgl.  auch  ob.  S.  56).  Ge- 
nau dasselbe  aber  gilt  vom  Material.  Auch  in  ihm  ist  das 
Stehen  in  einem  gewissen  Verhältnis  schon  angedeutet  und 
mitgemeint.  Material  schließt  schon  die  Betroffenheit  eines 
Etwas,  mithin  gleichfalls  seine  Stellung  innerhalb  der  gegen- 
ständlichen Struktur,  bereits  mit  ein.  Nicht  das  Material, 
sondern  das  von  der  Matenalssituation  nocjjijyjj^bhängige, 
das  gleichsam  vormateriale,  noch  unbetroffen  zu  denkende 
Etwas  ist  das  einzige  Gegenglied  der  Relation.  Die  wah- 
ren Elemente  sind  das  "^o^jmatgj^ale  Unsinnliche  und  das 
vormateriale  Etwas.  Zwischen  ihnen  allein  besteht  das  Ur- 
Verhältnis,  um  das  sich  hier  alles  dreht,  sie  allein  sind  die 
Elemente,  die  hier  von  einem  Einheitsband  umspannt  wer- 
den. Dagegen  in  die  bloße  Form  und  in  das  bloße  Mate- 
rial ist  bereits  die  die  wahren  Urglieder  umschließende 
Einheit  mit  hineingenommen.  Es  ist  darum  eine  unsinnige 
Ueberflüssigkeit  und  eine  pleonastische  Verschrobenheit, 
neben  der  in  Form  und  Material  bereits  steckenden,  zwi- 
schen den  letzten  Gliedern  bestehenden  ürrelation  noch 
eine  neue  Beziehung  zwischen  Form  und  Material  sich 
stiften  zu  lassen.  Im  Unterschied  zur  leeren  Form  tritt  in 
der  inhaltlich  erfüllten,  im  Vergleich  mit  dem  bloßen  Ma- 
terial tritt  im  ganzen  Form-Material-Gefüge  nicht  etwa  der 
Zusammenschluß  der  Elemente,  sondern  lediglich  das  eine 
der  beiden  zusammenzuschließenden  Glieder  noch  hinzu. 
Immerhin  jedoch  fehlt  also  im  Vergleich  zum  ganzen  Ge- 
füge der  bloßen  Form  und  dem  bloßen  Material  noch  die 
Ergänzung  durch  das  Gegenglied  des  Urverhältnisses.  Das 
Zusammen  von  Form  und  Material  macht  darum  allerdings 
erst  die  Vollständigkeit  und  Abgeschlossenheit  dieses  Be- 
ziehungsganzen aus. 

Was   hier  von  Form   und  Material   überhaupt   ausge- 


—     102     — 

macht  wurde,  muß  sich  jetzt  auch  an  der  Einzelform  und 
am  Einzelmaterial  bestätigen.  Auch  bei  ihnen  muß  auf 
die  dahinter  stehenden  wahren  Elemente  des  dabei  vor- 
liegenden Strukturverhältnisses  zurückgegangen  werden. 

Dazu  bedarf  es  jedoch  zunächst  einer  Verständigung 
über  das  Prinzip  der  kategorialen  Differenzierung  ^ 
Zugrundegelegt  wird  hier  eine  Ansicht,  nach  der  die  Zer- 
spaltung  in  die  Mannigfaltigkeit  der  Einzelformen  ganz  und 
gar  vom  Material  herstammt.  Wie  Formartigkeit  überhaupt 
das  mit  einem  Hinweisungssymptom  überhaupt  versehene 
ünsinnliche  darstellt,  so  repräsentiert  die  bestimmte  Einzel- 
form das  mit  einem  Hinweis  sogar  auf  bestimmtes  Einzel- 
material bereicherte  ünsinnliche.  Die  Bestimmtheit  der 
Einzelform  ist  lediglich  als  eine  Abbreviatur  für  den  Sach- 
verhalt anzusehen,  daß  das  Unsinnliche  zu  ganz  bestimm- 
tem Material  hingeltend  gedacht  werden  soll,  enthält  also 
lediglich  den  Ausdruck  für  die  Eingeengtheit  und  Zuge- 
spitztheit  der  Eorm  überhaupt  auf  ganz  bestimmtes  Mate- 
rial. Beispielsweise  und  lediglich  um  zu  illustrieren:  statt 
umständlich  zu  sagen :  theoretische  Form,  insoweit  sie  ge- 
rade bestimmtgeartetes  koexistierendes  sinnliches  oder  in- 
soweit sie  gerade  bestimmtgeartetes  sukzedierendes  sinn- 
liches Material  betrifft,  bedienen  wir  uns  der  Abkürzungen 
„Dingheit"  oder  „Kausalität".  Wie  in  der  Formartigkeit 
als  solcher  die  ßezogenheit  überhaupt,  so  hat  in  einer  be- 
stimmten Kategorie  die  Bezogenheit  des  Unsinnlichen  auf 
ganz  bestimmtes,  auf  gerade  dies  und  dies  und  kein  ande- 
res Material  einen  Ausdruck  gefunden.  Die  Bestimmtheit 
der  Form  soll  Form g e h a  1 1  oder  „Bedeutungs bestimmt- 
heit",  diejenige  Besonderheit  am  Material,  auf  die  zuge- 
spitzt, die  Form  zum  bestimmten  Gehalt  sich  spezialisiert, 
bedeutungsbestimmendes  Moment  genannt  werden.  Obwohl 
'  Vgl.  z.  Folgenden  Log.  d.  Philos.,  57  ff. 


—     103     — 

in  der  Sphäre  der  Form  liegend,  enthält  die  Bedeutungs- 
schicht doch  bereits  einen  von  außen  her  stammenden 
Widerschein,  d.  h.  obwohl  es  das  Unsinnliche  ist,  das  hier 
in  Beziehung  stehend  gedacht  wird,  spielt  doch  bereits  das 
Material  mit  hinein,  als  das,  dem  gegenüber  die  Bezogen- 
heit  stattfindet. 

Hat  man  einmal  das  letzte  Geheimnis,  das  sich  im 
Hinsichtlichkeitscharakter  des  Ünsinnlichen  kundtut,  hin- 
genommen, so  gibt  die  Zerspaltung  in  die  Einzelformen 
kein  neues  Rätsel  mehr  auf.  Es  liegt  immer  dasselbe, 
überall  sich  wiederholende  Grundverhältnis  zwischen  dem 
Ünsinnlichen  und  der  Form  überhaupt  auf  der  einen  und 
dem  bestimmten  Material  auf  der  andern  Seite  vor,  jenes 
eine  Urverhältnis,  das  nur  infolge  der  Variabilität  des  ma- 
terialen  Yerhältnisgliedes  die  Vielheit  der  Formen  ermög- 
licht, in  denen  ja  lediglich  das  Betroffensein  all  des  mannig- 
faltigen Materials  durch  das  Eine  —  hierbei  Form  werdende 
—  ünsinnliche  einen  Ausdruck  findet. 

Es  muß  aber  noch  besonders  berücksichtigt  werden, 
daß  das  bedeutungsbestimmende  Moment  am  Material  und 
das  Material  in  seiner  ganzen  konkreten  Fülle  nicht  zu- 
sammenfällt. Läßt  man  nämlich  das  Material  nicht  bis  in 
alle  Unendlichkeit  seiner  konkreten  Individualität  als  be- 
deutungsbestimmend fungieren,  dann  bildet  der  bedeutungs- 
bestimmende Faktor  nur  ein  abstraktes  Moment,  eine  gat- 
tungsmäßige Bestimmtheit  am  Material.  So  ist  z.  B.  be- 
deutungsbestimmend für  die  „Gebietskategorie"  des  Real- 
seins die  unterschiedslos  allen  sinnKch-anschaulichen  In- 
halten anhaftende  sinnliche  Anschaulichkeit  überhaupt  und 
nichts  anderes  weiter,  weshalb  ungeachtet  aller  sonstigen 
Verschiedenheit  alles  Sinnlich-Anschauliche  schon  als  sol- 
ches ,  um  seiner  allgemeinen  sinnlichen  Anschaulichkeit 
willen,  als  ein  Seiendes  bezeichnet  werden  muß.     Realsein 


—     104     — 

ist  zwar  gewiß  eine  Kategorie,  in  der  die  individuellen 
sinnlich  anschaulichen  Konkretissima  stehen,  aber  bedeu- 
tungsbestimmend ist  an  diesen  nur  ihre  sinnliche  Anschau- 
lichkeit überhaupt.  Ebenso  muß  z.  B.  das  bedeutungs- 
bestimmende Moment  für  die  Kategorie  der  Kausalität  in 
jener  ganz  allgemeinen  Eigentümlichkeit  des  anschaulichen 
Vollmaterials  gelegen  sein,  die  schuld  daran  ist,  daß  all 
die  unzähligen  konkreten  individuellen  Kausalzusammen- 
hänge gleichmäßig  Kausalzusammenhänge  sind.  Dasjenige, 
um  dessen  willen  a,  b  in  der  Kausalrelation  steht,  kann 
doch  nur  das  sein,  um  dessen  willen  es  mit  allem  übrigen 
Kausalmaterial  übereinstimmt.  Im  Inbegriff  des  Kausal- 
materials, in  diesem  Herrschaftsbereich  der  Kausalität,  ist 
bedeutungsbestimmend  für  Kausalität  nur  die  allen  Einzel- 
heiten des  Bereichs  zukommende  Gruppenbestimmtheit.  In 
diesem  Falle,  in  dem  das  bedeutungsbestimmende  Moment 
verschwindend  ist  gegenüber  der  unendlichen  Fülle  des 
Materials,  „herrscht"  die  kategoriale  Einzelform  über  eine 
Unzahl  von  Materialseinzelheiten.  Der  Formgehalt  zer- 
splittert sich  nicht  in  eine  Unendlicbkeit  von  formalen 
Einzelgestaltungen,  sondern  läßt  sich  in  einigen  wenigen 
alles  Material  durchsetzenden  Grundformen  sammeln.  Da 
nur  dieser  Fall  für  die  „apriorische  Form"  berücksichtigt 
zu  werden  pflegt,  so  verbindet  sich  für  uns  wie  selbstver- 
ständlich mit  der  transzendental  -  logischen  Formartigkeit, 
d.  h.  mit  der  Hinsichtlichkeit  und  Erfüllungsbedürftigkeit 
des  Unsinnlichen,  der  Charakter  der  über  den  Materials- 
bereich herrschenden  Allgemeinheit. 

So  steht  das  Material,  gleichsam  in  Bereiche  zerfallend, 
in  den  Kategorien.  Und  zwar  stehen  innerhalb  der  ]^e- 
reiche  die  Materialseinzelheiten  um  ihres  bedeutungsbestim- 
menden Gruppencharakters  willen  in  der  bestimmten  Kate- 
gorie.    Damit    aber   ist   ausgemacht,    daß   im    Bedeutungs- 


—     105     — 

gehalt  der  Kategorie  wie  über  die  Hingewiesenheit  auf  das 
bedeutungsbestimmende  Moment  und  den  ganzen  Materials- 
bereich, so  auch  mit  einem  Schlage  über  die  Bezogenheit 
auf  alle  Gruppen  einzelheiten  entschieden  ist.  Und 
ebenso  ist  umgekehrt  mit  einer  beliebigen  Materialseinzel- 
heit durch  das  bedeutungsbestimmende  Moment  hindurch 
die  sie  betreffende  Kategorie  bereits  festgelegt.  Wenn 
darum  hier  gezeigt  wurde,  daß  in  der  Einzelkategorie  das 
Verhältnis  zum  Einzelmaterial  bereits  einen  symptomatischen 
Ausdruck  gefunden  hat,  so  ist  dabei  unter  Einzelmaterial 
nicht  bloß  der  bestimmte  Materialsbereich  im  ganzen,  son- 
dern ohne  weiteres  auch  jede  letzte  Materialseinzelheit  zu 
verstehen. 

Es  hat  sich  somit  ergeben,  daß  wie  im  Formcharakter 
überhaupt  die  Bezogenheit  des  Unsinnlichen  zum  materialen 
Gegenglied  überhaupt,  so  in  der  Einzelform  die  Hinge- 
wiesenheit sogar  zum  besonderen  Material  bereits  nieder- 
gelegt ist.  Daraus  folgt  nun  wiederum :  genau  so  unsinnig, 
wie  von  einer  besonderen  Beziehung  zwischen  Form  und 
Material  zu  reden,  ist  es  auch,  eine  Beziehung  zwischen 
einzelner  Kategorie  und  einzelnem  Material  sich  stiften  zu 
lassen.  Denn  wie  in  die  Form  das  Verhältnis  zum  Mate- 
rial überhaupt,  so  ist  ja  in  die  Einzelform  die  Beziehung 
zum  besonderen  Material  bereits  hineingenommen.  Und 
ebenso  verhält  es  sich,  vom  Material  aus  angesehen.  Man 
kann  ein  bestimmtes  Etwas  entweder  kategorial  unbetroffen 
oder  betroffen  denken.  Aber  wenn  man  es  einmal  be- 
troffen denkt,  dann  ist  über  die  bestimmte  Kategorie,  um 
die  es  sich  allein  handeln  kann,  bereits  entschieden,  was 
man  gewöhnlich  auch  so  ausdrückt,  daß  bestimmtes  Mate- 
rial eine  bestimmte  und  keine  andere  Kategorie  „verlange**. 
Durch  die  Bestimmtheit  des  materialen  Etwas  und  die  theo- 
retische Form  überhaupt,  in  die  es  durch  die  Angabe  „Ma- 


—     106     — 

terial"  schon  hineingestellt  wird,  ist  die  betreffende  Kategorie 
bereits  eindeutig  fixiert.  Auch  hierfür  gilt :  die  eigentlichen 
ßeziehungsglieder  und  Strukturelemente  sind  nicht  Einzel- 
form und  bestimmtes  Material,  sondern  ünsinnliches  über- 
haupt und  bestimmtes  Etwas. 

Will  man  ungekünstelt  und  dem  wahren  Sachverhalt 
entsprechend  das  Kategorie  und  Kategorienmaterial  zu- 
grundeliegende Einheitsgefüge  erfassen,  so  muß  man  sich 
jeden  Augenblick  an  den  wahrhaft  letzten  Gliedern  des 
dahinterstehenden  Urverhältnisses  orientieren.  So  lange 
man  in  dieser  Urregion  verharrt,  ist  die  Vorstellung  eines 
Zusammenpassens  und  Nichtzusammenpassens  der  Glieder 
noch  ganz  unbegreiflich.  Erst  die  verschrobene  Ueber- 
tragung  des  Strukturverhältnisses  auf  Kategorie  und  Kate- 
gorienmaterial schafft  die  Vorbedingung  dafür,  daß  die  ür- 
bestandteile  der  theoretischen  Struktur  überhaupt  mit  in 
die  Reihe  solcher  Elemente  eintreten,  bei  denen  von  Zu- 
sammengehörigkeit und  UnZusammengehörigkeit,  von  einer 
Auseinanderreißung  der  Relationen  und  der  Relations- 
glieder, die  Rede  sein  kann. 

In  der  Urregion  nämlich  gibt  es  nur  das  Hinweisen 
des  Einen  noch  undifferenzierten  Unsinnlichen  auf  das  — 
dadurch  zum  Material  werdende  —  mannigfaltige  Etwas 
oder  die  Betroffenheit  dieses  Etwas  durch  das  Eine  Un- 
sinnliche. In  diesem  Strahlenbüschel  von  Relationen  findet 
sich  nirgends  der  geringste  Ansatzpunkt  für  ein  Harmo- 
nieren und  Disharmonieren  von  Elementen.  Der  Schein 
einer  Berechtigung  dieser  ganzen  Vorstellung  tritt  erst  her- 
vor, wenn  der  Sachverhalt  der  Urregion  in  der  Sprache 
der  kategorialen  Bedeutungsdifferenzierung  ausgedrückt  wird. 
Für  das  Hinweisen  des  Unsinnlichen  zu  bestimmtem  Ma- 
terial, für  die  Betroffenheit  einer  einzelnen  Materialsbe- 
stiramtheit   durch    das  Unsinnliche,    also   für   die   einzelnen 


—     107     — 

Beziehungslinien  aus  jenem  Strahlenbiischel,  wird  dann  je 
eine  bestimmte  Kategorie  geprägt.  Dann  gibt  es  nicht 
mehr  bloß  das  Eine  ünsinnliche  und  die  Mannigfaltigkeit 
des  Materials,  sondern  außerdem  soviel  Kategorien,  als 
man  Momente  am  Material  hat  bedeutungsbestimmend  wer- 
den lassen. 

Dadurch  sind  die  Vorbedingungen  für  eine  Verdunk- 
lung der  Verhältnisse  in  der  Urregion  gegeben.  Zunächst 
nämlich  wird  vergessen,  daß  die  Kategorie  nichts  anderes 
ist  als  der  Ausdruck  für  eine  jener  Beziehungslinien  (des 
Strahlenbüschels),  daß  somit  in  ihrem  bestimmten  Bedeu- 
tungsgehalt nicht  nur  der  im  Unsinnlichen  liegende  An- 
fangspunkt der  Linie  enthalten,  sondern  auch  ihr  materialer 
Endpunkt  andeutungsweise  und  symptomatisch  bereits  ein- 
deutig festgelegt  ist.  Es  wird  der  Anschein  erweckt,  als 
bedeuteten  Kategorie  und  Bezogenheit  zu  einem  bestimmten 
Material  etwas  Verschiedenes;  es  wird  ignoriert,  daß  die 
ganze  Bezogenheit,  die  Richtung  der  Beziehungslinie,  schon 
ganz  und  eindeutig  in  der  Kategorie  liegt,  im  Bedeutungs- 
gehalt der  Kategorie  deren  materiale  Erfüllung  gleichsam 
vorgezeichnet  und  besorgt  ist.  So  wird  die  Möglichkeit 
geschaffen,  zwischen  Kategorie  und  Material  noch  eine  Be- 
ziehung zu  statuieren.  Jetzt  braucht  bloß  noch  in  Rück- 
sicht gezogen  zu  werden,  daß  es  eine  Vielheit  von  Kate- 
gorien entsprechend  der  Vielheit  der  bedeutungsbestimmen- 
den Momente  gibt.  Eine  solche  Vielheit  von  Kategorien 
aber,  von  denen  jede  losgelöst  gedacht  wird  von  der  in  ihr 
eindeutig  festgelegten,  zum  Material  hinführenden  Strahlen- 
richtung, eine  Vielheit  also  von  gleichsam  in  ihrer  Rich- 
tung zum  Material  verschiebbar  oder  beweglich  gewordenen 
Kategorien,  ermöglicht  nunmehr  auch  die  Vorstellung,  daß 
zwischen  den  selbständig  gewordenen  einzelnen  Kategorien 
und   den    einzelnen  Materialsbestimmtheiten   allerlei  Bezie- 


—     108     — 

hungen  feiDdlicher   und   freundlicher  Art  bestehen. 

Genau  dieselbe  Argumentation  ergibt  sich,  wenn  man 
dies  Harmonieren  und  Disharmonieren  vom  Material  aus 
betrachtet.  Durch  die  Angabe  eines  bestimmten  Materials 
als  „Materials",  also  durch  die  Angabe  seiner  Betroffen- 
heit durch  das  Unsinnliche  überhaupt,  ist  wiederum  über 
die  Strahlenrichtung  und  d.  h.  über  die  Kategorie  genau 
so  entschieden  wie  vorher  durch  Angabe  der  Kategorie 
über  das  Material.  Man  muß  sich  auch  hier  wieder  erst 
eine  Nichtdeterminiertheit  vortäuschen,  will  man  die  ganze 
Redeweise  vom  Zusammengehören  und  Nichtzusammen- 
gehören  verstehen. 

Das  angebliche  Harmonieren  wie  das  Disharmonieren 
beruht  also  auf  einer  künstlichen  Auseinanderreißung  von 
Kategorie  und  Kategorienmaterial  einerseits  und  der  in 
ihnen  bereits  festgelegten  Beziehungsrichtung  andererseits 
oder,  was  auf  dasselbe  hinausläuft,  auf  einer  künstlichen 
Auseinanderreißung  von  bestimmter  Kategorie  und  bestimm- 
tem Material.  Es  wird  der  Schein  erweckt,  als  wäre  es  eine 
sinnvolle  Frage,  welche  Gegenglieder  in  den  Beziehungs- 
gefügen  zu  einzelnen  Kategorien  und  einzelnen  Materials- 
stücken passen  oder  nicht  passen. 

Jetzt  ist  angegeben,  welche  besondere  Künstlichkeit 
noch  dann  hinzutritt,  wenn  es  sich  —  und  gerade  das  ge- 
schieht ja  der  Sache  nach  stets  —  um  das  Zusammen- 
gehören und  Nichtzusammengeliören  gerade  von  Kategorie 
und  Kate^'orietimaterial  iiandelt.  Zu  der  Verschiebung  der 
Elemente  gegeneinander,  der  Beweglichmachung  der  Re- 
lationen und  ihrer  Glieder,  kommt  dann  noch  die  Ignorie- 
rung des  Umstandes  hinzu,  daß  in  jedem  dieser  Elemente 
das  bestimmte  Gegenglied  bereits  festgelegt  ist. 

Unsrer  in  die  (le^ensUtzlichkeit  eingelebten  Denkweise 
fällt  es  immer  äußerst  schwer,  den  Sachverhalt  der  gegen- 


—     109     — 

satzlosen  Urregion,  wo  schlecht  und  recht  nur  ein  Hin- 
weisen und  eine  Betroffenheit  vorkommt,  in  seiner  ursprüng- 
lichen Unverdorbenheit  stehen  zu  lassen.  Wir  können 
kaum  umhin,  ihn  mit  Glossen  zu  versehen,  die  gerade  das 
zerstören,  worauf  es  ankommt.  Der  Versuchung  läßt  sich 
schwer  widerstehen,  in  das  schlecht  und  recht  bestehende 
Verhältnis  eine  gegensätzliche  Richtigkeit,  Wahrheit,  Gültig- 
keit hineinzufälschen,  also  die  Positivität  in  die  Gegen- 
standsregion hineinzuverlegen.  Man  meint,  das  Material 
stehe  doch  in  „seiner"  Kategorie,  die  Kategorie  erfasse 
„ihr"  Material.  „Seine"  Kategorie  und  „ihr"  Material 
erscheinen  dann  als  das,  was  dem  betreffenden  Element  in 
Wahrheit,  gültiger  oder  richtiger  Weise,  zukommt,  als  die 
gebührenden  oder  geforderten  Gegenglieder. 

Es  darf  somit  gegen  die  Gegensatzlosigkeit  der  ur- 
bildlichen Region  kein  Einwand  aus  dem  Umstand  her- 
genommen werden ,  daß  das  Erkennen ,  sobald  es  sich 
die  gegenständlichen  Relationen  zu  vergegenwärtigen  sucht, 
immer  versucht  ist,  sie  durch  die  gegensätzliche  Positivität 
zu  umschreiben.  Es  ist  eben  eine  Bemächtigung  der  Gegen- 
stände stets  verbunden  mit  einer  Auseinanderreißung  und 
einer  nachträglichen  Zusammenpassung  der  zerstückelten 
Elemente.  Die  Gegenstände  werden  zu  Urteilsobjekten  um- 
gearbeitet, d.  h.  zu  Gebilden,  über  deren  positive  odfer 
negative  Qualität  eine  Entscheidung  aussteht.  Aber  ist 
dies  einmal  durchschaut,  so  ist  eine  Wiederherstellung  der 
y  ursprünglichen  gegensatzlosen  Struktur  als  des  Maßstabes 
der  Urteilsobjekte  jederzeit  möglich.  Die  unmittelbaren 
„Objekte"  alles  Urteilens  sind  niemals  die  „Gegenstände" 
selbst,  sondern  Gebilde,  in  denen  die  Gegenstände  bereits 
mit  entstellenden  Strukturzusätzen  überdeckt  sind.  — 

Wenn   in    der   Einleitung  die   Behauptung    aufgestellt 
wurde,   daß  durch  den  Abstand  zwischen  den  gegenständ- 


4 


—     110     — 

liehen  und  den  nicbtgegenständlichen  logischen  Phänomenen 
sich  die  fundamentale  Gliederung  der  gesamten  Logik  be- 
stimmt, so  ist  jetzt  das  "Wesen  der  die  Nichtgegenständlich- 
keit  verschuldenden  Künstlichkeit  genauer  gekennzeichnet 
worden.  Xunmehr  läßt  sich  auch  das  Verhältnis  zwischen 
der  Urteilsregion  und  den  transzendentallogischen  Phäno- 
menen noch  weiter  verfolgen. 

Erst  wenn  diese  Künstlichkeit  der  nachbildlichen  Re- 
gion durchschaut  ist,  läßt  sich  eine  Klarheit  darüber  ge- 
winnen, in  welchem  Sinne  die  nichtgegenständliche  ,Form" 
des  Urteils  der  gegenständlichen  ..Materie'"  gegenübersteht. 
Denn  es  hat  sich  ja  ergeben,  daß  zwar  freilich  die  Ele- 
mente der  Gegenstandsregion  in  die  Urteilsstruktur  hinein- 
gearbeitet werden,  aber  doch  bei  gleichzeitiger  Zerstörung 
der  gegenständlichen  Urstruktur.  Xicht  unversehrt,  sondern 
zerstückelt,  nur  mit  ihren  isolierten  Elementen,  bilden  die 
Gegenstände  die  „Materie"  für  die  „Form"  des  Urteils. 
Die  nachbildlicbe  Struktur  ist  „Form"  im  Sinne  der  U  m- 
formung.  Gibt  man  dem  scholastischen  Begriffspaar  „Form" 
—  „Materie"  des  Urteils  diese  besondere  Nebenbedeutung, 
denkt  man  dabei  die  .,Form"  als  die  zerstückelnde  üm- 
gestalterin,  die  „Materie''  als  den  zu  verarbeitenden  Gegen- 
stand, faßt  man  also  dies  Begriffspaar  mit  einem  erkennt- 
nistheoretisch-prägnanten Beigeschmack  und  reflektiert  man 
nicht  nur  auf  die  Allgemeinheit  der  Form  gegenüber  der 
Variabilität  der  individualisierenden  Materie  (vgl.  oben  S.  86), 
dann  läßt  sich  verstehen,  daß  bei  Kopernikanischer  Orien- 
tiertheit  der  Logik  die  „formale"  und  die  „materiale"  Logik 
sich  auf  die  nichtgegenständliche  und  die  gegenständlicbe 
Region  verteilen  müssen. 

Erst  seit  Kant  kann  es  jedoch  den  Begriff  der  for- 
malen Logik  überhaupt  geben,  d.  h.  kann  die  gesamte  vor- 
kantiscbe  Logik  als  formal  durchschaut  werden.     Seit  der 


—    111    — 

Kantischen  Revolutionierung  ist  das  „Formale"  nicht  mehr 
das  Logische .  sondern  e  i  n  Logisches ,  und  das  Gesamt- 
gebiet der  Logik  zerfällt  in  das  Formallogische  und  das 
Materiallogische.  Freilich  ist  damit  ein  ganz  bestimmter 
Begriff  des  Formallogischen  fixiert,  der  eben  einfach  mit 
dem  Nichtgegenständlichen  zusammenfällt.  Doch  für  den 
genaueren  Sinn  dieser  Nichtgegenständlichkeit  muß  streng 
am  Primat  des  Gegenständlich-Logischen  festgehalten  wer- 
den. Die  Nichtgegenständlichkeit  bedeutet  eine  Distanz 
gegenüber  den  Gegenständen  nicht  im  Sinne  einer  Erhaben- 
heit über  sie,  sondern  eines  Nichtheranreichens  an  sie.  Das 
Formallogische  darf  nicht  etwa  so  gedacht  werden,  daß  es 
über  dem  Transzendentallogischen  als  eine  höhere  logische 
Region  des  noch  garnicht  auf  Gegenstände  gehenden,  um 
Gegenstände  noch  unbekümmerten  „reinen"  Logos  schwebte, 
die  sich  dann  erst  durch  Hineinnahme  der  Gegenstände, 
durch  Anwendung  auf  sie,  zum  Materiallogischen  verengerte. 
Vielmehr  hat  sich  umgekehrt  das  Formallogische  als  ein 
theoretisches  Organon  herausgestellt,  das  sich  in  der  theo- 
retischen Gesamtökonomie  nur  in  seiner  Dienst-  und  Mittel- 
stellung den  Gegenständen  gegenüber  begreifen  läßt.  Seine 
angeblich  davon  unabhängige  Selbständigkeit  und  Verständ- 
lichkeit wird  nur  durch  die  Hartnäckigkeit  eines  Abstra- 
hierens  von  den  Gegenständen  vorgetäuscht,  auf  deren  Basis 
es  sich  erst  als  eine  mit  deren  Elementen  wirtschaftende 
Komplikation  aufbaut.  Allerdings  sind  die  Phänomene  der 
formalen  Logik  —  z.  B.  Begriff,  Urteil,  Schluß  —  durch 
eine  alles  beherrschende  Allgemeinheit  ausgezeichnet.  Aber 
es  sollte  bedacht  werden ,  daß  diese  Allanwendbarkeit  der 
formallogischen  Phänomene  lediglich  dem  Umstand  ver- 
dankt wird,  daß  sie  an  die  auch  über  die  letzten  Unter- 
schiede innerhalb  der  Gegenstände  erhabene  gegenständ- 
liche Urstruktur,    die  Gespaltenheit  in  Kategorie   und  Ka- 


—     112     — 

tegorienmaterial,  anknüpfen ,  und  als  nachträgliche  Kom- 
plikationen gerade  von  dieser  samt  und  sonders  zu  verstehen 
sind.  In  diesem  Sinne,  das  kann  nunmehr  festgestellt 
werden,  gehört  die  ürteilslehre  eindeutig  der  „formalen 
Logik"  an.  Denn  nach  der  hier  vertretenen  Auffassung 
gehören  ja  in  deren  Bereich  alle  nichtgegenständlichen  logi- 
schen Phänomene  und  nicht  etwa  nur  die  Gebilde  der  sog. 
^formalen  Wahrheit". 

Es  muß  aber  der  Primat  des  Gegenständlich-Logischen 
mit  der  Zuspitzung  verfochten  werden,  daß  in  der  gegen- 
ständHchen  Region  nicht  nur  das  logische  ürphänomen 
liegt,  sondern  daß  geradezu  das  Spezifische  des  Theoreti- 
schen, das  dem  theoretischen  Gebiet  überhaupt  das  Gepräge 
Gebende  und  es  von  allem  Atheoretischen  Unterscheidende 
ausschließlich  dort  seinen  Sitz  hat.  Die  Kategorien 
bergen  den  spezifisch  theoretischen  Gehalt.  In  die  Kate- 
gorien muß  sich  versenken,  wer  den  eigentümlichen  Bedeu- 
tungsgehalt des  Theoretischen  kennen  lernen  will.  Er  fehlt 
geradezu  in  all  den  Strukturkomplikationen,  wie  „Begriff", 
„Urteil"  und  „Schluß",  also  in  der  eigentümlichen  „Form" 
all  der  Gebilde,  in  denen  die  vorkantische  Logik  ganz  eigent- 
lich das  Theoretische  verkörpert  sehen  mußte.  Die  Eigen- 
tümlichkeit dieser  sekundären  theoretischen  Phänomene  be- 
steht doch  gerade  darin,  daß  ihr  Sinn,  nämlich  ihre  Struk- 
tureigentümlichkeit als  solche,  also  ihr  „formales"  Wesen, 
mit  völligem  Absehen  von  allem  „Inhalt"  und  d.  h.  von 
allem  gegenständlichen  und  d.  h.  nach  der  Kopernikani- 
schen  Interpretation  sogar  von  allem  kategorialen,  also  spe- 
zifisch theoretischen  Gehalt  sich  verstehen  läßt.  In  der 
Tat,  der  für  die  Urteilsregion  maßgebliche  Gegensatz  der 
Qualität  repräsentiert  gar  nicht  ein  spezifisch  theoretisches, 
sondern  ein  allgemeinstes  Geltungs-  und  Wertphänomen. 
Ihren    spezifisch  theoretischen    Einschlag    aber    erhält    die 


—     113     — 

Wahrheit  und  Wahrheitswidrigkeit  und  so  auch  das  Ja  und 
das  Nein,  nicht  durch  ihre  Struktureigentümlichkeit  als 
solche,  sondern  dadurch,  daß  die  Struktur  elemente  die 
spezifisch  theoretischen,  nämlich  nichts  anderes  als  gerade 
Kategorie  und  Kategorienmaterial  sind.  Dadurch  erst  wird 
die  Gegensätzlichkeit  überhaupt  zur  theoretischen  Gegen- 
sätzlichkeit. So  stammt  ganz  allgemein  das  spezifisch  theo- 
retische Gepräge  der  Strukturpbänomene  stets  aus  den  Ele- 
menten, mit  denen  bei  ihnen  operiert  wird,  also  aus  ihrer 
„Materie",  nicht  aus  ihrer  „Form".  Gerade  das,  was  das 
einzige  Thema  der  vorkantischen  Logik  bildete,  erweist  sich 
somit  jetzt  als  ein  Umkreis  von  Phänomenen,  in  denen  die 
eigentlich  theoretische  Bedeutsamkeit  gamicht  kenntlich  her- 
vortritt. 

Mit  der  Xichtgegenständlichkeit  der  Urteilsstruktur 
widerstreitet  es  nicht,  daß  ihr  in  ihrer  Materie  ein,  wenn 
auch  innerhalb  des  Urteilsgefüges  seine  eigene  Struktur  ein- 
büßender, gegenständlicher  Bestand,  nämlich  die  gegen- 
ständliche Urstruktur,  eindeutig  korrespondiert.  Andern- 
falls wäre  nicht  einmal  eine  Angliederung  der  ürteilsstruk- 
tur  an  die  transzendentallogische  Region  und  damit  die 
ganze  metagrammatische  Prädikatstheorie  möglich  gewesen. 
Diese  Einsicht,  daß  so  einerseits  die  Elemente  des  gegen- 
ständlichen Urbilds  in  die  Urteilsstruktur  hineinragen,  aber 
doch  so,  daß  sie  hierbei  unter  Preisgabe  der  urbildlichen 
in  eine  nachbildliche  Struktur  eingehen,  gestattet  noch  ein 
Nachwort  zur  metagrammatischen  Prädikationstheorie.  Kate- 
gorie und  Kategorienmaterial  stellen  sich  zwar  als  die 
echten,  den  Gegenständen  entnommenen  Urbestandteile  aller 
theoretischen  Strukturgliederung  dar,  aber  als  „Subjekt" 
und  „Prädikat"  sind  sie  bereits  in  den  nachbildlichen  Struk- 
turzustand versetzt  gedacht ;  sind  sie,  obwohl  der  urteils- 
jenseitigen Region  entnommen,  doch  bereits  nach  ihrer  Stel- 

Lask,  Lehre  vom  Urteil.  o 


—     lU     — 

lung  innerhalb  der  Urteilsstruktur  gekennzeichnet.  Denn 
ihr  Subjekts-  und  Prädikatscharakter,  wonach  die  Katego- 
rien als  ein  ausdrücklich  Prädiziertes  charakterisiert 
sind  und  es  sich  um  ein  Hinein  stellen  des  Materials 
in  die  Form  handelt,  setzt  die  Künstlichkeit,  nämlich  offen- 
bar eine  Zerstörung  des  Urzustandes,  in  dem  es  ja  nur  das 
schlichte  Stehen  des  Materials  in  der  Kategorie  gibt, 
setzt  das  nachträgliche  Zusammenstückeln  und  Aufbauen 
dessen  voraus,  was  an  sich  in  fertiger  unzerstückelter  Ganz- 
heit besteht.  Es  ist  deshalb  unstatthaft,  die  Bezeichnungen 
Subjekt  und  Prädikat  für  Kategorie  und  Kategorienmaterial 
im  gegenständlichen  Urzustand  zu  gebrauchen.  Dort  gibt 
es  vielmehr  lediglich  solche  Bestandteile,  die  nach  der 
Zerstücklung  als  Subjekt  und  Prädikat  zu  fungieren  berufen 
sind,  an  sich  aber  in  den  Gegenständen  ein  voj^^jj^je|^J^j|ii^ 
tiges  und  vorprädikatives  Dasein  führen. 

In  genau  de'r^Tben  Distanz  zum  Gegenstand  aber  wie 
das  Urteil  steht  der  in  dieser  Hinsicht  mit  dem  Urteil  völ- 
lig zusammenfallende  „Begriff"  (vgl.  ob.  S.  49  f.  u.  67  ff'.), 
während  der  „Schluß"  und  die  sonstigen  Gebilde  der  „for- 
malen Wahrheit''  in  einem  noch  größeren  Abstand  der 
Xichtgegenständlichkeit  sich  befinden. 

Freilich  ist  es  allbekannt,  daß  gerade  in  dem  hier  fest- 
gestellten Sinn  der  Nichtgegenständlichkeit  die  vorkantische 
Logik  in  ihren  höchsten  Ausprägungen  nicht  als  „formale 
Logik"  angesehen  werden  will.  Allein  insofern  in  der  ge- 
samten theoretischen  Philosophie  vor  Kant  die  Gegenstände 
als  dem  Logischen  jenseitig  gelten,  kann  der  Sache  nach 
das  Logische  nur  als  nichtgegenständlich  und  folglich  in 
diesem  Sinne  als  einer  bloß  formalen  Bedeutung  fähig  ge- 
nommen worden  sein.  Wenn  trotzdem  von  seiner  ontolo- 
gisch-metaphysischen  Bedeutung  geredet  wird,  so  kann  dies 
zunächst  einmal  in  einem  Sinne  gemeint  sein,  der  mit  der 


—     115     — 

zweifellosen  Logosjenseitigkeit  der  Gegenstände  und  Gegen- 
standsdiesseitigkeit  des  Logischen  versöhnbar  ist.  Auf  dem 
Boden  der  vorkantischen  Grundanschauung  vermag  näm- 
lich eine  noch  so  hohe  gegenständliche  Bedeutung  des  Lo- 
gischen der  Sache  nach  letzten  Endes  immer  nur  auf  das 
Hineinragen  der  eben  logosfremden  Gegenstände  in  die  für 
sich  eben  doch  nichtgegenständlich  bleibende  logische  Re- 
gion hinauszulaufen.  Das  heißt  aber  nichts  anderes,  als 
daß  ungeachtet  aller  auf  der  theoretischen  Seite  neu  hin- 
zutretender Strukturphänomene  und  durch  sie  hindurch 
wenigstens  ein  weitestgehendes  treues  Widerspiegeln  der 
Gegenstände  und  der  gegenständlichen  Gliederung  verstattet 
ist.  So  korrespondiert  ja,  wie  sich  herausgestellt  hat,  dem 
ürteilsgefüge  eindeutig  die  gegenständliche  Urgliederung, 
aber  doch  eben  nur  als  deren  bloße  noch  überdies  umge- 
staltete „Materie",  ohne  daß  die  eigentümliche  „Form"  des 
Urteils  etwas  von  Abbildlichkeit  aufwiese.  Aehnliches  könnte 
vielleicht  auch  für  die  Wahrheitszusammenhänge  wie  den 
Syllogismus  angenommen  werden.  Auch  hier  würde,  falls 
dies  überhaupt  berechtigt  sein  sollte,  die  ontologische  Bedeu- 
tung nicht  dem  syllogistischen  Phänomen  selbst  zukommen, 
sondern  lediglich  wiederum  der  „Materie",  die  in  ihm  Auf- 
nahme zu  finden  vermag.  Wollte  man  die  gegenständliche 
Relevanz  herausfinden,  so  würde  man  sich  wie  dort  an  einen 
metagrammatischen  und  urteilsjenseitigen  so  hier  an  einen 
metasyllogistischen  und  in  den  Syllogismus  bloß  hineinver- 
arbeiteten Bestand  zu  halten  haben. 

Allein  es  ist  zuzugeben,  daß  mit  einem  solch  beschei- 
denen Maß  von  gegenständlicher  Bedeutung  des  Logischen 
die  vorkan tische  Logik,  m.  a.  W.  Aristoteles,  sich  nicht  be- 
gnügt hat.  Die  in  Wahrheit  auf  einer  in  den  Gegenstän- 
den garnicht  vorkommenden  Strukturkomplikation  beruhen- 
den nachbildlichen  Phänomene   sollen   dennoch  gleichzeitig 

8* 


—     116     — 

die  Konstitution  der  Gegenstände  abbilden.  In  diesem 
Sinne  sollen  bei  Aristoteles  substantielles  Wesen  und  Be- 
griff, Inhärenzverhältnis  und  ürteilsgefüge,  metaphysisch- 
reale und  logische  Gegründetheit  einander  korrespondieren. 
Doch  eben  darum  würde  sich  letzten  Endes  herausstellen 
müssen,  daß  hier  der  Versuch  gemacht  wird,  in  Eins  zu- 
sammenrücken zu  lassen,  was  sich  nicht  zusammenzwingen 
läßt.  Deshalb  herrschen  denn  auch  die  verschiedensten  An- 
sichten über  das  Verhältnis  der  Aristotelischen  Logik  zu 
seiner  Metaphysik.  Aus  demselben  Grunde  konnte  sich  auf 
ihn  ebenso  die  formale  Logik  berufen,  wie  es  andererseits 
zweifellos  ist,  daß  er  selbst  nicht  formale  Logik  zu  treiben 
gedachte. 

Es  verdient  sodann  besonders  hervorgehoben  zu  wer- 
den, daß  bei  Kant  selbst  das  Verhältnis  der  formallogi- 
schen und  der  transzendentallogischen  Sphäre  anders  be- 
stimmt wird,  als  es  hier  geschah.  Zwar  das  steht  auch  für 
Kant  außer  Zweifel,  daß  die  beiden  Regionen  sich  wie  zwei 
Inbegriffe  nichtgegenständlicher  und  gegenständlicher  Mo- 
mente gegenüberstehen,  und  daß  die  Schöpfung  der  trans- 
zendentalen Logik  in  der  Eroberung  eines  neuen,  in  die 
Gegenstände  selbst  sich  hineinerstreckenden  Reviers  der 
Logik  besteht.  Aber  ungeachtet  ihrer  zweifellos  bloß  for- 
mallogischen Relevanz  und  Nichtgegenständlichkeit  soll  doch 
die  Reihe  der  nichtgegenständlichen  Formen  so  geartet 
sein,  daß  sie  immerhin  als  „Leitfaden"  zur  Entdeckung  der 
gegenständlichen  Kategorien  zu  dienen  vermag.  Für  Kant 
sind  die  beiden  verschiedenen  logischen  Sphären  nicht  so 
voneinander  geschieden,  daß  in  der  einen  Strukturkompli- 
kationen auftreten,  von  denen  es  in  der  andern  keine  Spur 
gibt,  und  daß  entsprechend  die  gegenständlichen  Momente 
in  den  formallogischen  Phänomenen  kein  abbildliclies  Korre- 
lat finden ;  aber  auch  nicht  so,  daß  die  transzentallogischen 


—     117     — 

Momente  als  Materie  in  die  nichtgegenständlichen  Formen 
hineingearbeitet  und  etwa  aus  diesem  Grunde  aus  ihnen  wieder 
herauserkennbar  wären.  Mit  seiner  Urteils-  und  Kategorien- 
tafel unternimmt  Kant  vielmehr  einen  Entwurf  logischer  Mo- 
mente mit  einem  genauen  Parallelismus  zwischen  analytischen 
und  synthetischen  Einheitsformen.  Man  braucht  angeblich  die 
ersteren  bloß  auf  Gegenstände  überhaupt  zu  beziehen,  dann 
entspringen  die  Kategorien.  Anstatt  der  gegenständlichen 
Gliederung  gegenüber  einen  Strukturüberschuß  aufzuweisen, 
treten  die  formallogischen  Phänomene  vielmehr  als  die  aus- 
gehöhlten und  verblaßten  Doppelgänger  der  gegenständlich- 
logischen Formen  auf.  Die  Ansicht,  daß  die  formallogi- 
sche Region  ein  abbildliches  Analogon  der  Gegenständlich- 
keit repräsentiert,  ist  hier  konsequent  durchgeführt.  Dar- 
aus muß  sich  folgendes  Resultat  ergeben.  Sieht  man  von 
den  Fällen  ab,  in  denen  die  Urteilstafel  heimlich  schon  et- 
was auf  die  Kategorientafel  zugestutzt  ist,  und  nimmt  man 
einmal  an,  daß  sie  durchweg  echt  formallogische  Phäno- 
mene enthält,  so  gibt  es  für  die  „Ableitung"  der  Katego- 
rien aus  ihr  offenbar  zwei  Fälle.  Entweder  die  Kategorien 
sind  echte  Kategorien.  Dann  sind  sie  nur  scheinbar  aus 
der  Urteilstafel  abgeleitet.  Denn  aus  echt  formallogischen 
Strukturkomplikationen,  aus  denen  also  gerade  aller  gegen- 
ständliche Gehalt  herausgefallen  sein  muß,  können  gegen- 
ständliche Formen  garnicht  abgeleitet  werden.  Dieser  Fall 
trifft  besonders  für  die  Kategorien  der  „Relation"  zu.  Die 
andere  Möglichkeit  besteht  darin,  daß  die  Kategorien  gar- 
nicht echte  gegenständliche  Formen,  sondern  lediglich  das 
Produkt  einer  unberechtigten  Projizierung  formallogischer 
Phänomene  ins  Gegenständliche  sind.  Dieser  Fall  liegt 
hinsichtlich  der  Qualität  und  der  Modalität  vor.  Als  für 
das  Thema  dieser  Abhandlung  besonders  interessant  sei 
hervorgehoben,    daß  der  Bejahung  und  Verneinung  in  Po- 


—     118     — 

sition  und  Negation  gegenständlich  kategoriale  Repräsen- 
tanten zugeordnet  werden.  Hierdurch  gesellt  sich  Kant, 
worauf  merkwürdig  selten  geachtet  wird,  der  Reihe  derer 
zu,  die  der  Negation  (und  der  Position)  eine  gegenständ- 
liche Bedeutung  geben.  So  beherbergt  Kants  Kategorien- 
tafel logische  Gebilde  aus  den  verschiedensten  logischen  Re- 
gionen. 

Das  Kriterium  der  Zugehörigkeit  zu  den  Kategorien 
muß  jedenfalls  auf  einem  ganz  andern  Wege  gewonnen 
werden.  Ihr  logischer  Ort  ist  aber  jetzt  wenigstens  prin- 
zipiell auf  das  Schärfste  markiert.  Die  Kategorie  ist  als 
die  der  gegenständlichen  Region  angehörende  Gehaltsform 
zu  bezeichnen.  Ihre  Stellung  bestimmt  sich  so  einerseits 
durch  ihre  gegenständliche  Bedeutung,  also  durch  den  Ab- 
stand gegenüber  der  nichtgegenständlichen  Region,  und  so- 
dann durch  den  Unterschied  der  Gehaltsform  von  der  Struk- 
turform. 

Indem  die  transzendentale  Logik  Kants  die  Kategorie 
erstmalig  in  die  Domäne  der  Logik  hineinzieht,  bringt  sie 
die  ungeheure  Neuerung  mit  sich,  überhaupt  über  alle 
Strukturlogik  hinausgegangen  zu  sein.  Damit  entdeckt 
sie  nichts  Geringeres  als  den  Gehalt  des  Logischen,  der 
ja,  wie  vorher  bemerkt  wurde  (vgl.  ob.  S.  112),  ausschließ- 
lich in  der  gegenständlichen  Region  seinen  Sitz  hat.  Das 
ist  der  tiefste  Sinn  ihres  „materialen"  Charakters  gegen- 
über aller  Strukturlogik,  die  es  immer  nur  mit  Gefügt- 
heiten,  Geghedertheiten,  Situationen,  zu  tun  hatte. 

Durch  Aufdeckung  der  Logizität  in  der  Gegenstands- 
region selbst  leistet  die  Kopernikanische  Tat  zweierlei.  Sie 
enthüllt  eine  neue,  nämlich  die  in  der  Gegenstandsregion 
herrschende  Strukturform,  das  schlichte  Aufeinanderange- 
wiesensein  der  Urbestandteile,  und  sie  dringt  ferner  zum 
logischen  Gehalt   vor,   dem  sie  innerhalb    der    gegenständ- 


—     119     — 

liehen  Strukturform  die  transzendentallogische  Formstel- 
lung zuweist  (vgl.  ob.  S.  56).  Damit  ist  in  das,  was  für 
die  vorkantische  Logik  die  Materie  abgab,  nämlich  in  die 
Gegenstände,  in  doppelter  Hinsicht  die  Scheidung  in  ein 
formales  und  ein  materiales  Moment  hineingetragen.  Erstens 
sind  die  Gegenstände  jetzt  in  eine  Strukturform  (schlichtes 
Ineinander  von  Kategorie  und  Kategorienmaterial)  und  in 
eine  Strukturmaterie  (Kategorie  und  Kategorienmaterial) 
zerlegbar.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  bilden  nicht  die 
Gegenstände,  sondern  die  gegenständlichen  Strukturelemente 
als  gegenständliche  Strukturmaterie,  somit  Kategorie  und 
Kategorienmaterial,  die  letzte  Materie.  Sodann  aber  stehen 
sich  in  anderer  Hinsicht  die  gegenständlichen  Strukturele- 
mente innerhalb  ihrer  Strukturform  als  Form  und  Ma- 
terial gegenüber.  In  dieser  Hinsicht  bildet  das  Kategorien- 
material das  letzte  und  äußerste  Material. 

Es  gibt  also  zwei  Begriffe  von  formalen  und  materialen 
Faktoren :  den  von  Strukturform  und  Strukturmaterie  und 
den  von  Kategorialform  und  Kategorienmaterial.  Berück- 
sichtigt man  nun  für  einen  Augenblick  unter  Strukturform 
nur  die  nichtgegenständliche  Strukturform,  so  verteilen  sich 
die  beiden  Begrifispaare  auf  die  beiden  Zeitalter  der  Lo- 
gik. Immer  aber  ist  dabei  die  Form  solidarisch  mit  dem 
Spezifischen  des  Theoretischen,  mit  der  Funktion  des  Er- 
kennens.  Es  bleibt  jedoch  wieder  im  Kopernikanischen 
Zeitalter  wie  das  Sekundär- Theoretische  neben  dem  Gegen- 
ständlich-Theoretischen so  auch  der  vorkopernikanische 
Formbegriff  neben  dem  kategorialen  unbehelligt  bestehen. 
Entsprechend  bleiben  zwei  verschiedendeutige  Erkenntnis- 
begriffe nebeneinander  in  Kraft.  Jedesmal  aber  ist  es  der 
Sinn  des  theoretischen  Gebiets  und  des  Erkennens,  das 
theoretische  oder  Erkenntnismaterial  in  die  Gewalt  der  theo- 
retischen   oder  Erkenntnisform  zu  bringen.     Je   nach  dem 


—     120     — 

Form-Material-Begriff  bedeutet  nämlich  das  Erkennen  ent- 
weder die  Hineinhebung  des  kategorial  unbetroffenen,  also 
gleichsam  vorgegenständlichen  Materials  in  die  es  zum  Range 
der  Gegenständlichkeit  erhöhende  kategoriale  Form,  wodurch 
sich  also  das  erst  konstituiert,  was  nach  der  andern  Be- 
deutung die  Materie  ausmacht :  der  Gegenstand.  Erkennen 
in  diesem  früher  der  metagrammatischen  Prädikationstheo- 
rie zugrundegelegten  transzendentallogischen  Sinne  heißt: 
das  kategorial  Unbetroffene  in  die  Gewalt  der  logischen 
Kategorialform  bringen.  In  einem  zweiten  Sinne  aber  be- 
deutet das  Erkennen  die  Hineinarbeitung  der  Gegenstände 
als  eines  Rohmaterials  in  die  es  umgestaltenden  theoreti- 
schen Strukturformen.  Dem  Sekundär-Logischen  gegenüber 
bilden  ja  auch  in  der  Tat  die  den  primärlogischen  Kate- 
goriengehalt bergenden  Gegenstände  ein  jenseitiges  Angrifi's- 
material.  Im  Gesamterkennen  aber  vereinigt  sich  beides, 
da  fungiert  die  Bewältigung  der  Gegenstände  durch  die 
nachbildliche  Erkenntnisform  als  ein  Werkzeug  der  Hinein- 
stellung des  Kategorienmaterials  in  die  Kategorialform. 

Bei  der  Doppeldeutigkeit  des  Formbegriffs  kann  man 
geradezu  alle  logischen  Phänomene  nach  Gehalts-  und 
Strukturfomien  klassifizieren.  Nur  bei  Auseinanderhaltung 
dieser  beiden  Formarten  gibt  es  eine  Orientierung  in  der 
Logik.  Alle  Redewendungen  dagegen,  in  denen  der  Form- 
begriff irgend  eine  Rolle  spielt,  müssen  ohne  diese  Schei- 
dung an  der  gleichen  Zweideutigkeit  leiden.  Bei  allen 
Gegenüberstellungen  des  rationalen  und  des  empirisclien 
Erkenntnisfaktors,  bei  aller  Abgrenzung  des  Denk-  und 
Erkenntnis-,, Anteils",  der  „Formen  des  AVissens",  werden 
die  kategorialen  Gehaltsformen  und  die  sekundären  Struk- 
turphänomene durcheinandergeworfen. 

Es  fällt  aber,  wie  jetzt  ausdrücklich  nachgetragen  wer- 
den muß,  die  Scheidung    der  beiden  Formarten   gar    nicht 


—     121     — 

mit  der  von  gegenständlichen  und  nichtgegenständlichen 
Phänomenen  zusammen,  sondern  kreuzt  sich  mit  ihr.  Erst- 
lich gibt  es  ja  eine  Strukturform  auch  in  der  Gegenstands- 
region, Umgekehrt  sind  in  der  nichtgegenständlichen  Re- 
gion außer  Strukturphänomenen  auch  kategoriale  Formen 
vertreten.  Was  Kant  fälschlich  von  den  Strukturkompli- 
kationen statuierte  (vgl.  ob.  S.  117),  das  gilt  von  diesen  nicht- 
gegenständlichen „reflexiven"  Kategorien:  daß  sie  verblaßte 
Parallelerscheinungen  gegenständlich  logischer  Phänomene 
sind^.  Um  ihrer  Nichtgegenständlichkeit  willen  konnten  diese 
logischen  Formen,  obgleich  kategoriale  Gehaltsformen  dar- 
stellend, auch  von  der  vorkopernikanischen  Logik  in  den 
Bereich  des  Logischen  gezogen  werden,  wie  sie  denn  in  der 
Tat  auch  als  nichtgegenständliche  logische  Momente  der 
„formalen  Logik"  zuzuweisen  sind.  Nun  war  aber  die  vor- 
kantische  Logik  ganz  und  gar  an  den  Strukturkomplika- 
tionen, also  an  den  Strukturformen,  orientiert,  und  erst  die 
Kopernikanische  Tat  führte  zur  Entdeckung  eines  eigenen 
Gehalts  des  Logischen.  Nur  von  den  konstitutiven  Gegen- 
standskategorien aus  sind  darum  die  reflexiven  als  deren 
niedere  Ableger  zu  verstehen.  Die  vorkantische  Logik  muß 
ihnen  eben  darum  ratlos  gegenüberstehen  und  kann  ihre 
Sonderstellung  als  logische  G  eh  alt s formen  nicht  durch- 
schauen. Es  ist  deshalb  äußerst  charakteristisch,  daß  sie 
sie  in  den  Strukturphänomenen  Unterschlupf  finden  läßt 
und  so  die  Identität  mit  dem  Widerspruch,  die  Andersheit 
mit  der  Negation,  das  Subsumtionsverhältnis  des  Besondern 
zum  Allgemeinen  mit  dem  Urteil  und  dem  Syllogismus  in 
Zusammenhang  bringt.  Auch  bei  Kant  finden  die  re- 
flexiven Kategorien  keine  besondere  Stätte  neben  den  übri- 
gen formallogischen  Phänomenen,  und  wo,  wie  z.  B.  bei 
Lotze,  die  bloß  „formale  Bedeutung"  des  Logischen  gezeigt 
1  Ueber  sie  vgl.  Log.  d.  Philos.,  139  tf. 


—     122     - 

werden  soll,  da  werden  gleichfalls  reflexiv-kategoriale  und 
Strukturphänomene  unterschiedslos  nebeneinander  behan- 
delt \ 

Die  Durcheinandermengung  von  Gehalts-  und  Struk- 
turform ist  aber  auch  für  die  Kategorienlehre  selbst  ver- 
derblich geworden,  indem  die  Gepflogenheit  aufkam,  nun 
umgekehrt  jedes  erdenkliche  gegenständliche  wie  nichtgegen- 
ständliche, gehalts-  wie  strukturartige  Phänomen  als  Kate- 
gorie auszuzeichnen.  Dieser  Fehler  der  Einordnung  von 
Strukturphänomenen  in  die  Reihe  der  Kategorien  haftet 
allerdings  auch  der  Kantischen  Kategorientafel  an  und 
ebenso  vielen  Entwürfen  einer  Kategorienlehre  vor  und 
nach  ihni. 

Historisch  ist  gerade  die  Kantische  Philosophie  der 
Schauplatz  des  doppelten  Formbegrifi"s  geworden ,  zum 
Zeichen  dessen,  wie  im  Kopemikanischen  Zeitalter  der  Lo- 
gik der  alte  und  der  neue  Eormbegriff  nebeneinander  Platz 
haben.  Wo  Kant  den  Begriff  der  „formalen"  Logik  fest- 
setzt, da  steht  für  ihn  der  nichtgegenständlichen  „bloßen 
Form  des  Denkens",  der  „  Verstandesform "  als  „Inhalt" 
oder  „Materie"  immer  gerade  der  „Gegenstand"  oder  das 
„Objekt"  gegenüber,  weshalb  denn  auch  die  bloß  analyti- 
schen Einheitsmomente  für  sich  als  „bloß  logische  Formen", 
„logische  Funktionen"  „ohne  allen  Inhalt",  d.  h.  ohne  Be- 
ziehung auf  den  Gegenstand,  bezeichnet  werden,  und  die 
formale  Logik  als  ebenso  unbekümmert  um  allen  Unter- 
schied der  Objekte  wie  um  deren  etwaige  „empirische"  oder 
„transzendentale"  Bestandteile  charakterisiert  wird-.  Aller- 
dings   hat    Kant    die  Tendenz,    diese  „Form    des  Denkens 


'  L  o  t  z  e  ,  Logik.  3.  Buch.  4.  Kap. 

«  Vgl.  Vorr.  B  IX,  B  77  ff,  79  ff.,  170,  171  ff.,  Logik.  Einl.  VIL 
Ueber  die  analytischen  Einheitsformen :  A  95.  B  175,  267,  298.  A  245, 
B  346,  377. 


—     123     — 

überhaupt",  die  „bloße  Form  des  Erkennens",  „die  allge- 
meinen und  formalen  Gesetze  des  Verstandes  und  der  Ver- 
nunft" zur  „Form  der  Wahrheit"  oder  „formalen  Wahr- 
heit", zur  „logischen  Form  im  Verhältnisse  der  Erkennt- 
nisse aufeinander",  also  zu  jener  Region  der  Wahrheits- 
zusammenhänge, über  die  nach  seiner  Ansicht  als  oberstes 
Prinzip  der  Satz  des  Widerspruchs  herrscht,  zu  verengern ; 
wie  er  denn  überhaupt  geneigt  ist,  die  nachbildliche  „Form" 
des  Urteils  in  die  „formalen"  Beziehungen  der  urteile  unter- 
einander, also  in  das  „Analytische"  in  diesem  engsten 
Sinn%  des  Ineinanderenthaltenseins,  aufzulösen  (vgl.  ob. 
S.  33)  \  Im  Unterschiede  zu  diesem  formallogischen  Form- 
begriff macht  es  nun  aber  geradezu  die  ganze  Absicht  der 
Vernunftkritik  aus,  einen  neuen  Formbegriff  einzuführen, 
in  den  „Inhalt"  des  Formallogischen,  d.  h.  in  den  „Gegen- 
stand", noch  einmal  die  Zerlegung  in  Materie  und  Ver- 
standesform hineinzutragen.  Dieser  transzendentale  Form- 
begriff beherrscht  denn  auch  die  ganze  Kritik  der  reinen 
Vernunft. 

So  ist  bisher  eine  ganze  Mannigfaltigkeit  von  Form- 
begriffen aufgetreten.  Ihre  oberste  Einteilung  ist  die  in 
Gehalts-  und  Strukturformen,  die  wiederum  in  nichtgegen- 
ständliche und  gegenständliche  zerfallen.  Die  nichtgegen- 
ständlichen Strukturformen  scheiden  sich  in  solche  von 
nicht  einmal  nachbildlicher  („formale  Wahrheit")  und  in 
solche  von  nachbildlicher  Bedeutung.  Die  letzteren  gehören 
der  ürteilsregion  an.  Daß  es  innerhalb  ihrer  wiederum 
einen  Aufbau  von  Form-Materie-Verhältnissen  gibt,  ist  be- 
reits früher  zur  Sprache  gekommen  (ob.  S.  38)  -,  soll  jedoch 


1  Vgl.  B  79  f.,  82  S.,  189  S.,  599  f.,  Log.  Einl.  VII. 

-  Am  meisten  Beachtung  hat  der  Stufenbau  von  Form-  und  Stoff- 
begriiFen  bei  Bergmann  gefunden,  vgl.  Reine  Log.,  49  f.,  57  ff. 
Doch  herrscht  bei  Bergmann  keineswegs    die   in    dieser  Abhandlung 


—     124     — 

erst  im   zweiten    Abschnitt    des    dritten   Kapitels    genauer 
behandelt  werden. 

Zweiter  Abschnitt. 

Die  Uebergegensätzlichkeit  als  Wertmaßstab  der  Gegensätz- 
lichkeit. 

Es  bedarf  jetzt  noch  eines  entscheidenden  Schrittes 
über  das  bisher  gewonnene  Ergebnis  hinaus.  Erst  dann  findet 
die  Gegenüberstellung  der  urbildlichen  und  der  nachbild- 
lichen Region  ihren  Abschluß. 

Es  ist  nämlich  bloß  noch  erforderlich ,  die  letzten 
Konsequenzen  aus  dem  Begriff  der  Meßbarkeit  und  des 
Maßstabs  zu  ziehen.  Der  Grundgedanke  ist  einfach  fol- 
gender. Wenn  alle  Nachbild-  und  Uebereinstimmungs- 
theorien  die  Gegenstände  als  das  Urbild  von  Wahrheit  und 
Wahrheitswidrigkeit,  von  Gültigkeit  und  Ungültigkeit,  hin- 
gestellt haben,  so  fehlte  fast  stets  die  entscheidende  Besin- 
nung darauf,  daß  das ,  woran  Gültigkeit  und  Ungültig- 
keit, Wert  und  Unwert,  gemessen  werden  ,  nicht  jenseits 
von  Gelten  und  Wert  überhaupt  liegen  kann.  Anders  aus- 
gedrückt: der  Wert  der  Uebereinstimmung  und  der  Un- 
wert der  Nichtübereinstimmung  kann  nicht  aus  dem  blo- 
ßen Uebereinstimmen  und  Nichtübereinstimmen  als  solchem 
stammen.  AVarum  soll  denn  auch  durchaus  mit  etwas  über- 
eingestimmt und  nicht  davon  abgewichen  werden?  Doch 
nur  darum ,  weil  in  dem ,  womit  übereingestimmt  und 
nicht  übereingestimmt  wird,  der  Wert  bereits  liegt.  Andern- 
falls könnte  auch  den  übereinstimmenden  und  nicht  über- 
einstimmenden Gebilden  keinerlei  Wert  zukommen.  Es  muß 
also  der  Maßstab  und  das  Urbild  von  AVert  und  Unwert 
maßstäblicher  und  urbildlicher  Wert  sein, 
vertretene  Tendenz,  die  Formen,  je  , höher"  sie  sind,  gerade  als  um 
80  gekünstelter  anzusehen. 


—     125     — 

Xur  positiver  Wert  und  Unwert,  aber  nicht  der  Wert 
überhaupt,  kann  in  der  nachbildlichen  Region  seinen  Ursprung 
haben,  und  der  in  ihr  vorkommende  Wert  kann  nicht  der 
AVert,  sondern  nur  ein  nachbildlicher  und  abgeleiteter  Wert 
sein.  NichtGeltenund  Wert  überhaupt,  sondern  nur  Geltungs- 
und Wertgegensätzlichkeit  bildet  das  Spezifikum  der 
nachbildlichen  Region,  wovon  es  in  der  urbildlichen  keine 
Spur  gibt.  So  muß  der  Unterschied  von  Gegensatzlosig- 
keit  und  Gegensätzlichkeit  auch  in  das  Geltungs-  und  Wert- 
problem eingeführt  werden.  Mit  der  Gegensatzjenseitig- 
keit  der  Gegenstände  kann  sich  nicht  Geltungs-  und  Wert- 
jenseitigkeit  verbinden.  Wenn  man  sich  recht  besinnt,  so 
findet  man  vielmehr ,  daß  die  Geltungs-  und  Wertgegen- 
sätzlichkeit s  0  auf  ein  Jenseits  hinweist ,  daß  dieses  gel- 
tungs- und  wertartig  überhaupt  geradezu  sein  muß. 
Von  der  zugestandenen  Wertartigkeit  der  Urteilsgegen- 
sätzlichkeit führt  der  Weg  unvermeidlich  zum  Gedanken 
des  gegensatzlosen  Wertes.  Denn  ohne  den  gegensatzlosen 
Wert  sind  positiver  Wert  und  Unwert  gerade  von  geglie- 
derten Sinnganzheiten  —  und  um  derartige  Wertgegen- 
sätzlichkeit handelt  es  sich  hier  allein  —  unbegreiflich. 

Dieses  Argument  von  der  Geltungs-  und  Wertartig- 
keit des  gegenständlichen  Urbilds  ist  der  Sache  nach  für 
alle  Nachbild-  und  Uebereinstimmungstheorien  zwingend. 
Aber  erst  auf  dem  Boden  der  Kopernikanischen  Lehre 
kann  mit  ihm  ernst  gemacht  werden.  Die  Hineintragung 
der  Logizität  in  die  Gegenstände  ermöglicht  auch  die  Hin- 
einverlegung der  Geltungs-  und  Wertartigkeit  in  sie.  So 
wird  durch  die  Kopernikanische  Lehre  nicht  nur  das  Lo- 
gische, sondern  auch  das  Geltungsartige  in  eine  ganz  neue 
Fläche,  in  die  der  Gegenstände  selbst,  hineinversetzt.  Und 
zwar  muß  das  urbildlich  gegenständliche  Gelten  wiederum 
das  ursprüngliche  sein ,    während    den   positiv  gültigen  und 


—     126 


ungültigen  ürteilsgebilden  nur  um  des  gegensatzlos-urbild- 
lichen Geltens  willen  ein  sekundärer  Geltungs-  und  Wert- 
charakter  innewohnt.  Die  ürteilsregion  ist  keineswegs  die 
Ursprungsstätte  der  Geltungs-  und  Wertartigkeit. 

Ist  die  Yerschlingung  des  Geltungs-  und  "Wertbegriffes 
mit  dem  Gedanken  der  Gegensätzlichkeit  zerstört,  so  hört 
die  ausschließliche  Messung  der  Unwertigkeit  an  der  posi- 
tiven Wertigkeit  auf.  Es  kann  die  positive  Wahrheit  nicht 
mehr  der  höchste  Maßstab,  nicht  mehr  ihre  eigene  Norm 
und  die  Norm  der  Wahrheitswidrigkeit'sein.  Anstelle  dessen 
tritt  vielmehr  die  Messung  gleichmäßig  der  positiven  Wahr- 
heit und  der  Wahrheitswidrigkeit  am  höchsten  Maß ,  am 
gegensatzlosen  Urbild  der  Wahrheit,  des  Geltens  und  des 
Wertes.  Das  Nichtstehenbleiben  bei  der  Gegensätzlichkeit 
führt  innerhalb  des  Geltungs-  und  Wertgedankens  zu  einem 
Nichtstehenbleiben  bei  der  Geltungs-  und  Wertgegensätz- 
lichkeit. 

Auf  eine  Auseinanderhaltung  zwischen  Geltungs-  und 
Wertbegriff  wird  hier  nirgends  Gewicht  gelegt.  Es  mag 
darum  lediglich  angedeutet  werden,  daß  die  Wertartigkeit 
eine  bestimmte  Bedeutungsnuance  ist,  die  am  Gelten  erst 
dann  hervortritt,  wenn  dieses  auf  die  ihm  gebührende  An- 
erkennung von  Seiten  der  Subjektivität  bezogen  wird.  Gel- 
tungsartigkeit erscheint  dann  als  Anerkennungswürdigkeit, 
als  Wert*. 

Aber  wenn  schon  die  Kopernikanische  Hineintragung 
des  Logischen  in  die  Gegenstände  zu  einer  Projizierung  des 
Gegensätzlich-Logischen  in  sie  zu  verleiten  geeignet  war 
(vgl.  oben  S.  83  und  90),  so  ist  die  Versuchung  noch  stär- 
ker, mit  der  Geltungsartigkeit  die  Positivität  für  solidarisch 
verbunden  zu  halten.  8o  mußte  sich  am  meisten  gerade 
für  die  logische  Geltungs-   und  Werttheorie    die    Ueberge- 

'  Vgl.  Log.  d.  Philos.,  8  f. 


—     127     — 

gensätzlichkeit  der  Kopernikanisch  interpretierten  Gegen- 
stände verbergen.  Dies  zeigte  sich  gelegentlich  schon  bei 
der  Hineinlegung  des  Gedankens  der  Zusammengehörigkeit 
in  die  kategoriale  Relation  (vgl.  oben  S.  90).  Gerade  um 
ihres  Geltungs-  und  W  e  r  t  Charakters  willen  scheinen 
die  kategorialen  Relationen  das  emphatische  Epitheton  der 
„Zusammengehörigkeit"  zuverdienen.  Demgegenüber 
gilt  es,  die  Geltungs-  und  Wertbetontheit  der  Kategorien 
gleichzeitig  mit  ihrer  der  Alternative  von  Zusammengehö- 
rigkeit und  Unzusaramengehörigkeit  entrückten  üebergegen- 
sätzlichkeit  aufrechtzuerhalten.  Ja,  es  erhält  die  Koperni- 
kanische  These  geradezu  erst  ihre  Stütze  durch  die  Her- 
vorhebung des  zwischen  den  verschiedenen  Regionen  der 
Geltungsartigkeit  bestehenden  Abstandes.  Nur  dann  läßt 
sich  mit  Fug  die  Kategorie  als  die  den  Gegenstand  kon- 
stituierende logische  Geltungsform  in  die  Gegenstandsregion 
versetzen,  wenn  sie  als  von  einer  der  gegensätzlich  nach- 
bildlichen Geltungsregion  überlegenen  Dignität  eingesehen 
wird.  Nur  durch  den  Gedanken  des  übergegensätzlichen 
Wertes  läßt  sich  überhaupt  die  Wertartigkeit  der  Gegen- 
standsregion mit  gutem  Gewissen  vertreten,  nämlich  ohne 
daß  sie  dabei  auf  das  Niveau  der  nachbildlichen  Wertposi- 
tivität  herabgezogen  wird. 

Die  zu  Ende  gedachte  Kopernikanische  Lehre  ,  d.  h. 
die  Hineinverlegung  gerade  von  Gelten  und  Wert  in  die 
Gegenstände  selbst,  macht  überhaupt  erst  Aufgabe  und  Ziel 
des  Erkennens  verständlich.  Gerade  alle  Nachbild-  und 
Uebereinstimmungstheorien,  die  man  gewöhnlich  als  für  die 
vorkantische  Erkenntnistheorie  charakteristisch  ansieht,  wer- 
den erst  unter  der  Kopernikanischen  Voraussetzung  ge- 
rechtfertigt, ja  überhaupt  begreiflich.  Denn  nur  unter  der 
Bedingung  können  die  Gegenstände  das  letzte  Ziel  der  er- 
kennenden Bemächtigung,   können  sie  das  sein ,    dessen  in 


—     128     — 

und  mit  seinen  uachbildlichen  AVabrheiten  das  Erkennen 
habhaft  zu  werden  sucht,  wenn  in  ihnen  selbst  bereits  Gül- 
tigkeit und  Wert  steckt.  Wenn  die  nachbildlichen  Wahr- 
heiten über  sich  hinausweisen  auf  den  Gegenstand,  so  zeigt 
sich  jetzt,  daß  diese  gültigen  Wahrheiten  erstrebenswert 
nur  sind  um  der  geltuugshaltigen  Gegenstände  willen. 

Der  Gedanke  des  Wertmaßstabs  ist  uralt.  Aber  als 
Wertmaßstab  fungierte  meist  der  positive  Wert.  Und  ur- 
alt ist  auch  die  Gewohnheit,  in  Wahrheit  und  Wahrheits- 
widrigkeit Uebereinstiramung  und  Nichtübereinstimmung 
mit  den  als  Urbild  gedachten  Gegenständen  zu  sehen.  Daß 
aber  dies  beides,  Wertmaßstab  und  Gegenstand,  zusammen- 
füllt, das  ist  es,  worauf  alles  ankommt.  So  läßt  sicli  denn 
die  uralte  Uebereinstimmungstheorie  aufrecht  erhalten.  Aber 
ohne  die  Einsicht  in  ihre  Geltungs-  und  Wertartigkeit  wird 
die  Uebergegensätzlichkeit  der  Gegenstände,  ihre  Erhaben- 
heit über  Wert  und  Unwert,  lediglich  ihrer  vermeintlichen 
Metalogizität,  ihrer  Gegensatz-  und  Wertfremdheit, 
verdankt.  Als  jenseits  des  Wert  gegensatz  es  scheinen 
die  Gegenstände  dann  lediglich  wegen  ihrer  vermeintlichen 
Wert  jenseitigkeit  zu  stehen. 

So  sind  denn  im  Begriff  des  Gegenstandes  unausweich- 
lich diese  beiden  Momente  mit  einander  zu  verbinden :  die 
im  vorigen  Abschnitt  dargetane  Unberührtheit  durch  den 
Gegensatz  von  Positivität  und  Negativität  und  die  durch 
die  Argumentation  dieses  Abschnitts  gesicherte  Geltungs- 
und Wertartigkeit.  Es  ist  die  Geltungsartigkeit  der  Ge- 
genstände als  eine  nicht  positive,  sondern  gegensatzjensei- 
tige, ihre  Gegensatzlosigkeit  als  eine  nicht  wertneutrale, 
sondern  übergegensätzlich-wertartige  zu  begreifen.  Es  lie- 
gen ja  eben  die  Gegenstände,  wie  nachgewiesen  worden  ist, 
in  einer  ganz  andern  Ebene  als  sowohl  die  Positivität 
wie  die  Negativität.     In  ihnen  die  Negativität  und  die  ge- 


—     129     — 

gensätzliche  Gespaltenheit  anzunehmen,  ist  sinnlos.  Eben 
darum  fallen  sie  aber  auch  nicht  mit  der  Positivität  zusammen. 
Denn  es  ist  hinlänglich  gezeigt  worden  ,  daß  die  positive 
Wertigkeit  genau  derselben  Region  angehört  wie  die  ün- 
wertigkeit,  so  daß  der  Satz  gilt:  nur  da,  wo  es  auch  Ne- 
gativität  gibt,  gibt  es  Positivität. 

Dieser  Abstand  zwischen  der  gegenständlichen  Ueber- 
gegensätzlichkeit  und  der  gegensätzlichen  Positivität  pflegt 
immer  wieder  verkannt  zu  werden.  Die  Verwirrung  doku- 
mentiert sich  am  deutlichsten  in  der  tief  eingewurzelten 
Denkgewohnheit,  der  gemäß  dem  Negativen  nichts  anderes 
als  immer  nur  das  Positive  gegenübergestellt  wird.  So  ist 
man  stets  geneigt,  den  zur  Täuschung  verführenden  wahr- 
heitswidrigen Objektsgefügen  die  Wirklichkeit  oder  Realität 
als  ihren  Gegenpart,  den  wirklichen  Tatbestand  als  die 
positive  Wahrheit,  entgegenzusetzen.  Damit  ist  aber  inner- 
halb des  Nichtnegativen  das  Positive  und  das  üebergegen- 
sätzliche  vermengt.  Es  steht  den  unwirklichen  oder  irrea- 
len Gebilden  die  Wirklichkeit  oder  Realität  urbildlich,  da- 
gegen gegensätzlich  nur  das  Reich  der  mit  den  Gegenstän- 
den, mit  der  Wirklichkeit,  übereinstimmenden  Ob- 
jektsgefüge  gegenüber.  Man  gebraucht  Wirklichkeit  oder 
Realität  offensichtlich  stets  in  einer  doppelten  Bedeutung : 
einmal  im  Sinne  einer  ReaHtät,  von  der  es  keinen  Gegen- 
satz gibt ,  und  dann  im  Sinne  der  gegensätzlichen  Wirk- 
lichkeit oder  Realität,  also  des  Aristotelischen  öv  (hc,  xXr^d-ec,. 
Dieses  gegensätzliche  Sein  ist  garnicht  die  Wirklichkeit 
oder  Realität  an  sich  ,  sondern  immer  nur  das  künstlich 
umgearbeitete  Strukturgebilde,  wie  es  als  Objekt  der  Ur- 
teilsentscheidung  vorschwebt,  ist  lediglich  das  Zusammen- 
gehörigkeits-  oder  Zukommensgefüge,  ein  Ausdruck  für  die 
positive  Wertigkeit.  Und  es  ist  hinlänglich  gezeigt  worden, 
daß  es  von  diesem  „Sein"  in  den  Gegenständen  selbst  eben- 

Lask,  Lehre  vom  Urteil.  9 


—     130     — 

sowenig  eine  Spur  gibt  wie  von  dem  entgegengesetzten 
Nichtsein.  Man  darf  die  in  der  Beteuerung  gebrauchte 
„Wirklichkeit'"  der  bloßen  Wahrheitspositivität  nicht  mit 
der  gegensatzjenseitigen  Gegenständlichkeit  verwechseln^. 
Ein  weiteres  Dokument  für  die  Vieldeutigkeit  von  Sein, 
Realität,  Gegenstand  und  „Sache"  liefert  der  Begriff  des 
„Sachverhalts".  Er  scheint  zunächst  ganz  der  Region  des 
Sinnes  und  zwar  des  ganzen  Urteilssinnes,  des  im  Urteil 
Gemeinten,  anzugehören,  wofür  die  Gegensätzlichkeit  posi- 
tiver und  negativer  Sachverhalte,  des  Seins  und  des  Nicht- 
seins, des  Sichverhaltens  und  Sichnichtverhaltens,  der  „Tat- 
sache, daß"  und  „daß  nicht",  das  entscheidende  Kriterium 
abgibt  2.  Und  doch  befindet  er  sich  nicht  in  einer  so  klaren 
Distanz  vom  Gegenstand  wie  der  Sinn  des  Urteils  und 
Satzes.  Er  stellt  vielmehr  ein  in  dieser  Hinsicht  als  solches 
meist  nicht  scharf  gekennzeichnetes  Zwischengebilde  zwischen 
Gegenstand  und  Sinn  dar :  eine  Hineintragung  der  Gliede- 
rung des  gegensätzlichen  Sinnes  in  die  Gegenstände,  eine 
Interpretation  der  Gegenstände  durch  die  Positivität  und 
Negativität  des  Sinnes,  die  Gegenstände  bereits  in  der 
Ueberarbeitung  durch  die  gegensätzliche  Sinnstruktur  (vgl. 
dazu  auch  ob.  S.  109)  ^  Von  diesem  schillernden  Begriff 
des  Sachverhalts  aus  wird  darum  auch  am  leichtesten  das 
Hinübergleiten  in  die  metaphysische  Verabsolutierung  des 
Positiven  und  des  Negativen  verständlich*. 

*  Ueber  die  Doppeldeutigkeit  von  Sein,  Existenz,  Realität  vgl. 
ob.  S.  43  Anm.  u.  76  tf.  Klar  wird  von  Bergmann,  R.  L.,  147, 
153  f.  gegenständliches  Sein  und  Positivität  auseinandergehalten. 

*  Vgl.  z.  B.  H  u  s  s  e  r  1 ,  Log.  Unt.  I,  12  if.,  II,  597  f.,  M  e  i  n  o  n  g, 
Ueber  Annahm.,  98  f.,  101  ff.,  R  e  i  n  a  c  h  ,  Z.  Theor.  d.  neg.  Urt, 
Münch.  Philos.  Abh.  f.  Lipps,  1911,  220  ff. 

^  Vgl.  ü  0  m  p  e  r  z  ,  Weltanschgsl.  II  b,  65  ff. 

*  Weshalb  derselbe  Begriff  auch  am  aufschlußreichsten  für  die 
ganze  Stellung  des  Aristoteles  zum  Problem  der  Urteilsgegensätzlich- 
keit sein  dürfte,  vgl.  auch  ob.  S.  42  Anm. 


—     131     — 

I  Der  Grund  für  die  Zusammenwerfung  des  Gegensatzlos- 

l     Gegenständlichen  und  des  Positiven    liegt    auf   der    Hand. 
\    Das  Positive  ist   eben  das   mit    dem  Gegenstand  Ueberein- 
\  stimmende;    das  positive  und  nur  das  positiv  wahre  Sinn- 
\  gefüge  enthält  doch  wenigstens  ,    wenn    auch    mit  einer 
1  entstellenden  Komplikation  behaftet,  den  Gegenstand  (vgl. 
/  oben  S.  98/99),  und  man  gelangt  ferner  auch  garnicht  an- 
^  ^    ders  an  den  Gegenstand  heran  als  vermittelst  der  sich  da- 
\    zwischenschiebenden    Positivität.     Wie    sich    also     aus   der 
)   positiven  Wertigkeit  und  nur  aus    ihr   der  Gegenstand  re- 
konstruieren läßt,    so  schiebt  man  umgekehrt  dem  Gegen- 
stand auch  die  Positivität    unter.     Man   begeht   somit    un- 
reflektiert  immer  jenen    durch    die  Kopernikanische    These 
begünstigten  Fehler,  in  den  Gegenstand  die  Positivität  hin- 
einzulegen. 

Freilich  ist  nicht  nur  das  Seiende ,  Wirkliche  und 
Reale,  sondern  in  einer  andern  Hinsicht  auch  das  Nicht- 
seiende,  Unwirkliche  und  Irreale  mit  einer  Doppeldeutig- 
keit behaftet,  die  alle  Versuche  einer  Logik  des  Nichtseien- 
den  und  Unwirklichen  leicht  in  Verwirrung  bringt.  Es 
kann  nämlich  unter  dem  Seienden,  Wirklichen,  Realen  ein 
bestimmter  Ausschnitt  der  Gegenstände,  etwa  der  sinnlich- 
anschauliche  Gegenstandsbereich,  und  dann  unter  dem 
Nichtsinnlichen,  Unwirklichen,  Irrealen  nicht,  wie  soeben 
angenommen  wurde  ,  ein  unwertiges  Gebilde  aus  diesem 
Gegenstandsbereich,  sondern  ein  anderer,  davon  ver- 
schiedener Gegenstandsbereich  gemeint  sein.  Dann  handelt 
es  sich  garnicht  um  etwas  Unwertiges  und  Negatives,  son- 
dern die  Negation  ist  nur  Umschreibung  für  die  Anders- 
heit  eines  davon  verschiedenen  Nichtnegativen.  In  diesem 
Sinne  ist  z.  B.  das,  was  „gilt",  ein  Nichtseiendes,  nämlich 
;  ein  nicht  sinnlich  Existierendes,  ganz  im  Unterschiede  zum 
1      nicht  existierenden  Zentauren,  dessen  materiale   und  kate- 

9* 


—     132     — 

goriale  Elemente  gerade  innerhalb  des  sinnlichen  Existenz- 
bereichs liegen  und  dessen  „Nicht-Existenz"  lediglich  auf 
dem  Unwert  eines  kopulativen  Objektsgefüges,  also  auf  der 
Nichtübereinstimmung  mit  dem  Gegenstand,  auf  der  unwer- 
tigen Abweichung  vom  „Existierenden"  beruht.  Die  Nicht- 
wirklichkeit  bedeutet  also  das  eine  Mal  die  Verschieden- 
heit eines  Außerwirklichen  von  dem  Wirklichkeit  genannten 
Gegenstandsbereich,  das  andere  Mal  die  Abweichung  des 
Wirklichkeitswidrigen  von  der  Wirklichkeit  als  seinem  Ur- 
bild. Das  eine  Mal  ist  das  Nichtwirkliche  selbst  ein  an- 
derer gegensatzloser  Gegenstand,  das  andere  Mal  gehört 
es  der  künstlichen  Zwischenregion  der  gegensätzlichen  ür- 
teilsobjekte  an  ^.  — 

Mit  der  jetzt  vorgenommenen  Uebertragung  nicht  nur 
der  Logizität,  sondern  auch  der  Geltungs-  und  Wertartig- 
keit von  der  nachbildlichen  in  die  urbildliche  Region  wird 
es  erforderlich,  noch  andere  Begriffe  bis  ins  gegenständ- 
liche Urbild  zurückzuschieben.  Das  in  sich  abgeschlossene 
wertartige  Ganze  von  Strukturelementen  wurde  als  „Sinn" 
bezeichnet;  entsprechend  erschienen  bisher  alle  Sinngebilde 
als  in  einem  Abstand  von  den  Gegenständen  stehend  und 
auf  die  nachbildliche  Region  eingeschränkt.  Allein  für 
den  Sinn  trifft  nunmehr  dieselbe  Argumentation  zu,  wie  für 
das  Logische  und  den  Wert.  Die  nachbildliche  ist  nicht 
d  i  e,  sondern  eine  Region  des  Sinnes.  Das  schlichte  ür- 
gefüge  der  echten  Struktureleraente  als  Stätte  von  Gelten 
und  Wert,  als  geltungs-  und  wertartiges  Beziehungsganzes 
oder  Strukturgebilde,  erweist  sich  jetzt  auch  als  Urbild  des 

^  Ob  man.  wie  die  Gegenstandstheorie  tut,  einen  auch  die  hier 
als  nichtgegenständlich  bezeichneten  nachbildlichen  „Objekte"  mit- 
umfassenden Gegenstandsbegrift"  prägt,  ist  eine  lediglich  terminolo- 
gische Angelegenheit.  Es  muß  dann  eben  gemäß  einer  geläufigen, 
aucli  hier  im  nächsten  Kapitel  angewandten  Ausdrucksweise  zwischen 
transzendenten  und  immanenten  Gegenständen  unterschieden  werden. 


-     133     - 

Sinnes.  Woran  die  Künstlichkeit  eines  Sinn  ganzen 
als  eines  solchen  ,  als  eines  Einheitsgefüges  ,  sich  messen 
läßt,  das  muß  selbst  bereits  die  Einheit  und  Ganzheit  des 
Sinnes  aufweisen.  Das  gegensatzlose  Urverhältnis ,  also 
nichts  weiter  als  die  schlichte  Yerklammerung  der  beiden 
echten  ürbestandteile,  die  Gegenstände  in  ihrer  Urstruktur, 
repräsentieren  das  vollständige  schlichte  Urbild  des  Sinnes. 
Als  wertartiges,  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes  von  Struk- 
turelementen erfüllt  es  alle  Erfordernisse  des  Sinnbegriffs. 
Damit  rückt,  wie  das  Logische  und  das  Geltende  so  auch 
der  urbildliche  Sinn  in  den  Gegenstand  ein.  Der  Abstand 
zwischen  gegenständlicher  und  nachbildlicher  Region  ist  als 
eine  Distanz  nicht  mehr  zwischen  Gegenstand  und  Sinn, 
sondern  zwischen  urbildlichem  und  nachbildlichem  Sinn  an- 
zusehen. 

Wenn  hier  die  Gegenstände  selbst  als  urbildlicher 
theoretischer  Sinn  bezeichnet  werden,  so  ist  es  allerdings 
auf  den  ersten  Anblick  denkbar,  terminologisch  daran  An- 
stoß zu  nehmen.  Es  scheint  zweckmäßig  zu  sein,  den  Ter- 
minus „Sinn"  auf  die  Gebilde  der  nachbildlichen  Urteils- 
region einzuschränken.  Diese  entstehen  erst  —  wie  bereits 
angedeutet  wurde  —  auf  dem  Boden  der  Subjektivität. 
Eben  darum  scheint  nur  auf  sie  der  Ausdruck  „Sinn"  zu 
passen,  indem  Sinn  immer  „Sinn  von",  d.  h.  ein  von  einem 
Substrat,  so  insbesondere  von  Subjektsakten,  Ablösbares, 
ein  in  der  Subjektivität  Antreffbares,  bedeutet.  Allein  zu- 
nächst steht  —  wie  hier  freilich  nicht  näher  zu  begründen 
ist  —  sprachlich  dem  nichts  im  Wege,  den  Ausdruck  „Sinn" 
ebenso  wie  den  Terminus  ., Bedeutung"  in  einem  absoluten 
und  nicht  nur  in  einem  auf  ein  Substrat  hinweisenden 
Sinne  zu  gebrauchen.  Sodann  aber  ist  es  terminologisch 
von  höchstem  Wert,  der  mit  seiner  Logizität  und  Geltungs- 
artigkeit   sich    verbindenden    Maßstabsstellung  des   Gegen- 


—     134     — 

Standes  dem  nachbildlichen  Sinn  gegenüber,  der  Möglich- 
keit, den  Urteilssinn  und  den  Gegenstand  auf  diesen  ge- 
meinsamen Nenner  des  Sinnes  zu  bringen,  einen  markanten 
und  auffälligen  sprachlichen  Ausdruck  zu  verleihen  ^ 

Dasselbe  wie  vom  Sinn  gilt  aber  auch  vom  Ausdruck 
„Wahrheit",  wofern  man  unter  „Wahrheit"  (im  „objekti- 
ven" Sinne)  das  Ganze  theoretischen  Sinnes  verstehen  darf. 
Die  Geltungsregion  des  gegensatzlosen  Sinnes  darf  dann 
als  Region  gegensatzloser  „Wahrheit"  bezeichnet  werden. 
Die  nachbildliche,  die  im  Abstand  von  den  Gegenständen 
stehende  Wahrheit,  die  „Wahrheit  über"  sie,  ist  dann 
wieder  nicht  die,  sondern  nur  eine  Art  der  Wahrheit, 
und  es  gibt  jenseits  von  positiver  Wahrheit  und  Wahr- 
heitswidrigkeit die  gegensatzlose  urbildliche  Wahrheit,  die 
mit  dem  Gegenstand  zusammenfällt^. 

um  nun  diesen  Ertrag  der  bisherigen  Untersuchung, 
daß  die  positive  Wahrheit  an  einer  gegensatzlosen  ihr  Ur- 
bild hat,  daß  nicht  die  positive,  sondern  die  gegensatzlose 
Wahrheit  den  höchsten  Punkt  im  theoretischen  Gesamtge- 
biet einnimmt,  zu  einem  sprachlichen  Ausdruck  zu  bringen, 
mag  die  urbildliche  Wahrheit  als  Wahrheit  ohne  Beinamen 
bezeichnet,  die  positive  Wahrheit  aber  —  zum  Zeichen  ihrer 
nachbildlichen  Stellung  —  als  „Wahrheitsgemäßheit"  da- 
von unterschieden  werden.  Es  stehen  darum  AVuhrheits- 
gemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit  zu  einander  im  Ver- 
hältnis des  Gegensatzes,  dagegen  Wahrheit  und  Wahrheits- 
gemäßheit ebenso  wie  Wahrheit  und  Wahrheitswidrigkeit 
im  Verhältnis  des  Abstandes  zwischen  Urbild  und  Nach- 
bild oder  zwischen  Maß  und  Gemessenem.   Und  es  ist  über- 

'  Es  ist  jedoch  zuzugeben,  daß  es  sich  hierbei  lediglich  um  eine 
terminologische  Zweckmüüif^keitslrage  handelt. 

'  Allerdings  wird  bei  diesen  nachbildlichen  „Wahrheiten*  immer 
an  die  Gefüge  des  ganzen  Urteilssinnes,  also  an  die  „Richtigkeiten" 
gedacht. 


—     185     — 

haupt  (las  Abstands-  oder  Meßbarkeits-  und  das  Gegen- 
satzverhältnis klar  auseinanderzuhalten.  Nach  der  neuen 
Terminologie  bedeutet  somit  in  dem  Terminus  „Wahrheits- 
widrigkeit" das  Wort  „Wahrheit"  das  gegensatzlose  Urbild, 
nicht  aber  die  positive  Wahrheit ;  mithin  das  ,  wozu  die 
Wahrheitswidrigkeit  im  Abstand,  und  nicht  das,  wozu  sie 
im  Gegensatz  steht.  „Widrigkeit"  drückt  mithin  von  jetzt 
an  nicht  das  Gegensatz-,  sondern  ebenso  wie  Gemäßheit 
das  Abstandsverhältnis  aus. 

Für  den  Standpunkt  der  Verabsolutierung  des  Gegen- 
satzes, der  Bindung  des  Wertes  an  die  Gegensätzlichkeit, 
kann  alle  Nichtgegensätzlichkeit  nicht  als  Gegensatzjen- 
seitigkeit,  sondern  nur  als  Gegensatz-  und  Wertdiesseitig- 
keit,  nicht  als  Ueber-,  sondern  nur  als  Untergegensätzlich- 
keit, als  Gegensatzindifferenz  und  Wertneutralität,  erschei- 
nen. Zum  Gedanken  der  Gegensatzjenseitigkeit  im  Sinne 
der  Uebergegensätzlichkeit  kann  es  da  noch  garnicht  kom- 
men. Neben  dem  Wertgegensatz  gibt  es  nur  Wertgegen- 
satzdiesseitigkeit  im  Sinne  der  Nichtwertartigkeit,  aber  nicht 
Wertgegensatzjenseitigkeit  im  Sinne  der  übergegensätzlichen 
Wertartigkeit. 

Der  Begriff  des  übergegensätzlichen  Sinnes  muß  nun 
aber  auch  Konsequenzen  für  den  Erkenntnisbegriff  nach 
sich  ziehen.  Insofern  Erkennen  das  Subjektskorrelat  des 
Sinnes  ist,  muß  dem  gegensätzlich  gespaltenen  Sinn  ein 
gegensätzlich  gespaltenes,  ein  urteilendes  Erkennen,  dagegen 
dem  übergegensätzlichen  Sinn  ein  übergegensätzliches,  über- 
urteil sartiges  Erkennen  korrespondieren.  Ein  solches  Er- 
kennen wäre  als  Subjektskorrelat  der  durch  die  Struktur- 
komplikationen hindurch  wieder  hergestellten  schlichten  Ur- 
struktur, somit  als  schlichte  Hingabe  an  das  kategorial  be- 
troffene, an  das  in  der  Gewalt  der  logischen  Form  stehende 
Material,    an    das   urbildliche  Strukturgefüge   der    mit  dem 


—     136     — 

unzerstückelten  Gegenstand  zusammenfallenden  gegensatz- 
losen Wahrheit,  somit  als  Prädizieren  im  ursprünglichen 
metagrammatischen  Sinne,  freilich  noch  ohne  Prädikations- 
charakter (vgl.  ob.  S.  113),  zu  denken.  Ein  solches  Er- 
kennen darf  nur  als  Empfängerin  des  Gegenstandes,  aber 
nicht  als  irgendwelches  Schalten  mit  seinen  isolierten  Ele- 
menten, darum  nicht  als  Aktivität  eines  Prädizierens,  eines 
Hineinsteilens  in  die  kategoriale  Form,  einer  formenden 
Funktion,  angesehen  werden.  Es  erfaßt  das  unzerstörte 
oder  wiederhergestellte  Urbild,  in  dem  es  nur  ein  schlichtes 
Stehen  der  Inhalte  in  den  Kategorien  gibt.  Nicht,  wie  die 
ürteilsentscheidung  auf  gegensätzlich  gespaltene  Objekte, 
sondern  auf  den  gegeusatzlosen  Gegenstand  selbst  ist  es 
gerichtet.  Damit  ist  als  Korrelat  der  gegensatzjenseitigen 
transzendentallogischen  Gegenstandsstruktur  ein  urteilsjen- 
seitiger und  transzendentallogischer  Erkenntnisbegriff  auf- 
gestellt ^  — 

Bisher  ist  soviel  erreicht  worden,  daß  das  gegenständ- 
liche Urgefüge  in  seiner  Ganzheit  und  Einheit  als  über- 
gegensätzliches Urbild  des  Wertes  und  des  Sinnes  aner- 
kannt werden  muß.  Aber  jetzt  fragt  es  sich,  ob  das  Ur- 
gefüge als  Ganzes  oder  ob  eines  seiner  Elemente  der  eigent- 
liche Sitz  des  Wertes  ist.  Verlegt  man  den  Wert  in  das 
Urgefüge  als  Ganzes,  so  müßte  er  auf  dem  ürverhältnis 
beruhen.  Allein  in  diesem  Verhältnis,  das  ja  kein  „har- 
monisches" und  also  kein  irgendwie  wertbetontes  ist,  im 
bloßen  Hinweisen  und  in  der  Betroffenheit,  kann  der  Wert- 
charakter nicht  liegen.    So  muß  er  denn  in  den  Elementen 

•  So  liefert  die  gesamte  vorangegangene  Darstellung  den  Unter- 
bau für  die  in  der  , Logik  der  Philosophie"  herrschende  Auflassung, 
nach  der  theoretischer  Sinn  oder  , Wahrheit"  im  bloßen  Form-Mate- 
rial-Gefüge  beschlossen  ist  und  mit  dem  Gegenstand  zusamnientallt, 
das  Erkennen  entsprechend  als  schlichte  Gegenstandsbemächtigung 
erscheint. 


—     137     — 

selbst  stecken.  Aber  offenbar  nicht  im  beliebigen  Irgend- 
etwas, das  dem  Theoretisch-Unsinnlichen  gegenüber  in  der 
Situation  der  Betroffenheit  zu  stehen  vermag.  Kann  doch 
das  Material  beispielsweise  sinnlich-anschaulicher  und  d.  h. 
wertfremder  Art  sein.  Vielmehr  nur  im  Unsinulichen  selbst, 
das,  zur  Form  werdend,  über  sich  hinausweist,  also  auf 
Seiten  des  spezifisch  logischen  Feingehalts,  der  dem  ganzen 
Gebiet  das  Gepräge  gebenden  Wahrheitsform,  kann  die 
AVertartigkeit  gelegen  sein.  Das  Unsinnliche  und  das  Un- 
sinnliche allein  ist  die  Stätte  der  Geltungs-  und  Wert- 
artigkeit. 

Damit  erhält  erst  der  Geltungs-  und  Wertbegriff 
seinen  Ort  in  den  Grundbegriffen  der  gesamten  Geltungs- 
philosophie. Das  Gesamtbild  von  der  Struktur  des  Gel- 
tungsartigen erhält  damit  seine  wesentlichste  nachträgliche 
Ergänzung.  In  die  frühere  Zeichnung  von  der  theoretischen 
Urstruktur  und  ebenso  in  die  ganze  Bedeutungsdifferenzie- 
rungslehre  ist  diese  Wertfärbung  jetzt  einzutragen.  Mit 
dem  Einen  schlechthin  reinen  und  mannigfaltigkeitslosen 
Unsinnlichen  fällt  auch  Gelten  und  Wert  zusammen.  Und 
die  Vielheit  der  Formbedeutungen  erweist  sich  jetzt  als  ein 
Strahlenbüschel  wertartigen  Hingeltens.  Das  Ünsinnliche 
und  damit  das  wertartige  Gelten  zerlegt  sich  in  eine  Viel- 
heit geltungs-  und  wertartiger  Formen.  In  ihnen  allen 
steckt  das  schlechthin  mannigfaltigkeitslose  wertartige  Gel- 
ten überhaupt,  dem  sich  in  jeder  Einzelform  als  Symptom 
des  Hinweisens  auf  bestimmtes  Material  der  trübere  Be- 
deutungsgehalt ansetzt.  Das  Bedeutungsmoment  erweist 
sich  als  das  principium  individuationis  des  Geltungsartigen. 
Das  Unsinnliche  und  entsprechend  jede  Einzelform  darf 
nun  nicht  mehr  etwa  als  ein  untergegensätzlich  und  unter- 
wertartig  Neutrales  angesehen,  sondern  muß  als  übergegen- 
sätzlich Geltungs-  und  AVertartiges  begriffnen  werden.    Was 


—     138     — 

vorher  von  der  Uebergegensätzlichkeit  der  urbildlichen  Re- 
gion ausgemacht  wurde,  überträgt  sich  ja  jetzt  gerade  und 
ausschließlich  auf  die  kategoriale  Formenwelt.  Der  beson- 
dere Bedeutungsgehalt  der  Einzelform,  als  eine  Belastung, 
die  sich  dem  Einen  Geltungs-  und  Wertmoment  überhaupt 
anhängt,  ist  freilich,  als  auf  der  gegensatzlosen  Urrelation 
zum  Material  beruhend,  a  n  der  geltungs-  und  wertartigen 
Form  der  geltungs-  und  wertindifferente  Faktor.  Das  Gel- 
tungs- und  Wertartige  überhaupt  ist  als  das  Unsinnliche 
überhaupt  ein  schlechthin  einfaches  Moment.  Schon  um 
dieser  Einfachheit  willen  kann  das  Urphänomen  von  Gelten 
und  Wert  nicht  ein  gegensätzlich  Gespaltenes,  sondern  nur 
ein  Einheitlich-Eines  sein. 

Indem  so  der  Wert  in  letzter  Linie  in  ein  schlecht- 
hin einfaches  Moment  verlegt  wird,  ist  gänzlich  mit  jener 
der  Verabsolutierung  des  Gegensatzes  der  Sache  nach  stets 
zugrundeliegenden  Anschauung  aufgeräumt,  nach  der  der 
Sitz  des  Wertes  sinnartiger  Gefüge  im  Verhältnis  der  selbst 
wertindifferenten  Elemente  zueinander  gesucht  wird.  Viel- 
mehr in  einem  einzelnen  Element  des  Urgefüges ,  in 
einem  Element  des  Denkbaren  überhaupt,  steckt,  wie  sich 
jetzt  herausgestellt  hat,  ursprünglich  der  Wert.  Als  gel- 
tungs- und  wertartig  erscheinen  der  gewohnten  Betrach- 
tungsweise immer  nur  die  wertigen  und  unwertigen  Urteils- 
gefüge ,  die  Einheiten  und  Ganzheiten  des  nachbildlichen 
Sinnes.  Jetzt  wird  eingesehen,  daß  der  Ursprung  des  Gel- 
tungs- und  Wertcharakters  nicht  nur  ins  gegensatzlose  Ur- 
gefüge  zurückzuschieben  ist,  sondern  dieses  selbst  als  Gan- 
zes seine  Geltungs-  und  Wertartigkeit  nur  seinem  unsinn- 
lichen Bestandteil  verdankt ,  das  materiale  Moment  dage- 
gen von  dessen  Glanz  lediglich  betroffen  wird,  ohne  selbst 
etwas  zur  theoretischen  Geltungsartigkeit  beizutragen '.  Um 
'  Vgl.  auch  Log.  d.  Pliilos.,  34  f. 


—     139     — 

wieviel  mehr  muß  als  vom  ursprünglichen  Sitz  des  Geltens 
und  des  Wertes  abliegend  jetzt  das  erkannt  werden ,  was 
in  der  Logik  als  die  einzig  abgeschlossene  Geltungseinheit 
aufzutreten  pflegt ,  nämlich  das  Ganze  der  nachbildlichen 
Struktur. 

Es  zeigt  sich  ferner  jetzt ,  daß  die  Verabsolutierung 
der  Gegensätzlichkeit,  indem  sie  den  Wert  ins  harmonische 
und  disharmonische  Verhältnis  rücken  läßt  und  so  konse- 
quenterweise die  Elemente  zu  wertindifferenten  Bestand- 
stücken herabsetzt,  dazu  kommen  muß,  gerade  das  ursprüng- 
lich Wertartige  zu  neutralisieren  und  zu  entwerten.  Die 
kategorialen  Formen  ,  die  weder  positiv  wahr  noch  wahr- 
heitswidrig sein  können  ,  müssen  für  diese  Auffassung  als 
indifferent  im  Sinne  der  untergegensätzlichen  Neutralität 
gelten.  Das  aufdringlichst  Wertartige,  das  upotepov  npbc, 
^\ioi.q  des  Wertes  ,  das  Wertgegensätzliche,  stellt  geradezu 
den  ursprünglichen,  den  übergegensätzlichen  Wert  in  Schat- 
ten. Ruht  das  Wertmoment  gerade  und  ausschließlich  in 
der  Positivität  oder  Negativität  der  Gefüge  ,  in  denen  die 
Kategorien  als  Elemente  auftreten  ,  dann  muß  sich  deren 
gegensatzlose  Gültigkeit  geradezu  verdecken.  Als  Formen 
unsinnlichen  Bedeutungsgehalts  können  sie  sich  zwar  auch 
für  diese  Auffassung  von  der  sinnlich  anschaulichen  Ma- 
terialsmasse abheben,  aber  des  Wertcharakters  müssen  sie 
entbehren.  Nun  ist  freilich  die  frühere  Argumentation 
streng  aufrecht  zu  erhalten,  daß,  wenn  es  positive  Wahr- 
heit und  Wahrheitswidrigkeit  geben  soll,  dies  nur  aus  dem 
Zusammenspiel  für  sich  wertindifferenter  Elemente  zu  er- 
klären ist.  Aber  daraus  folgt,  daß  es  eben  positive  Wahr- 
heit und  Wahrheitswidrigkeit  garnicht  in  der  urbildlichen, 
sondern  nur  in  der  gekünstelten  Region  überhaupt  gibt. 
Gegensätzliche  W^ahrheit  und  Wahrheitswidrigkeit  besteht 
nur  durch  Verdrängung  und  Verleugnung  des  ursprünglich 


—     140     — 

Wertartigen.  Freilich  gibt  es  keine  wahren  und  wahrheits- 
widrigen ,  keine  positiven  und  negativen  Kategorien.  Daß 
aber  diese  Indiiferenz  gegen  Wahrheit  und  Wahrheitswid- 
rigkeit nicht  auf  einer  Diesseitigkeit,  sondern  auf  einer  Jen- 
seitigkeit gegenüber  diesem  Gegensatz,  nicht  auf  einer  Un- 
ter-, sondern  auf  einer  Uebergegensätzlichkeit  beruht,  mußte 
bei  der  Gleichsetzung  von  Wert  und  Wertgegensatz  ver- 
borgen bleiben.  Diese  Schwierigkeiten  lösen  sich  eben  nur 
durch  die  Einsicht  auf,  daß  verschiedene  Regionen  der 
Wertigkeit  übereinander  bestehen  und  daß  in  der  niederen 
die  Wertartigkeit  der  höheren  verwischt  wird  ,  wie  umge- 
kehrt in  der  höheren  von  der  niederen  noch  keine  Spur 
anzutreffen  ist.  Somit  büßen  die  (gegenstände  bei  ihrem 
Eingehen  in  die  nachbildlichen  Strukturgefüge  außer  ihrer 
ürstruktur  auch  die  gegensatzlose  Wertartigkeit  ihres  kate- 
gorialen  Elementes  ein. 

So  führen  die  Grundanschauungen  der  gesamten  bis- 
herigen ,  irgendwie  mit  dem  Geltungs-  und  Wertbegriff 
operierenden  Logik  unabweislich  zur  Entwertung  und  Neu- 
tralisierung der  Kategorien.  Und  doch  konnte  wiederum 
gerade  die  Geltungs-  und  AVertlogik  bei  diesem  Ergebnis 
sich  niemals  beruhigen.  Denn  das  Logische  und  Theore- 
tische überhaupt  sollte  als  ein  „Vernunff'-Gebiet  und  da- 
mit auch  die  kategoriale  Form  als  mit  dem  Wert  der  Trans- 
zendentalität  bekleidete  Verstandesform,  als  allgemeingül- 
tige und  notwendige  Apriorität,  als  überempirischer  Gehalt, 
begriffen  werden.  So  blieb  denn,  um  ihnen  diese  Dignität 
zu  erhalten,  nichts  anderes  übrig,  als  doch  wiederum  Gel- 
tungsartigkeit, damit  aber  zugleich  gegensätzliche  Positivi- 
tät,  in  sie  hineinzulegen. 

Nur  durch  den  Begriff  der  übergegensätzlichen  Gel- 
tungs- und  Wertartigkeit  ist  es  überhaupt  möglich ,  der 
kategorialen  Form  und  der   ganzen    durch    Kant    geschaf- 


—     141     — 

fenen  gegenständlich-logischen  Region  ihre  Stelle  im  System 
der  Logik  anzuweisen.  Ohne  ihn  muß  entweder  die  unbe- 
streitbare Gegensatzindifferenz  oder  aber  die  Geltungsartig- 
keit der  Kategorie  preisgegeben  werden.  Hier  zeigt  sich 
die  absolute  Unentbehrlichkeit  des  Begriffs  der  üeberge- 
gensätzlichkeit  für  die  Grundbegriffe  der  Logik.  Die  durch 
das  Fehlen  dieses  Begriffs  verschuldete  unvermeidliche  Un- 
ausgeglichenheit der  bisherigen  Transzendentalphilosophie 
wird  am  Schluß  dieses  Abschnittes  noch  eingehender  vor 
Augen  geführt  werden. 

Daß  aber  der  Ausweg,  eine  Geltungs-  und  Wertneu- 
tralität der  Kategorien  zu  vertreten,  gänzlich  versperrt  ist, 
folgt  aus  dem  zu  Beginn  dieses  Abschnittes  angeführten 
Maßstabsargument.  Wer  die  Wertgegensätzlichkeit  der 
Urteilsgefüge  zugibt,  muß  auch  den  gegensatzlosen  theore- 
tischen Wert  der  Gegenstände  anerkennen.  Dieser  aber 
kann  lediglich  in  dem  die  Gegenständlichkeit  konstituieren- 
den Moment  der  Kategorie  seinen  Sitz  haben.  Gegen- 
sätzlichkeit und  untergegensätzliche  Neutralität  machen  eben 
nicht  die  einzigen  Möglichkeiten  des  Wertmoments  aus. 
Es  ist  ihnen  als  dritte  die  Uebergegensätzlichkeit  anzu- 
reihen. — 

Der  sekundäre  Charakter  des  gegensätzlichen  Wertes 
und  Unwertes  läßt  sich  auf  den  radikalsten  und  scheinbar 
paradoxesten  Ausdruck  bringen  ,  wenn  ausgemacht  wird, 
daß  es  sich  beim  Wertgegensatz  garnicht  mehr  um  eine 
reine  Wert-,  sondern  lediglich  um  eine  Bedeutungs-Ange- 
legenheit handelt.  Gegenüber  dem  gegensatzlosen  Wert 
stellt  sich  der  Wertgegensatz  bereits  als  eine  Bedeutungs- 
spaltung dar.  Wie  könnte  es  sich  auch  anders  verhalten? 
Das  Wertmoment  ist  ein  schlechthin  einfaches  und  viel- 
heitsloses. Nur  che  gegensatzlose  Wertartigkeit  kann 
schlechthin  reines  Wertmoment  sein.     Dagegen  die  Z  w  e  i- 


—     142     - 

h  e  i  t  von  AVert  und  Unwert  muß  bereits  eine  Mehrheit 
von  Wert  bedeutungen  darstellen  ,  wofern  Ernst  mit 
der  Mannigfaltigkeitslosigkeit  des  Wertes  gemacht  wird. 
Das  Wertmoment  überhaupt  muß  wie  über  alle  Unter- 
schiede, so  auch  über  den  Gegensatz  von  positivem  Wert 
und  Unwert  erhaben  sein.  Nach  den  Prinzipien  der  Be- 
deutungslehre muß  in  der  positiven  Wertqualität  die  Posi- 
tivität  des  Wertes  als  ein  zur  Wertartigkeit  überhaupt  hin- 
zutretendes, die  ursprüngliche  Wertartigkeit  freilich  dabei 
verdrängendes  (vgl.  ob.  S.  139  f.),  ganz  ausgezeichnetes  und 
unvergleichliches  Bedeutungsmoraent  gefaßt  werden.  Nur 
das  Hinnehmen  des  gegensätzlichen  Wertes  als  eines  Letz- 
ten und  Unzerlegbaren  kann  über  diese  Spaltbarkeit  des 
positiven  Wertes  hinwegtäuschen.  Dasselbe  gilt  nun  aber 
auch  für  die  Unwertigkeit.  Sie  ist  in  demselben  Sinne 
eine  Resultante  aus  Wertartigkeit  überhaupt  und  Negati- 
vität  des   Wertes. 

Bedeutungsbestimmend  für  die  ganz  eigentümlichen 
Wertbedeutungen  des  Gegensätzlichen  sind  die  auseinan- 
dergerissenen Elemente  des  nachbildlichen  Gefüges.  Dar- 
auf beruht  das  Auszeichnende  dieser  Bedeutung sdifferen- 
zierung,  darauf  beruht  auch  der  Umstand,  daß  sie  sich  mit 
der  Zerspaltung  in  die  kategorialen  Einzelformen  kreuzen 
muß.  Diese  beiden  verschiedenen  Bedeutungsdifierenzie- 
rungen  spielen  sich  eben  in  den  beiden  durch  den  Abstand 
voneinander  getrennten  Regionen  des  Sinngefüges  ab ,  be- 
ruhen auf  den  verschiedenen,  für  diese  beiden  Regionen 
charakteristischen  Strukturrelationen.  Materiale  Wahr- 
heitsgemäßheit und  Wahrheitswidrigkeit  ist  eine  Angele- 
genheit lediglich  der  materialen  Einzelheiten  des  theoreti- 
schen Sinnes.  Aber  darum  bildet  keineswegs  die  materiale 
Einzelheit  für  sich  schon  das  ausreichende  bedeutungsbe- 
stimmende Moment  dafür.     Denn  in  der   urbildlichen    Re- 


—     143     — 

gion  steht  auch  alles  Einzelne  an  sich  in  der  kategorialen 
Form.  Nicht  als  Material  der  Sinn  e  i  n  z  e  1  h  e  i  t ,  son- 
dern als  der  künstlichen  Region  angehörendes  losge- 
rissenes Strukturelement,  als  ein  nicht  im  Urverhältnis  des 
Urgefüges,  sondern  im  künstlich  komplizierten  nachbildlichen 
Gefüge  stehendes  Glied  ist  das  Material  bedeutungsbestim- 
mend für  das  gegensätzliche  Wertmoment.  Aber  in  der 
künstlichen  Region  erweist  sich  als  ebenso  bedeutungsbe- 
stimmend dafür  auch  der  kategoriale  Bestandteil.  Das 
Wertmoment  hat  sich  ja  hier  von  seiner  ursprünglichen 
Stätte,  nämlich  der  hingeltenden  Form ,  losgelöst  und  ist 
auf  das  ganze  ßeziehungsgefüge  übergegangen. 

Die  nach  Verdrängung  des  urbildlichen  Wertmoments 
in  der  gekünstelt-nachbildlichen  Region  übrigbleibende  ge- 
meinsame Wertartigkeit ,  um  deren  willen  Wert  und  Un- 
wert beide  in  weiterem  Sinne  Wert,  Wahrheitsgemäßheit 
und  Wahrheitswidrigkeit,  Sinn  und  Widersinn,  beide  in 
einem  weiteren  Sinne  Sinn  darstellen  ,  die  positiven  und 
die  negativen  Phänomene  somit  jedenfalls  beide  nicht  in 
die  Sphäre  des  Wertfremden,  sondern  in  die  Wert-  und 
Sinnsphäre  gehören  ^  darf  nicht  mit  der  urbildlichen  Ueber- 
gegensätzlichkeit  verwechselt  werden.  Auch  mit  dieser  ge- 
meinsamen Wertartigkeit  wird  allerdings  ein  gegensatzloser 
Wert-  und  Sinnbegriff  der  positiven  und  negativen  Ausgeprägt- 
heit gegenübergestellt.  Aber  der  Gedanke  einer  urbildlichen 
Gegensatzlosigkeit  jenseits  von  Wert  und  Unwert  wird  dabei 
garnicht  gestreift.  Es  handelt  sich  bei  einem  solchen  um- 
fassenderen Wertbegriff  um  Gegensatzlosigkeit  lediglich  im 
Sinne  der  Indifferenz  und  der  nachträglichen  Abstraktion, 
um  Gemeinsamkeit  lediglich  im  Sinne  der  Unbestimmtheit. 
Zur  gegensatzlosen  Region  wird  dabei  gar  nicht  fortge- 
schritten, vielmehr  gerade  ausdrücklich  im  Gesichtskreis 
1  Vgl.  Rickert,  Zwei  Wege  d.  Erktb.,  Kantst.  1909,  38  ff. 


—     144     — 

der  Gegensätzlichkeit  verharrt.  Aus  ihrem  Bereich  wird 
durch  bloße  ^'ernachlässigung  der  Gegensätze,  durch  Ab- 
sehen von  der  charakteristischen  AVertigkeit  und  Unwertig- 
keit,  die  dabei  als  letzte,  unzerlegbare  Phänomene  bestehen 
bleiben,  das  gattungsmäßig  Allgemeine ,  die  unbestimmte 
Mitte,  die  Durchschnittlichkeit  eines  Wertes  und  Sinnes 
überhaupt,  gewonnen,  ein  Oberbegriff  im  Sinne  der  vox 
media  gebildet.  Der  gegensatzlose  Wert  der  ursprüng- 
lichen Region  ist  das  Eine  und  schlechthin  Reine,  das  Un- 
differenzierte und  Schlichte  vor  der  Differenzierung  in  die 
Gegensätze :  der  gegensatzlose  Wert  im  Sinne  der  vox  me- 
dia ist  die  nachträgliche  und  nivellierende  Abstraktion  aus 
den  bereits  gegensätzlich  gespaltenen  Phänomenen.  Die 
vox  media  steht  nicht  über  den  Gegensätzen,  denn  die  Ge- 
gensatzregion wird  garnicht  verlassen  ;  aber  auch  nicht 
unter  den  Gegensätzen,  denn  sie  umfaßt  ja  gerade  die 
ganze  GegensatzregioD  :  sie  steht  vielmehr  zwischen  den 
Gegensätzen  als  ihr  Durchschnitt.  Es  gibt  somit  Gegen- 
satzlosigkeit  im  Sinne  der  Untergegensätzlichkeit,  der  Zwi- 
schengegensätzlichkeit und  der  Uebergegensätzlichkeit  ^  — 
So  häufig  auch  der  Gedanke  der  Uebergegensätzlich- 
keit in  der  Geschichte  der  gesamten  Philosophie,  insbeson- 
dere der  Metaphysik,  vorkommt,  in  der  Logik  selbst  ist 
merkwürdig  selten  gerade  vom  Problem  der  ürteilsgegen- 
sätzlichkeit  aus  der  Begiüff  der  ebenso  suprapositiven  wie 
supranegativen  theoretischen  Gegensatzlosigkeit  gewonnen 
worden.  Es  wurde  indessen  bereits  hervorgehoben,  daß  für 
die  vorkopernikanische  Nachbildtheorie  des  Erkennens  mit 
ihrer  Verlegung  der  Gegenstände  ins  Metatheoretische  deren 


'  Gänzlich  außerhalb  der  Gegensatzregion  überhaupt  gibt  es 
außerdem  noch  die  Gegensatzlosigkeit  im  Sinne  der  Gegensatzfremd- 
heit, die  dem  Wert-  und  Bedeutungsfremden  eignet;  über  dieses  vgl. 
Log.  d.  Phil,  48  ff. 


—     145     - 

Erhabenheit  über  die  Positivität  ebenso  wie  über  die  Ne- 
gativität  sich  viel  mehr  aufdrängen  mußte  (83  ff.).  Und  doch 
findet  sich  eine  ausdrückliche  Reflexion  auf  diese  allen  Ueber- 
einstimmungstheorien  zugrundeliegende  Gegensatzentrückt- 
heit  der  Gegenstände  nur  in  dem  ersten  großen  vorbild- 
lichen Ausbau  der  Uebereinstimmungstheorie ,  bei  Aristo- 
teles. Es  wurde  bereits  früher  erwähnt,  daß  bei  ihm  die 
gegensätzlich  gespaltenen  Sinngefüge  des  Einander-Zukom- 
mens  eine  Zwischenstellung  einnehmen  zwischen  der  bloßen 
Subjektivität  und  der  von  aller  Subjektivität  unberührten 
Gegenständlichkeit  (39  ff.).  Die  für  den  Gedanken  der  Ueber- 
gegensätzlichkeit  entscheidende  Tat  des  Aristoteles  besteht 
darin,  daß  er  das  im  eigentlichen  Sinne  Seiende  (xuptwc: 
övxa)  über  die  der  Subjektivität,  dem  „Denken"  (S'.avoca), 
angehörenden  gegensätzlich  gespaltenen  Aussagegefüge  her- 
aushebt, wobei  er  gleichzeitig  die  Positivität  und  die  Nega- 
tivität  aus  der  Metaphysik  verweist,  in  die  nach  ihm  nur 
das  in  die  Kategorien  eingeteilte  übergegensätzliche  eigent- 
liche Sein  gehörte  Allerdings  behandelt  er  dabei  ohne 
eigentliche  Abgrenzung  gegeneinander  die  gute  und  die 
schlechte  Gegensatzlosigkeit ,  also  die  Uebergegensätzlich- 
keit  einerseits  und  die  Gegensatzindifferenz  der  einzelnen, 
aus  dem  Kopulationsgefüge  (aup-TcXo"/./!)  herausgenommenen 
Elemente  andererseits  ^.  Immerhin  stellt  er  deutlich  den 
Begriff  des  übergegensätzlichen  Erkennens  auf,  freilich  ohne 
auch  hier  wieder  zwischen  der  Gegensatzdiesseitigkeit  der 
bloßen  Wahrnehmung  und  der  Gegensatzjenseitigkeit  eines 
der  Gegensätzlichkeit  entrückten  reinen  Denkens  einen  Un- 
terschied zu  machen  ^ 


1  Bes.  Met.  \L  4,  1027b— 1028a. 
-  S.  cat.  c.  4. 

3  Met.  IX,  10.  1051b  17  tt'.,    de  an.  III,  6.  430  b  27  ff.,    P  r  a  n  1 1. 
115,   Mai  er  I,  6  ff.,  19  ft'.,  39.     Es  sind  somit  bei  Aristoteles    drei 

Ij  a  s  k     Lehre  vom  Urteil.  10 


—     146     — 

Gerade  das ,  was  dem  Aristoteles  zum  Vorwurf  ge- 
macht wird  und  was  aus  dieser  gleichmäßigen  Messung  der 
Positivität  und  der  Xegatiyität  an  den  Gegenständen  folgt, 
nämlich  die  ungeachtet  aller  Hervorhebung  eines  Vorrangs 
der  Positivität  vorherrschende  Koordinierung  des  Positiven 
und  des  Negativen,  macht  das  Tiefste  und  Berechtigtste 
seiner  ganzen  ürteilstheorie  aus  und  bezeichnet  den  Punkt, 
in  dem  fast  die  gesamte  nachfolgende  Urteilstheorie  wieder 
unter  ihn  herabgesunken  ist.  Denn  so  unbestreitbar  aller- 
dings der  Vorrang  des  Positiven  vor  dem  Negativen  auch 
ist,  so  bildet  doch  die  unerläßliche  Vorbedingung  für  die 
Orientierung  über  den  logischen  Ort  der  ganzen,  Positivi- 
tät und  Negativität  gleichmäßig  umfassenden  Urteilsregion 
die  Einsicht  in  ihre  gemeinsame  Distanz  gegenüber  einem 
urbildlichen  Maßstab.  Diese  richtige  Einordnuug  in  das 
Ganze  der  theoretischen  Philosophie  ist  gleich  dringlich 
für  jede  Urteilstheorie ,  mag  sie  auf  vorkopernikanischem 
oder  auf  Kopernikanischem  Standpunkt  stehen.  So  kann 
man  sagen,  daß  der  erste  große  Entwurf  einer  Urteilslehre 
auf  einer  nachher  nicht  mehr  erreichten  Höhe  steht. 

Freilich  vermag  Aristoteles,  wie  früher  bereits  bemerkt 
wurde,  die  nichtmetaphysische  Relevanz  der  theoretischen 
Gegensätzlichkeit  nicht  konsequent  aufrecht  zu  erhalten, 
wie  sich  denn  überhaupt  bei  ihm  das  Verhältnis  zwischen 
der  logischen  und  der  metalogisch-metaphysischen  Seins- 
sphäre   schwer   bestimmen  läßt  (vgl.  oben  S.  44  u.  115  f.). 

Problemgeschichtlich  wäre  es  nun  die  bedeutsamste 
Frage,  ob  bei  Kant  und  dem   Kantianismus,    also  da,    wo 

WahrheitsbegriflFe  auseinanderzuhalten  :  eine  gegensatzlose  Wahrheit, 
eine  sachartige  und  endlich  die  Wahrheit  der  urteilenden  Aussage, 
also  eine  übergegensützliche  und  zwei  gegensätzliche.  Es  reicht 
darum  nicht  aus,  mit  Mai  er  I,  10,  13,  39  nur  zwischen  der  sach- 
lichen und  der  Urteilswahrheit  zu  unterscheiden  und  in  der  ersteren 
die  gegensatzlo?e  und  die  positive  Wahrheit  zusammenzufassen. 


—     147     — 

die  theoretische  Gültigkeit  in  die  Gegenstände  hineinverlegt 
wird,  die  daraus  folgende  Konsequenz  einer  gegensatzlosen 
theoretischen  Geltungsartigkeit  gezogen  wird.  Allein  hier 
zeigt  sich  der  auffällige  Umstand,  daß  auch  in  der  trans- 
zendentalphilosophischen Logik  die  Reflexion  fast  niemals 
ausdrücklich  auf  diesen  Punkt  gerichtet  wurde  ^  Und  es 
ist  bereits  vorher  darauf  hingewiesen  worden,  daß  sich  in 
der  bisherigen  Transzendentälphilosophie  die  Spuren  jenes 
durch  das  Fehlen  des  Uebergegensätzlichkeitsbegriffs  ver- 
anlaßten  Dilemmas  zeigen  mußten,  entweder  auf  die  Gel- 
tungsartigkeit oder  auf  die  Gegensatzentrücktheit  der  trans- 
zendentallogischen Region  zu  verzichten  (vgl.  oben  S.  141). 
Der  Sache  nach  müssen  freilich  in  jeder  Kantianisti- 
schen  Transzendentali^hilosophie  die  transzendentallogischen 
Geltungsbegriffe,  also  die  Begriffe  der  kategorialen  Form, 
der  kategorialen  Synthese,  und  alle  transzendentallogischen 
Subjektsrepräsentanten  wie  das  Bewußtsein  überhaupt,  die 
transzendentale  Apperzeption,  das  reine  Ich,  die  ja  einfach 

*  Der  Verlockung  eines  problemgeschichtlichen  Exkurses  darüber 
mußte  widerstanden  werden.  In  ihm  wären  vor  allem  auch  die  Ver- 
dienste von  Fries  darzustellen  gewesen.  Hier  sei  nur  soviel  ange- 
deutet, daß  Fries  auf  das  klarste  den  sekundären,  nachbildlichen, 
bloß  , wiederholenden"  Charakter  des  Urteils  erkennt,  das  er  darum 
zusammen  mit  Begriff  und  Schluß  aus  der  urbildlich-transzendental- 
logischen  Region  der  „unmittelbaren  Erkenntnis",  der  , Vernunft", 
herausnimmt  und  als  eine  , bloße  Formel  des  "Wiederbewußtseins 
einer  ursprünglichen  Erkenntnis"  der  , mittelbaren  Erkenntnis",  der 
bloß  -wiederbeobachtenden"  »Reflexion"  zuweist;  s.  z.  B.  Neue  Kritik 
der  Vernunft,  1807,  I,  188.  198  f.,  202,  206,  210,  240,  266.  Die  Refle- 
xion wird  der  Vernunft  gegenüber  als  bloße  ,Form",  als  , Mittel" 
und  „Werkzeug"  charakterisiert;  s.  z.  B.  Neue  Kr.  I,  188,  205,  II,  30, 
Metaphysik,  1824,  243.  Zu  dieser  Auseinanderhaltung  der  Regionen 
wird  das  Gegensatzproblem  in  Beziehung  gebracht  und  die  Gegen- 
sätzlichkeit ausschließlich  der  Reflexion  zugewiesen,  wobei  Wahrheit 
und  Irrtum  durch  Uebereinstimmung  und  Nichtüberstimmung  mit  der 
den  Gegensätzen  entrückten  unmittelbaren  Erkenntnis  gemessen  wer- 
den soll;  s.  Neue  Kr.  I,  199.  215  f..  289  ff.,  339  f. 

10* 


—     148     — 

für  das  gegenständliche  Urbild  selbst  einzutreten  haben, 
im  Sinne  übergegensätzlicher  Geltungsartigkeit  gedeutet 
werden.  Und  wie  die  gegenständlichen  Kategorien  über- 
gegensätzliche Formen,  so  müssen  die  Gegenstände  selbst 
eine  übergegensätzliche  Yerklammerung  von  Kategorie  und 
Kategorienmaterial  darstellen.  Man  vergegenwärtigt  sich 
den  ganzen  Abstand  zwischen  der  transzendentalen  und  der 
vorkantischen  Logik,  wenn  man  bedenkt,  daß  die  Aristote- 
lische „Sjnthesis"  des  Aussagegefüges,  des  Xoyo^,  und  die 
transzendentale  „Synthesis"  der  Kategorie  nichts  mitein- 
ander zu  tun  haben,  daß  der  Xoyoc  im  Sinne  der  antiken 
Logik  kein  Orientierungspunkt  für  die  transzendentallogische 
Region  zu  sein  vermag. 

Doch  findet  man  nirgendwo  einer  übergegensätzlichen 
Geltungsartigkeit  irgendwie  Erwähnung  getan.  Vielmehr  ver- 
leitet die  Kantische  Darstellung  fortwährend  dazu,  die  Gültig- 
keit, wo  auch  immer  sie  eine  Rolle  spielt,  im  Sinne  der  posi- 
tiven Gültigkeit  zu  verstehen.  Wo  Kant  der  „objektiv  gülti- 
gen" Einheit  und  Synthesis  gedenkt,  da  stellt  er  sie  den 
assoziativ  veranlaßten  nur  „subjektiv  ^rültigen",  den  willkür- 
lichen und  relativen,  den  unwertigen,  negativen  Synthesen 
gegenüber  ^  Aber  die  negativen,  ungültigen  Synthesen  reprä- 
sentieren, wie  sich  herausgestellt  hat,  Gefüge  zwischen 
kategorialer  Relation  und  Material  (vgl.  ob.  S.  90  ff.).  Kann 
man  sich  nicht  des  Eindrucks  schwer  erwehren,  daß  die  ihnen 
gegenübergestellten  objektiv  gültigen  Synthesen  positiv  gül- 
tige Gefüge  zwischen  Kategorie  und  Kategorienmaterial, 
also  Zusammengehörigkeiten,  sein  sollen,  mithin  das,  was 
anstatt  im  Abstand  im  Gegensatz  zu  den  ungültigen  Ge- 
fügen steht?  Es  wird  jedenfalls  ohne  irgendwelche  Be- 
rücksichtigung der  zwischen  den  gegenständlichen  Geltungs- 
gebilden und  den  positiv  gültigen  Gefügen  bestehenden 
»  Vgl.  z.  B.  Kr.  d.  r.  V.  §  19. 


—     149     — 

Strukturdistanz  lediglich  die  objektive  Gültigkeit  der  Will- 
kürlichkeit und  Subjektivität  gegenübergestellt.  Es  wird 
nirgends  irgendwie  zum  Ausdruck  gebracht,  daß  doch  die 
kategorialen  Synthesen,  auf  deren  Rechnung  die  Erhöhung 
des  sinnlichen  Impressionsmaterials  zur  Gegenständlichkeit 
kommt,  in  den  ungültigen  Gebilden  ganz  ebenso  als  Ele- 
mente vertreten  sind,  wie  in  den  positiv  gültigen  und  den 
gegensatzlosen  Strukturganzheiten.  Es  wird  nirgends  dar- 
auf Rücksicht  genommen,  daß  es  infolgedessen  ganz  schief 
ist,  die  kategorialen  Synthesen  und  die  ungültigen  Gefüge 
einander  gegenüberzustellen.  Daß  das  transzendentale  Ge- 
genstandsproblem garnicht  durch  diese  Entgegensetzung, 
sondern  allein  durch  den  Hinzutritt  des  gegensatzlos  Gel- 
tungsartigen zum  geltungsfremden  sinnlichen  Impressions- 
material getroffen  wird. 

Dazu  kommt  noch,  daß  Kant  ausdrücklich  die  trans- 
zendentallogische Einheit  der  Apperzeption  mit  der  aus- 
schheßlich  der  nachbildlichen  Urteilsstruktur  angehörenden 
Kopula  verquickt  und  ferner  aus  Positivität  und  Negativi- 
tät  gegenständliche  Kategorien  macht  (vgl.  oben  S.  74 
u.  117,118). 

Wäre  das  Problem  der  Gegensatzlosigkeit  nur  irgend- 
wie in  den  Gesichtskreis  der  transzendentalphilosophischen 
Erörterung  getreten  ,  so  hätte  das  Bewußtsein  überhaupt 
und  der  ganze  transzendentalphilosophische  Subjektsapparat 
ausdrücklich  als  Repräsentant  des  gegensatzlosen  Stehens 
der  Inhaltlichkeit  in  der  transzendentalen  Form  ausgezeich- 
net werden  müssen.  Ausdrücklich  in  eine  Distanz  dazu 
wäre  das  gegensätzlich  gespaltene  Urteilen  zu  bringen  ge- 
wesen ,  als  ein  auf  Zerstücklung  des  Urbilds  beruhendes 
Stellen,  „Bringen",  „Subsumieren"  des  Materials  unter  die 
kategorialen  Einheitsmomente,  als  ein  fortwährendes  Ver- 
suchen, mit  dem  transzendentalen  Urbild  übereinzustimmen. 


—      150     — 

Urteilsartig  darf  nicht  das  transzendentale  Ich  und  der 
transzendentale  Verstand,  sondern  nur  das  nachbildliche 
„empirische'-  Erkennen  gedacht  werden.  Sonst  droht  das 
Bewußtsein  überhaupt  anstatt  übergegensätzliches  theoreti- 
sches Urbild,  anstatt  ein  Erkennen  im  echt  transzendental- 
logischen, der  gegenständlichen  Urstruktur  entsprechenden 
Sinne  zu  sein,  nur  wie  das  Idealbild  der  uns  als  Ziel  vor- 
schwebenden Erfüllung  des  Positivgültigen,  also  nur  wie  ein 
Vorbild  des  Urteilens,  zu  erscheinen :  anstatt  den  logischen 
Ort  für  die  gegensatzlose  Wahrheit  abzugeben  ,  sich  nur 
wie  die  Verkörperung  der  Wahrheitsgemäßheit  auszu- 
nehmen. 

Es  könnte  auf  den  ersten  Anblick  zugunsten  einer 
Interpretation  der  gesamten  Kantianistischen  Lehre  vom 
Bewußtsein  überhaupt  im  Sinne  der  Uebergegensätzlichkeit 
darauf  hingewiesen  werden,  daß  das  Bewußtsein  überhaupt 
doch  offenbar  als  ein  höchstes  und  einheitliches,  nicht  aber 
als  ein  gegensätzlich  gespaltenes  und  dementsprechend  denn 
auch  als  ein  nur  bejahendes,  nicht  aber  als  ein  der  Alter- 
native von  Bejahung  und  Verneinung  unterliegendes  ge- 
dacht werde.  Es  entspreche  nun  dieser  Ausschließlichkeit 
der  Bejahung  eine  Alleinherrschaft  der  positiven  Wahrheit. 
Dadurch  aber  werde  eine  unspältige  Positivität  über  die 
ganze  Region  emporgehoben,  in  der  es  die  Zwiespältigkeit 
von  Positivität  und  Negativität  gibt.  Doch  dem  ist  ent- 
gegenzuhalten :  mit  einer  solchen  bloßen  Entrückung  einer 
Positivität  über  den  Gegensatz  von  Positivität  und  Nega- 
tivität ist  noch  gar  keine  Garantie  dafür  gegeben,  daß  die 
Verabsolutierung  der  Gegensätzlichkeit,  die  ja  stets  mit 
einer  Bevorzugung  der  Positivität  verbunden  ist ,  vermie- 
den wird.  Dazu  nämlich  genügt  keineswegs  schon  jede 
These,  die  irgendwie  oberhalb  der  Spaltung  in  die  Gegen- 
sätze eine  Aufgehoben lieit   der  Gegensätzlichkeit   statuiert. 


—     151     - 

Denn  es  könnte  damit  lediglich  die  Gegensätzlichkeit  als 
Begleiterscheinung  eines  der  Zweiheit  von  Treffen  und  Ver- 
fehlen, die  Gregensatzlosigkeit  aber  als  Objektskorrelat  der 
Unfehlbarkeit  eines  Subjektsverhaltens  gedacht  werden  sol- 
len. Einer  solchen  Auflassung  gegenüber  würde  sich  aber 
erst  die  entscheidende  Frage  erheben,  ob  hierbei  die  gegen- 
satzlose und  die  gegensätzliche  Wahrheit  nicht  ihrem  We- 
sen nach  dieselbe  sei,  bloß  in  beiden  Fällen  auf  ver- 
schiedene Regionen  des  Subjektsverhaltens  bezogen:  ob 
nicht  hierbei  dieselbe,  nämlich  die  positive  Wahrheit,  zwei- 
mal auftritt ;  nämlich  einmal,  wie  sie  vor  dem  Daneben- 
treten der  Wahrheitswidrigkeit ,  also  gleichsam  noch  kon- 
kurrenzlos und  lediglich  in  diesem  Sinne  „gegensatzlos" 
dasteht,  und  sodann  als  der  Widerpart  der  Wahrheitswid- 
rigkeit. Dann  gäbe  es  dem  W  e  s  e  n  nach  eben  doch 
nichts  anderes  als  allein  die  positive  Wahrheit.  Das  einzig 
maßgebende  Kennzeichen  besteht  nämlich  darin,  daß  die 
gegensatzlose  Region  unabhängig  von  allen  sonstigen  An- 
gaben in  sich  selbst ,  ihrem  eigenen  Wesen,  d.  h.  ihrer 
eigenen  sinnartigen  Struktur  nach ,  als  etwas  Ausge- 
zeichnetes charakterisiert  und  der  Wahrheitswidrigkeit  die 
gegensatzlose  Wahrheit  übergeordnet,  die  positive  Wahr- 
heitsgeraäßheit  aber  —  wenigstens  gerade  der  Struktur 
nach  —  beigeordnet  wird.  Durch  den  unverkennbaren 
Abstand  von  ünzerstückeltheit  und  Zerstückeltheit,  durch 
diese  unübersehbare  Distanz  der  Struktur  geschieden,  steht 
dann  die  übergegensätzliche  Region  nicht  nur  der  Walir- 
heitswidrigkeit,  sondern  auch  der  Wahrheitsgemäßheit  ge- 
genüber. Nur  so  läßt  sich  der  Abstand  zwischen  den  bei- 
den Regionen  einer  exakten  Erforschung  unterwerfen  ^. 


1  Wollte  man  von  einer  doppelten  Positivität  und  entsprechend 
von  einem  dopi^elten  Ja  reden,  etwa  nach  dem  Vorgange  Krauses, 
der  eine    ,.nngegenheitliche  Jäheit*    und   eine  .Gegenjaheit'^    ausein- 


—     152     — 

Auch  in  der  moderuen  logischen  Werttheorie  sind 
niemals  die  verschiedenen  Regionen  der  Wertartigkeit  bei 
Wahrung  der  zwischen  ihnen  bestehenden  Distanz  zu  einem 
einheitlichen  Gesamtbild  zusammengearbeitet  worden.  Viel- 
mehr zeigt  sich  auch  hier  das  Schwanken  zwischen  den  bei 
der  Verabsolutierung  der  Gegensätzlichkeit  einzig  übrig- 
bleibenden beiden  Möglichkeiten,  zwischen  der  Xeutralisie- 
rung  der  transzendentallogischen  Gegenstandsregion  und 
der  Hineinverlegung  des  positiven  AVertes  in  sie. 

Windelband  hat  Kants  kategoriale  .,  Regel  der  Vor- 
stellungsverbindung" als  Wahrheitsnorm  gedeutet  und  das 
Urteil  als  ein  alternatives  Verhalten  zum  Wahrheitswert 
gefaßt '.  Hier  scheint  ein  gegensatzloses  Reich  von  Formen 
und  Normen  der  Wertgespaltenheit  des  urteilenden  Verhal- 
tens als  Maßstab  gegenübergestellt  zu  sein.  Aber  abge- 
sehen davon,  daß  der  Normbegriff  den  Gedanken  der  üeber- 
gegensätzlichkeit  garnicht  einschließt,  w'as  später  noch  ge- 
zeigt werden  soll,  steht  hier  die  Wertartigkeit  der  Kategorie 
noch  unverbunden  nel)en  der  Wertartigkeit  der  Urteilsregion. 
Die  Urteilstheorie  drängt  aber  zur  Entwertung  der  Kategorie, 
und  dieser  Konsequenz  hat  Windelband  nachgegeben,  indem 
er  die  Kategorien  als  Arten  der  „Relation"  in  die  wertindif- 
ferente Region  der  bloßen  „Vorstellungsbeziehung"  hinein- 
verweist 2.  Dieselbe  Notwendigkeit ,  die  Kategorien  dem 
Bereich  der  ., Vorstellung"  zuzuerteilen,  hatte  sich  vorlier 
bereits   bei    Bergmann    herausgestellt  -K     Ueberhaui)t    muß 


andt;rhält  (Vorl.  üb.  d.  Syst.  d.  Philos.,  1828,  4U8),  so  wäre  damit 
lediglich  eine  unzweckmäßige  Terminologie  eingeführt,  da  die  Posi- 
tivität  und  das  Ja  für  die  gegensätzliche  Qualität  reserviert  werden 
sollte. 

•  Präludien  P,  l'.»ll.   184  tt".     Beitr.  z.  Lehre  v.    neg.  Urt.,  171  ff. 

*  Beitr.  180  ff.,  185,  V.  Syst.  d.  Kat..  4(i,  Festschr.  f.  K.  Fischer*, 
1907.  20r,. 

»  Reine  Lotrik  ö  IJ— i:,. 


—     153     — 

überall  im  Rahmen  der  werttheoretischen  Logik  sich  die 
Neutralisier ung  des  Transzendentallogischen  darin  doku- 
mentieren ,  daß  die  Kategorien  unter  den  Sammelnamen 
des  bloß  „Vorstellungsmäßigen"  rubriziert  werden. 

Den  Versuch,  die  Probleme  der  Urteilslehre  ausdrück- 
lich und  systematisch  mit  dem  transzendentallogischen  Prin- 
zip der  Kategorie  in  Verbindung  zu  bringen,  hat  Rickert 
gemacht.  Er  hat  die  von  den  meisten  Logikern  vernach- 
lässigte Ueberbrückung  der  zwischen  Kategorienlehre  und 
Urteilslehre  bestehenden  Kluft  in  Angriff  genommen.  Bei 
ihm  werden  darum  die  Fundamente  gelegt  zu  einer  ein- 
heitlich gedachten,  die  Kantischen  und  die  vorkantischen 
Partien  der  Logik  umspannenden  Theorie.  Aber  bei  ihm 
steht  denn  auch  diese  Einheitlichkeit  unter  dem  Zeichen 
des  dadurch  erst  voll  zum  Durchbruch  gelangenden  und 
die  gesamte  Logik  durchherrschenden  Primats  der  Urteils- 
lehre und  folgeweise  der  Wertgegensätzlichkeit. 

Im  „Gegenstand  der  Erkenntnis"  wird  die  Kategorie 
noch  einfach  als  nichtvorstellungsmäßiger  Bestand  und  als 
Urteilsform  gefaßt '.  Doch  das  widerstreitet  zu  offenbar 
den  Voraussetzungen  der  Urteilstheorie.  Kommt  doch  die 
Kategorie  in  der  Frage  ebenso  wie  in  der  Bejahung  und 
Verneinung  vor.  Sie  muß  offensichtlich  dem  „vorstellungs- 
mäßigen" Bestand  zugewiesen  werden.  Soll  nun  trotzdem 
die  "VVertartigkeit  der  Kategorie  festgehalten  und  mit  den 
aus  der  Urteilstheorie  sich  ergebenden  Konsequenzen  der 
Neutralisierung  in  Einklang  gebracht  werden,  so  kann  es 
nicht  die  ganze  Kategorie  sein  ,  die  im  wertindifferenten 
vorstellungsmäßigen  Bestand  vertreten  ist,  sondern  v  o  n  ihr 
nur  ein  bloß  vorstellungsmäßiger  Gehalt,  ein  bloßes  Kate- 
gorienfragment. Die  in  der  Urteilsentscheidung  hinzutre- 
tende "Wertqualität  ergänzt  dann  erst  das  Kategorienfrag- 
»  VH.  bes.  168  ft'. 


—     154     — 

ment  zur  vollen  Kategorie.  So  ist  die  Position  aufrecht 
erhalten,  daß  die  "Wertqualität  des  Urteils  der  kategorialen 
Form  zuzuerteilen  ist  und  doch  gleichzeitig  dem  Umstand 
Rechnung  getragen,  daß  die  Kategorie  schon  im  bloß  vor- 
stellungsmäßigen Bestand  vorkommt.  Es  ist  eben  die  Form 
in  ihren  wertfreien  Vorstellungsgehalt,  d.  h.  —  nach  der 
Terminologie  dieser  Abhandlung  —  in  ihren  neutralen  „Be- 
deutungsgehalt" und  in  ihr  Wertmoment  zu  zerlegen'.  Das 
"Wertmoment  der  Kategorie  aber  ist  Urteilsmoment ,  ur- 
teilsmäßiges gegensätzliches  Jamoment. 

Aber  ist  es  denn  auch  berechtigt ,  dieses  Jamoment 
als  das  gegensätzliche  Wertmoment  zu  fassen?  Jedenfalls 
findet  sich  von  dem  einzigen  Probierstein  einer  ausdrück- 
lichen Orientierung  an  der  Gegensatzlosigkeit.  von  der  An- 
gabe der  Strukturdistanz,  auch  hier  keine  Spur.  Die  Be- 
jahung, von  der  allein  geredet  wird,  ist  die  auf  der  Aus- 
einanderhaltung  der  vorstellungsmäßigen  und  der  urteils- 
mäßigen Bestandteile  begründete  Urteilsentscheidung  und 
somit  das  durch  die  Unkenntnis  und  die  Zerstücklung  des 
gegenständlichen  Urbilds  ,  das  durch  die  Frage  hindurch- 
gegangene positive  Verhalten.  Es  ist  das  Bejahen,  neben 
dem  es  das  Verneinen  gibt.  „Von  den  negativen  Urteilen 
sehen  wir,  nachdem  dies  festgestellt  ist,  ab.'"  „Im  übri- 
gen können  wir  uns  auf  die  Bejahung  beschränken -."  Nir- 
gends wird  hervorgehoben ,  daß  das  in  der  Kategorie  lie- 
gende Jamoment,  als  aus  dem  Bewußtsein  überhaupt  stam- 
mend, sich  von  diesem  gegensätzlichen  Ja  unterscheiden 
soll.  Aber  ergänzt  man  auch  die  Darstellung  in  diesem 
Punkte,  so  ist  vorher  bereits  festgestellt  worden,  daß  auch 
eine  Alleinherrschaft  des  Ja  im  Bewußtsein  überhaupt,  die 
Emporhebung  der  Bejahung    über   den  Gegensatz  von  Be- 

*  S.  Zwei  Wege  d.  Erktheor..  17. 

*  Ebda  16/17. 


—     155     — 

jahung  und  Verneinung,  gar  keine  Bürgschaft  für  den  Ge- 
danken der  Uebergegensätzlichkeit  darbietet.  Ueberdies 
aber  werden  ganz  ausdrücklich  die  Probleme  der  kategoria- 
len  Form,  die  doch  jenseits  des  Gegensatzes  von  positivem 
Sinn  und  Unsinn  stehen,  gerade  zum  positiven  Wert,  inso- 
fern er  im  Gegensatz  zum  Unwert  steht,  in  eine  ausschließ- 
liche Beziehung  gebracht.  Nachdem  vom  Gegensatz  zwischen 
"Wert  und  Unwert  die  Rede  war,  heißt  es:  „Die  allgemeinste 
Form  fällt  dann  mit  dem  Begriff  des  positiven  Sinnes  über- 
haupt zusammen  und  ist  der  allgemeinste  theoretische 
Wert.  .  .  .  Die  weitere  Untersuchung  ist  dann  darauf  zu 
richten,  welche  Formen  im  besonderen  der  Sinn  haben 
muß,  um  positiver  Sinn  und  nicht  Unsinn  zu  sein,  und 
diese  Formen  sind  wieder  durchweg  Werte,  die  den  Begriff 
des  positiven  Sinnes  überhaupt  konstituieren,  wie  z.  B.  die 
Widerspruchslosigkeit,  die  Identität  usw.'-  K  In  Ueberein- 
stimmung  damit  wird  ausgemacht,  daß  die  Logik  mit  dem 
„Formproblem  des  Erkennens'-  die  Voraussetzungen  des 
wahren  und  nicht  des  falschen  Urteils  sucht  ^. 

Wo  der  entscheidende  Gesichtspunkt  der  Struktur  nicht 
bestimmend  ist,  da  kann  auch  die  „Transzendenz"  nicht 
als  Strukturjenseitigkeit  gefaßt  werden.  Aus  demselben 
Grunde  enthält,  wie  später  noch  zu  zeigen  sein  wird  (im 
2.  Abschn.  d.  III.  Kap.),  der  Normbegrifi'  aller  Normtheo- 
rien.  mit  dem  ein  einheitlicher  Maßstab  der  Zweiheitlichkeit 
des  Befolgens  und  Ueberschreitens  gegenübergehalten  wird, 
nicht  das  geringste  Kriterium  für  den  Begriff'  der  Gegen- 
satzlosigkeit.  Kann  doch  der  Gegensätzlichkeit  des  Treffens 
und  Verfehlens  immer  auch  die  gegensätzliche  Positivität, 
die  Wahrheitsgemäßheit  und  sogar  die  Richtigkeit  als  Maß- 
stab   und  Vorbild   gegenübergestellt   werden.     Norm  heißt 

'  Ebenda  40/41. 
2  22  f. 


—     156     — 

dann  immer  nur  absolute  Bejaliungswürdigkeit.  Ebenso 
■svird  bei  diesen  Voraussetzungen  unter  ^Transzendenz'* 
nichts  anderes  verstanden,  als  einerseits  die  Absolutheit 
des  Wertes,  die  Unabhängigkeit  von  der  Subjektivität  in 
dieser  Hinsicht '.  und  andererseits  die  Loslösbarkeit  des 
Sinnes,  seine  Heterogeneität  im  Vergleich  mit  seinen  realen 
Substraten  -. 

Einen  ähnlichen  Versuch,  die  beiden  Konsequenzen, 
zu  denen  die  Verabsolutierung  der  Wertgegensätzlichkeit 
führen  muß,  nämlich  die  Xeutralisierung  der  kategorialen 
Gegenstandsformen  und  die  Hineinverlegung  der  Wertposi- 
tivität  in  den  Gegenstand,  in  die  ., Realität"  oder  ., Wirk- 
lichkeit" in  concreto,  zu  vereinigen,  hat  im  Anschluß  an 
Rickerts  Lehre  Christiansen  unternommen.  Hier  wird  mit 
unzweideutiger  Entschiedenheit  der  .,  Wirklichkeif,  der  im 
Gegensatz  zur  , Irrealität"  stehenden  ., Ja-Realität",  dem 
Objekt  der  ..Realbejahung",  der  „Erfahrung"  als  „wert- 
positiver Synthesis",  also  all  diesen  zur  transzendentallogi- 
scheu  Region  gerechneten  Gebilden,  die  Bejahung  heischende 
AVert  positiv  ität  zugewiesen  und  der  ßegrifi'  eines  „be- 
sonderen Erkenntniswerts  Realität,  der  in  positiven  Erfah- 
rungsurteilen den  Objektsynthesen  zugesprochen  wird",  her- 
ausgearbeitet. Ihm  gegenüber  muß  die  kategoriale  Gegen- 
standsform zur  bloßen  indiiferenten  Voraussetzung  einer 
„  Wertungsmöglichkeit ■',  zur  bloßen  , konstituierenden"  Be- 
dingung der  „Struktur"  des  bewertbaren  Objekts,  herabge- 
drückt werden,  zur  „wertneutralen  Regel  der  Objektsyn- 
these",  die  „dem  Ja  des  Wertes  nicht  näher  steht  als  dem 
Nein,  und  ihren  Ort  hat  genau  an  dem  Kreuzwege,  wo  Ja 
und  Nein  auseinandertreten"  ^     Hier  zeigt  sich  mit  ausge- 

»  So  Ggstd.  d.  Erk..  12r)  ff..  Zwei  Wege,  21,  22  f.,  41. 
«  So  Zwei  Wege,  82  1". 

ä  Kritik  der  Kantischen  Krkenntnislehre,  21,  23  f..  2(5,  84,  57,  64, 
98,  llGff..  119,  121  f.,  154/Ö,  Philosophie  der  Kunst,  1909,  53  f. 


—     157     — 

zeichnete!-  Klarheit,  daß  die  bisherige  Wertlehre  nur  die 
Alternative  von  Wertgegensätzlichkeit  und  untergegensätz- 
licher Wertneutralität  kennt. 

Drittes  Kapitel. 

Die  Subjettivität  als  EutstehuDssgnmd  der  Gegeusätz- 

lichkeit. 

Erster   Abschnitt. 

Der  immanente  Ursprung  Ton  Wahrheitsgemäßheit  und  Wahr- 
heitswidrigkeit. 

Es  ist  bisher  noch  ganz  unenisehieden  gelassen,  wie 
es  zu  jener  künstlichen  Zwischenregion  zwischen  den  Gegen- 
ständen und  der  Urteilsentscheidung;  zu  den  gegensätzlichen 
Strukturgebilden  des  nachbildlichen  Sinnes,  überhaupt  kom- 
men kann.  Allein  wenngleich  bisher  im  ganzen  ledigKch 
eine  bloße  vergleichende  Deskiiption  der  m-bildlichen  und 
der  nachbildlichen  Region  gegeben  wurde,  so  hat  es  sich 
doch  bereits  als  unabweisbar  aufgedrängt,  daß  an  dem  Zu- 
standekommen der  nachbildlichen  Gefüge  nichts  anderes 
als  der  antastende  Eingriff  der  Subjektivität  Schuld  sein 
kann  (vgl.  ob.  S.  94).  Denn  zu  deuthch  tragen  diese  dem 
unzerstückelten  gegenständlichen  Urbild  gegenüber  den  Stem- 
pel der  Gewordenheit  und  Geschaffenheit  an  sich.  Erst 
durch  Berücksichtigung  davon  wird  nunmehr  die  Betrach- 
tung in  das  Wesen  der  gekünstelten  Region  eindringen 
können. 

Das  macht  es  erforderlich,  das  Subjekt-Objekt- Verhält- 
nis in  die  Darstellung  hineinzuziehen.  Macht  doch  das 
Subjekt-Objekt- Verhältnis,  die  Erlebbarkeit  des  Gegenstan- 
des und  des  Sinnes  überhaupt,  sein  Hineingebanntsein  in 
die  ihm  einen  Schauplatz  gewährende  Subjektivität,  wie  im 


—     158     — 

allgemeinen  Teil  der  Logik  genauer  darzutun  wäre,  eine 
ürtatsache  aus,  mit  der  auch  alle  Logik  des  Sinnes  zu 
rechnen  hat. 

Die  Situation  der  Vorgefundenheit  in  den  Subjekts- 
akten, des  dem  Erleben  Yorschwebens,  der  Eingeschlossen- 
heit  ins  Erleben,  mag  wie  als  Objektgewordenheit  so  auch 
als  Lnmanentgewordenheit,  der  Zustand  unabhängig  von 
dieser  Situation  der  Erlebtwerdung  entsprechend  als  Trans- 
zendenz bezeichnet  werden.  Bei  Zugrundelegung  dieser 
Terminologie  wird  nicht  etwa  ein  Standpunkt  der  Erlebens- 
oder Bewußtseinsimmanenz,  sondern  ein  Standpunkt  der 
Transzendenz  vertreten '.  Die  Immanentwerdung  dessen, 
worauf  das  Subjektsverhalten  gerichtet  ist,  erscheint  ledig- 
lich als  ein  äußeres  Schicksal,  als  eine  zufällige  Situation, 
in  die  das  davon  unabhängige  Transzendente,  also  der  Ge- 
genstand oder  der  urbildliche  Sinn,  gerät.  Die  Immanent- 
werdung des  in  einem  solchen  Sinne  Transzendenten  enthält 
deshalb  gar  keinen  Widerspruch.  Sie  besagt  lediglich  das 
Hinübergeraten  in  eine  andere  Situation.  Insofern  hierbei 
die  Situation  der  Transzendenz  eingebüßt  wird,  involviert 
ein  immanentes  Transzendentes  allerdings  einen  Wider- 
spruch. Aber  gemeint  wird  eben  mit  der  Rede  von  der 
Immanentwerdung  des  Transzendenten,  daß  nur  die  Situa- 
tion, nicht  aber  irgendwie  Bestand  oder  Struktur  des  Trans- 
zendenten aufgehoben  wird.  Genau  der  transzendente  Be- 
stand ohne  jeden  Abbruch  ist  es,  der  auch  immanent  wer- 
den kann.  Läßt  man  so  das  Verhalten  der  Subjektivität 
dann  beschlossen  sein,    dem  Sinn    eine  Stätte  darzubieten, 


'  Der  Ausdruck  .Transzendenz"  wird  somit  hier  nicht  im  Sinne 
des  Uebersteigens,  sondern  im  Sinne  der  l'nabhiinjriKkeit  von  der 
Subjektivität  gebraucht,  mithin  in  der  Bedeutung,  die  sich  in  der 
Diskussion  der  Immanenzphilosophie  im  19.  Jahrhundert  herausge- 
bildet hat  und  besondere  auth  in  Rickerts  , Gegenstand  der  Er- 
kenntnis* zngrundegelegt  wird. 


—     159     — 

so  besteht  die  Transzendenz  lediglich  in  der  bloßen  Nicht- 
erlebtheit,  im  bloßen  Stehen  außerhalb  der  Subjekt- Objekt- 
Relation. 

Allein  die  Rolle  der  Subjektivität  erschöpft  sich  keines- 
wegs damit,  eine  geduldige  Empfängerin,  ein  bloßer  Schau- 
platz des  transzendenten  Gegenstandes  \  das  eine  Glied  des 
Subjekt -Objekt -Verhältnisses,  zu  sein.  Dementsprechend 
darf  sich  die  Gegenüberstellung  von  Transzendenz  und  Im- 
manenz nicht  lediglich  auf  einen  so  einfachen  Sachverhalt 
stützen.  Sie  bedarf  einer  Erweiterung.  Und  dazu  fordert 
vor  allem  gerade  die  Tatsache  der  gekünstelten  nachbild- 
lichen Sinnstruktur  auf.  Denn  gerade  für  sie  soll  ja,  wie 
angedeutet  wurde,  die  Subjektivität  verantwortlich  gemacht 
werden.  Damit  aber  bekommt  der  Abstand  zwischen  Trans- 
zendenz oder  Unabhängigkeit  von  der  Subjektivität  und 
Immanenz  oder  Eingeschlossenheit  in  den  Bereich  der  Sub- 
jektivität einen  viel  eminenteren  Charakter.  Er  muß  so 
gedacht  werden,  daß  er  jene  Kluft  zwischen  Ungekünstelt- 
heit und  Gekünsteltheit  verständlich  zu  machen  geeignet 
ist.  Wie  nun  die  nachbildliche  Sinnstruktur  nicht  in  ihrer 
Gekünsteltheit  erkannt  zu  werden  pflegt,  so  mußte  entspre- 
chend auch  die  Subjektivität  in  ihrer  Rolle  gerade  als  An- 
tasterin  der  Ungekünsteltheit  und  als  Anstifterin  der  Ge- 
künsteltheit unberücksichtigt  bleiben.  Diese  prägnante  Be- 
deutung der  Immanenz  als  der  Struktur  angetastetheit 
und  die  prägnante  Bedeutung  der  Transzendenz  als  der 
entsprechenden  Unangetastetheit  mußte  ganz  zurücktreten. 
Die  bisherige  Fassung  des  Transzendenzbegriffs  erweist  sich. 


^  Von  dem  Ausdruck  ,  transzendenter  Gegenstand"  gilt  gleich- 
falls, daß  das  Transzendente  dabei  bereits  als  der  Subjektivität  ent- 
gegenstehend, somit  bereits  in  seiner  Objektsstellung  gedacht  wird, 
vgl.  Log.  d.  Phil.,  29,  72.  Er  ist  eine  kurze  Bezeichnung  für  das  in 
der  Situation  der  Immanentgewordenheit  seine  transzendente  Struktur 
bewahrende  Transzendente. 


—     160     — 

somit  als  unzureichend.  Wenn  in  den  folgenden  Ausfüh- 
rungen der  Begriff  der  Ünangetastetheit  in  den  Vordergrund 
rückt,  so  wird  damit  der  Versuch  gemacht,  die  in  der  Me- 
taphysik so  geläufige  Unterscheidung  zwischen  dem,  was  an 
sich  besteht,  und  dem,  was  auf  Rechnung  subjektiver  Un- 
zulänglichkeit kommt,  in  viel  höherem  Umfang,  als  es  zu 
geschehen  pflegt,  auf  die  Logik  zu  übertragen. 

Die  Voraussetzung  für  eine  antastende  Betätigung  der 
Subjektivität  wird  nun  offenbar  nur  durch  die  Urtatsache 
dargeboten,  daß  beim  Erleben  des  mit  dem  gegenständlichen 
Urbild  zusammenfallenden  transzendenten  Sinnes  sich  Ab- 
weichungen von  ihm  einstellen,  genauer,  daß  der  von  der 
Subjektivität  in  jeder  Hinsicht  unabhängige,  also  der  trans- 
zendente Sinn  oder  der  Gegenstand,  nicht  glatt  und  unver- 
ändert ins  Erleben  eingeht,  das  Erleben,  anstatt  den  Ge- 
genstand in  seine  Gewalt  zu  bekommen,  mit  einem  in  seinem 
Bestände  irgendwie  veränderten  Sinn  vorlieb  nehmen  muß. 
Von  all  solchen  durch  die  Subjektivität  etwa  verschuldeten 
Abänderungen  kommt  hier  allein  die  Fähigkeit  der  Subjek- 
tivität in  Betracht,  zerstörend  in  die  Struktur  des  Sin- 
nes einzugreifen.  Die  im  vorigen  Kapitel  erörterte  gegen- 
satzlose Ursprünglichkeit  und  Urbildlichkeit  erscheint  dann 
als  eine  ganz  besondere  Art  von  Transzendenz  oder  Unbe- 
rührtheit durch  die  Subjektivität,  nämlich  als  Unangetastet- 
heit in  einer  ganz  bestimmten  Richtung  und  zwar  speziell 
gegenüber  den  auf  Rechnung  der  Subjektivität  kommenden 
Eingiiffen  in  die  Struktur.  Es  soll  aber,  was  derart  seinem 
angetasteten  Bestand  nach  nur  als  Objekt,  als  der  Subjek- 
tivität vorschwebend  vorkommen  kann,  von  jetzt  an  kurz 
als  ein  „Immanentes"  im  Unterschied  zu  der  bloßen 
„Immanentgewordenheit"  des  unangetastet  bleibenden Tians- 
zendenten  bezeichnet  werden. 

Die  Subjektivität  lernt  man  hierbei  erst  in  ihrer  wah- 


—     161     — 

ren  Bedeutung,  in  ihrer  ganzen  Selbständigkeit  und  Eigen- 
mächtigkeit, kennen.  Sie  erscheint  nicht  mehr  in  der  Stel- 
lung bloßer  Hingabe,  sondern  in  ihrer  Veränderungen  an- 
stiftenden, den  transzendenten  Bestand  antastenden,  etwas 
Neues  schaffenden  und  insofern  aktiven  Leistung. 

Worin  vermag  sich  nun  aber  diese  fatale  Aktivität  des 
Erlebens  zu  betätigen  ?  Was  soll  es  überhaupt  heißen,  daß 
die  Subjektivität  zur  Urheberin  wird  für  ein  neues  Reich 
des  Sinnes  neben  der  gegenständlichen  Region?  Sind  denn 
nicht  die  Geltungsgebilde  des  Sinnes  dem  Entstehen  und 
Vergehen,  der  Erschaffbarkeit  und  Zerstörbarkeit  entrückt? 
Kann  bei  der  gänzlichen  Heterogeneität  zwischen  Sinnge- 
bilden und  Erlebensrealitäten  die  Subjektivität  je  etwas 
anderes  als  die  bloße  Realisierungsstätte  abgeben,  der  Sinn 
zu  ihr  in  einem  anderen  Verhältnis  als  dem  der  bloßen 
Loslösbarkeit  stehen?  So  scheint  es  auf  den  ersten  Anblick. 
Und  doch  läßt  sich  leicht  verstehen,  daß  auch  Gebilde  des 
Sinnes  ihren  Ursprung  in  der  Aktivität  des  Erlebens  haben 
können.  Es  hat  nichts  Befremdliches  an  sich,  daß  vom 
gegenständlichen  Sinn  differierende  Gebilde  des  Sinnes  der 
Subjektivität  vorschweben,  Gebilde  somit,  die  nur  als  Ob- 
jekt des  Erlebens,  aber  nicht  an  sich,  d.  h.  nicht  trans- 
zendenter Weise,  bestehen. 

Dann  müßte  also  ein  Novum  der  Struktur  gegenüber 
der  transzendenten  Struktur  ganz  und  gar  erst  auf  dem 
Boden  der  Subjektivität  und  durch  sie  entstehen.  Nun 
hat  sich  als  bedeutungsbestimmende  Voraussetzung  für  die 
Künstlichkeit  der  nachbildlichen  Strukturgefüge  vorher  die 
Verselbständigung  und  Auseinandergerissenheit  der  gegen- 
ständlichen Strukturelemente  herausgestellt.  Und  jetzt  er- 
weist sich  in  der  Tat,  daß  gerade  dies  die  Künstlichkeit 
begründende  Phänomen  durch  die  Aktivität  des  ICrlebens 
erklärbar  ist.     Gerade    soweit  reicht  nämlich  der  Willkür- 

L  a  s  k  ,  Lehre  vom  Urteil.  1 1 


—     162     — 

bereich  und  die  Eingriffsmöglichkeit  der  Subjektivität;  hier 
stößt  man  auf  die  ürtatsacbe,    die   sich  somit  als  die  fun- 
damentale Voraussetzung  der  ganzen  Gekünsteltheit  erweist: 
daß  der  Subjektivität    nicht   ein   einfaches    adäquates  Hin- 
nehmen des  gegenständlichen  Bestandes  in  seiner  Ganzheit 
und  ünzerrissenheit,   in    seiner   urbildlichen  Fertigkeit  und 
Abgeschlossenheit,    vergönnt,    ihr    anstatt    dessen    vielmehr 
bloß  verstattet  ist,   mit    den    isolierten  Elementen    zu   ope- 
rieren.    Ihr  schwebt  jederzeit  das,  was  transzendenterweise 
garnicht  ein  Isolierbares  ist,    nämlich  die   einzelnen  Mate- 
rialsstücke   und    die   einzelnen  Kategorien,    als   ein  Geson- 
dertes vor.     Sie  muß  immer  das  nachträglich  erst  aufbauen 
und  zusammensetzen,    was  vor   und   unabhängig   von    aller 
Zerstücklung  im   transzendenten  Urbild  liegt.     Was  traus- 
zendenterweise  ganz  unsinnig  ist,  nämlich  die  Frage,  welche 
Materialsstücke  in  welchen  Kategorien  stehen,  das  wird  für 
das  Erleben  fortwährend  zum  Problem.     Für  die  Subjekti- 
vität ist  es  nicht  selbstverständlich,    sondern    bildet  gerade 
das  ganze  Ziel  ihres  Nachforschens,    zu  welcher  Kategorie 
sich  logische  Form  überhaupt    dann  differenziert,    wenn   es 
gilt,  irgend  ein  bestimmtes  einzelnes  Material  in  kategorialer 
Betroffenheit  zu  erfassen  oder  anders  ausgedrückt,  welches 
einzelne  Material  überall  den  Materialsbereich  der  einzelnen 
Kategorie   ausmacht.     Auf  einer  Unzulänglichkeit   des  Er- 
lebens also,  auf  dieser  fundamentalen  Unkenntnis  des  selbst- 
verständlichen   transzendenten   Ineinanders    von    Kategorie 
und  Kategorienmaterial,    beruht   die   ganze   Isolierung    der 
Elemente.     Diese  negative  Fähigkeit  der  Subjektivität,   die 
Elemente  derart  gesondert  zu    erleben,    daß   in    ihnen   das 
Gegenglied  der  Relation  noch  nicht  steckt,  noch  nicht  ent- 
halten zu  sein  scheint,  führt  zu  einer  Zerstücklung,  zu  einer 
Atomisierung  des  gegenständlichen  Urbilds.     AVie  ja  über- 
haupt auf  theoretischem  (Gebiet  der  urbildlichen  Sinnstruk- 


—     163     — 

tur  gegenüber  alle  Aktivität  des  Subjekts  nur  eine  entstel- 
lende und  untergrabende  sein  kann,  wofern  das  eigentliche 
und  einzige  wahre  Ansich  in  einer  ungeschaifenen,  also  der 
Aktivität  entrückten  und  über   sie  erhabenen  Region  liegt. 

Die,  wie  sich  im  zweiten  Kapitel  herausstellte,  auf 
einer  Zerstücklung  des  Gegenstandes  aufgebauten  nachbild- 
lichen Gefüge  lassen  sich  jetzt  einfach  als  die  durch  die 
fundamentale  Unkenntnis  der  transzendenten  Urstruktur 
hindurchgegangenen  und  folgeweise  durch  nachträgliches 
Zusammenstückeln  zustande  gekommenen  Gebilde  charak- 
terisieren. 

Obwohl  die  „Gekünsteltheit"  der  gegensätzlichen  Region 
bereits  durch  die  Ausmachungen  des  vorigen  Kapitels  außer 
Zweifel  gesetzt  wurde,  so  hat  sich  die  Berechtigung  dieser 
Charakterisierung  jetzt  noch  in  einem  neuen  Lichte  gezeigt. 
Die  künstliche  Region  hat  sich  als  eine  geschaffene,  eine 
gemachte,  als  das  Geschöpf,  das  Artefakt  der  Subjektivität 
erwiesen.  Gegenüber  der  Ungeschaffeuheit  der  mit  dem 
Gegenstand  zusammenfallenden  transzendenten  Wahrheit 
stellt  sie  gleichsam  das  Menschenwerk  von  Wahrheitsge- 
bilden dar. 

Die  zur  gegenständlichen  Urstruktur  hinzutretenden 
Strukturzusätze,  diese  „Formen",  in  die  das  gegenständliche 
Rohmaterial  eingeht,  sind  jetzt  somit  in  ihrer  immanenten 
Entstandenheit  erkannt.  Dadurch  bewahrheitet  sich  die 
frühere  Redewendung,  nach  der  sie  Komplikationen  dar- 
stellen, zu  denen  die  Gegenstände  durch  die  Subjektivität 
gleichsam  „verarbeitet"  werden.  Es  zeigt  sich  jetzt,  daß 
das  Formallogische  mit  dem  Immanent-Logischen,  das  Ge- 
genständlich-Logische mit  dem  Transzendent-Logischen  zu- 
sammenfällt. In  der  vorkantischen  Logik,  so  muß  man 
wiederum  sagen,  hatte  das  Logische  immanenten  Charak- 
ter, und  als  transzendent  wurde  nur  das  Metalogische  an- 

11* 


—     164     — 

gesehen.  In  der  Kantianistischen  Logik  dagegen  stehen 
sich  nicht  Transzendentes  und  Logisches,  sondern  Trans- 
zendent-Logisches und  Immanent-Logisches  einander  gegen- 
über. 

Die  Koordinierbarkeit  von  Positivität  und  Negativität 
erweist  sich  jetzt  als  die  gleichmäßige  Immanenz  beider. 
Spricht  man  von  der  ., subjektiven  Bedeutung"  des  Nega- 
tiven, so  wird  dadurch  wiederum  der  Umstand  geradezu 
verdeckt,  daß  der  Positivität  genau  dieselbe  bloß  ., subjektive '• 
Bedeutsamkeit  gebührt,  wie  der  Negativität.  Nicht  die 
Negativität,  sondern  die  ürteilsregion  als  solche,  gehört  der 
immanenten  Region  an^. 

Doch  es  muß  jetzt  noch  etwas  genauer  bestimmt  wer- 
den, in  welchem  Sinne  hier  mit  Recht  von  der  Schaffung 
einer  neuen  Sinnregion  geredet  wird.  Zunächst  ist  zu  be- 
denken, daß  in  der  immanenten  Region  ungeachtet  der 
durch  die  Subjektivität  geschaffenen  Künstlichkeit  die  Siun- 
artigkeit  erhalten  bleibt.  Durch  das  isolierende  Erleben 
werden  aus  dem  transzendenten  Sinn  heraus  lediglich  neue 
Elemente,  gleichsam  neue  Bausteine  geschaffen,  aus  denen 
eine  künstliche  Region  des  Sinnes  sich  zusammenfügt.  Nur 
mit  dieser  Einschränkung  darf  von  einer  Erzeugung  durch 
die  Subjektivität  geredet  werden.  Der  Sinn  selbst  ist  stets 
etwas  Unerschaffbares.  Das  eigentlich  Erzeugbare  sind 
lediglich  die  durch  Isolierung  entstandenen  künstlichen  Bau- 
steine für  den  Aufbau  eines  neuen  Sinnes.  Mit  ihrer  Schaf- 
fung erschöpft  sich  die  Produktivität  des  Erlebens.  Statt 
von  einem  geschaffenen  Sinn  muß  genauer  von  einem  Sinn 


*  Beispielsweise  auch  bei  Sigwart,  Log.  P,  106  f.  findet  sich 
die  Aristotelische  Erkenntnis,  daß  die  Urteilsverknüpfung  und  -Tren- 
nung nicht  in  den  Gegenständen  liegt,  das  Urteil  »eine  Funktion 
von  bloß  subjektiver  Form*  ist.  Vgl.  auch  Lotze,  Log.  §  343, 
V  o  1  k  e  1 1 ,  Erfahrung  und  Denken,  1886,  287  ff.,  297  ff. 


i 


—     165     — 

die  Rede  sein,  den  es  nur  auf  einem  durch  die  Subjektivi- 
tät unterwühlten  Boden  gibt,  der  sich  aus  dem  durch  die 
Subjektivität  aufgewühlten  oder  isolierten  Elementen  auf- 
baut. Ist  erst  einmal  durch  die  Unfähigkeit  des  Erlebens 
der  Boden  gelockert,  d.  h.  sind  die  verselbständigten  Ele- 
mente durch  das  isolierende  Erleben  einmal  erzeugt,  dann 
folgt  daraus  sofort  weiteres,  was  jeder  Willkür  und  Akti- 
vität des  Erlebens  entzogen  ist.  Gibt  es  einmal  die  gegen- 
einander verschiebbaren  losgerissenen  Strukturelemente, 
dann  erhebt  sich  ein  neues  Reich  des  Sinnes ,  das  in 
\  den  harmonischen  und  disharmonischen  Beziehungen  zwi- 
-i  sehen  den  künstlichen  Strukturbestandteilen  besteht.  Auf 
'  dem  allerdings  erst  durch  die  Subjektivität  bereiteten  Bo- 
den tritt  der  Subjektivität  von  neuem  etwas  seiner  Dignität 
und  Gültigkeit  nach  von  der  Subjektivität  Unabhängiges 
entgegen.  Gewiß  ist  die  Subjektivität  in  gewisser  Hinsicht 
die  Erzeugerin  dieser  ganzen  Region.  Aber  nachdem  der 
Operateur  zurückgetreten  ist,  spricht  sein  Werk  für  sich 
selbst. 

So  bewahrt  sich    durch    die  Zerstörung   der   transzen- 
denten Struktur  hindurch  die  Absolutheit  des  Geltens  und 
des  Wertes.     Es  treten  dadurch  folgende  beiden  Momente 
deutlich  auseinander  :  die  Transzendenz  mit  ihrer  allseitigen 
\   Unabhängigkeit  von  der  Subjektivität,  insbesondere  mit  ihrer 
Unangetastetheit  der  Struktur  einerseits   und   die  Absolut- 
heit  oder  Unbedingtheit    des  Geltens   und  des  Wertes   mit 
^    N^  ihrem  Forderungscharakter,   mit  ihrer  Unabhängigkeit  von 
aller  Willkür  des  subjektiven  Meinens  andererseits.    Trans- 
^zendenz  und  Anerkennung  heischende  Absolutheit  der  Norm 
i  fallen    also    keineswegs    zusammen.     Denn   die   unbedingte 
/  Normativität  ist  ja  dem  transzendenten  und  dem  gekünstelt 
/    immaneiiten  Sinn  gemeinsam.    Diese  auch  der  immanenten 
l     Region  eignende  Absolutheit  hat  viel  zur  Verkennung  der 


—     166     — 

Strukturimmanenz  beigetragen  und  dazu  verleitet,  in  der 
Absolutheit  des  Sinnes  schon  seine  allseitige  Transzendenz 
zu  erblicken  (vgl.  auch  ob.  S.  155  f.).  So  vereinigt  die  nach- 
bildliche Region  Unbedingtheit  und  immanente  Gekünstelt- 
heit. 

Durch  ihr  verschiedenes  Verhältnis  zur  gegensatzlosen 
Region  an  dieser  meßbar,  nehmen  Wahrheitsgemäßheit  und 
Wahrheitswidrigkeit  selbst  an  der  Absolutheit  der  gegen- 
satzlosen Region  teil.  Die  Wahrheitsgemäßheit  ist  das 
absolut  Bejahungswürdige,  die  Wahrheitswidrigkeit  das  ab- 
solut Verneinungswürdige;  absolut  ist  die  Kluft  zwischen 
beiden.  Es  besteht  „an  sich",  d.  h.  unabhängig  von  der 
bejahenden  oder  verneinenden  Entscheidung  darüber,  zwi- 
schen den  isolierten  Strukturelementen  das  Zusammenge- 
hören und  Nichtzusamm engehören,  z.  B.  zwischen  Kausalität 
und  dem  Material  a,  b  das  Einander-Zukommen  der  Wahr- 
heitsgemäßheit, zwischen  Kausalität  und  dem  Material  a,  c 
das  Xichtzukommensverhältnis  der  Wahrheitswidrigkeit.  Und 
es  besteht  ferner  zwischen  der  Wertartigkeit  dieser  künst- 
lichen Sinngefüge  und  der  zeitlichen  Tatsächlichkeit  des 
realen  Erlebens  die  ganze  Heterogeneität,  durch  die  Gel- 
tendes und  Realseiendes,  Zeitloses  und  Zeitliches  überhaupt 
geschieden  sind.  Wegen  dieses  Herausfallens  aus  der  Fläche 
der  zeitlichen  Realität  und  des  sich  damit  verbindenden 
Absolutheitscharakters  möge  den  w^ahrheitsgemäßen  und 
wahrheitswidrigen  Sinngefügen  ,  Quasitranszendenz"  zuge- 
schrieben werden. 

Damit  die  Unerschaffbarkeit  der  quasitranszendenten 
Gebilde  klar  zum  Ausdruck  komme,  muß  man  sich  vor 
der  im  übrigen  leicht  sich  aufdrängenden  Vorstellungsweise 
hüten,  als  seien  die  einzelnen  wahren  und  wahrheitswidrigen 
Sinngefüge  von  der  Subjektivität  zusammengefügte,  als  seien 
insbesondere    die  wahrheitswidrigen  Sinneinzelheiten    durch 


—     167     — 

Verwirrung  und  Durcheinanderwerfung  der  Elemente  her- 
vorgerufene Kombinationen.  Man  muß  sich  vergegenwär- 
tigen, daß  die  Subjektivität  garnicht  imstande  ist,  wahre 
und  wahrheitswidrige  Sinngefüge  anzustiften.  Anzustiften 
vermag  sie  vielmehr  lediglich  die  Isoliertheit  von  künstlichen 
Elementen  überhaupt.  Sind  die  einmal  geschaffen,  dann 
bestehen  zwischen  ihnen  durch  ihre  Künstlichkeit  hindurch 
in  zeitloser  Ewigkeit  die  harmonischen  und  die  disharmo- 
nischen Beziehungen.  Die  Aktivität  des  Erlebens  aber  ist 
diesem  über  der  Zerstücklung  des  transzendenten  Sinnes 
aufgebauten  Inbegriff  quasitranszendenter  Gebilde  gegenüber 
auf  dasselbe  Maß  wie  dem  transzendenten  Sinn  gegenüber 
eingeschränkt,  Dämlich  auf  ein  herausgreifendes  Erleben, 
auf  ein  Vorsichhintretenlassen  und  Immanentwerdenlassen 
der  Einzelheiten.  Lediglich  im  Sinne  solchen  Herausgreifens 
der  Elemente  fixiert  das  Erleben  bestimmte  Sinngefüge  als 
seine  Objekte,  kombiniert  es  deren  Bestandteile.  Zwischen 
den  so  herausgegriffenen  Elementen  besteht  immer  an  sich 
Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit,  und  es  bleibt 
dem  Erleben  nur  übrig,  durch  Bejahen  und  Verneinen 
die  immanentgemachten  Gefüge  richtig  als  das  zu  erleben, 
was  sie  an  sich,  d.  h.  quasitranszendenterweise  sind  (wie  im 
2.  Abschnitt  sich  zeigen  wird).  Auch  das  immanente  Reich 
der  Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit  wird  nicht 
angestiftet,  sondern  aufgesucht  und  entdeckt,  gefunden  oder 
nicht  gefunden. 

Wenn  in  der  Einleitung  angekündigt  wurde,  daß  auch 
die  unwertigen  Gebilde,  wenn  auch  nicht  als  von  der  Sub- 
jektivität überhaupt,  so  doch  als  vom  Verfehlen  unabhängig 
gedacht  werden  sollen,  so  hat  sich  jetzt  genauer  bestimmen 
lassen,  daß  als  Vorbedingung  für  das  Zustandekommen  der 
nachbildlichen  Region  lediglich  jene  Urtatsache  der  Un- 
kenntnis   des    transzendenten    Ineinanders    und    die    schon 


—     168     — 

daraus  allein  hervorgerufene  Zerstücklung  des  transzen- 
denten Bestandes  anzusehen  ist,  ohne  daß  es  dafür  noch 
der  hinzutretenden,  treffenden  oder  verfehlenden  Stellung- 
nahme bedarf.  Und  weiterhin  ist  damit  überhaupt  die 
ganze  Lehre  von  den  primären  Objekten  der  Urteilsent- 
scheidung begreiflich  gemacht,  nämlich  das  Bestehen  von 
an  sich,  d.  h.  unabhängig  jedenfalls  von  der  Entscheidung 
darüber,  wertgegensätzlich  gespaltener  Gebilde  (vgl.  oben 
S.  20  f.  u.  34)  — . 

Mit  dem  Begriff  des  immanent-gekünstelten  Sinnes  ist 
ein  ganz  eigentümliches  Thema  innerhalb  der  Logik  ab- 
gegrenzt. 

Aus  der  Antreffbarkeit  des  Sinnes  in  der  Tatsächlich- 
keit des  Erlebens  ergeben  sich  in  letzter  Linie  zwei  große 
Forschungsgebiete  für  die  theoretische  Philosophie.  Sie 
kann  entweder  und  vorzugsweise  Sinnstruktur  und  katego- 
rialen  Formgehalt  zu  ergründen  suchen.  Oder  aber  auch 
der  Realisierungsstätte  theoretischen  Sinnes,  dem  subjek- 
tiven Verhalten  dazu,  sich  zuwenden.  Auch  mit  diesem 
zweiten  Aufgabenkreis  unterscheidet  sie  sich  aufs  klarste 
von  der  Psychologie,  die  ihre  Erlebensrealitäten  ganz  un- 
bekümmert um  deren  Trägerschaft  gegenüber  und  Hinwen- 
dung zum  Geltungsartig-Nichtseienden  untersucht  und  aus- 
schließlich im  Umkreis  des  Wert-  und  Sinnfremden  ver- 
harrt. So  zerfällt  das  Gebiet  der  Logik  in  Objekts-  und 
Subjekts-,  in  Wahrheits-  und  Erkenntnis-,  in  aletheiolo- 
gische  und  gnoseologische  Probleme. 

Danach  bestimmt  sich  nun  die  Sonderstellung,  die  die 
Lehre  vom  angetastet  immanenten  Sinn  einnimmt.  Der 
Begriff  des  immanenten  Sinnes  läßt  sich  nämlich  weder 
einfach  der  theoretischen  Sinnlehre,  noch  einfach  der  theo- 
retischen Subjektivitätslehre  zuweisen.  Er  ist  auch  dadurch 
noch  nicht   zu  gewinnen,    daß  man  Sinn    und  Subjektivität 


—     169     — 

zusammennimmt,  den  Sinn  in  die  Subjektivität  eingehen, 
in  ihr  immanent  werden  läßt.  Dadurch  käme  man  bloß 
zum  Begriff  des  „immanentgewordenen"  im  Unterschiede  zu 
dem  vom  Subjektssubstrat  getrennt  gedachten  Sinn,  aber 
keineswegs  zum  Begriff  des  „immanenten"  Sinnes  (vgl.  über 
diesen  Unterschied  ob.  S.  160).  Es  hat  sich  ja  vielmehr 
gezeigt,  daß  die  Losgelöstheit  des  Sinnes  von  den  Subjekts- 
akten noch  lange  nicht  seine  Transzendenz  verbürgt.  Denn 
diese  Isolierbarkeit  vom  Substrat  gestattet  auch  die  Quasi- 
transzendenz des  immanenten  Sinnes.  Und  ebenso  bedeutet 
das  Eingehen  in  die  Subjektivität  noch  nicht  Immanenz  des 
Sinnes,  was  aus  der  möglichen  Immanentwerdung  des  trans- 
zendenten Sinnes  hervorgeht.  Die  Differenz  zwischen  Ge- 
sondertheit von  der  Subjektivität  und  Hineingebanntheit  in 
sie  genügt  also  noch  in  keiner  Weise,  um  sich  in  den  Pro- 
blemen der  theoretischen  Philosophie  zurechtzufinden.  Wer 
die  Immanenz  des  Sinnes  nur  als  Immanentgewordenheit 
kennt  und  dementsprechend  sich  bei  der  Losgelöstheit  des 
Sinnes  als  bei  der  echten  und  einzigen  Transzendenz  be- 
ruhigt, der  muß  über  der  Loslösbarkeit  des  Sinnes  geradezu 
blind  sein  gegen  den  Abstand  zwischen  Angetastetheit  und 
Unangetastetheit. 

Für  den  Begriff'  des  immanenten  Sinnes  bedarf  es  viel- 
mehr der  Einsicht,  daß  es  eine  Aktivität  des  Erlebens  gibt, 
die  nicht  ein  Verhalten  zu  einem  in  seinem  Bestände  von 
der  Subjektivität  unabhängigen  Sinn  ist,  sondern  die  eine 
neue  Struktur  des  Sinnes  mit  sich  bringt  oder  kurz  sie  erst 
schafft.  Also  der  Einsicht,  daß  es  eine  Art  des  Sinnes 
gibt,  bei  dem  für  das  Verständnis  seiner  eigentümlichen 
S  i  n  n  artigkeit  als  Voraussetzung  die  unterminierende  Ar- 
beit der  Subjektivität  hinzugenommen  werden  muß.  Die 
Lehre  vom  immanenten  Sinn  ist  zwar  eine  Lehre  vom 
Sinn,  aber  eine  solche,  die  nicht  bloß  aus  sinntheoretischen 


—     170     — 

oder  aletheiologischen  Bestandteilen  besteht,  sondern  bei 
der  die  Wahrheitslehre  sich  nur  über  einem  gnoseologischen 
Unterbau  erheben  kann,  innerhalb  dessen  es  sich  ausschließ- 
lich um  das  Vorhalten  oder  den  Eingriff  der  Subjektivität 
dreht.  Auf  diesem  ganz  eigentümlichen  Ineinanderhaken 
von  Gnoseologie  und  Aletbeiologie  beruht  das  Auszeich- 
nende der  Lehre  vom  angetasteten  Sinn.  Sie  ist  Sinnlehre, 
und  trotzdem  bedarf  sie  der  Subjektivität  für  die  Sinn- 
struktur. Sie  ist  Subjektivitätslehre,  und  doch  läuft  sie 
ganz  und  gar  auf  eine  Lehre  vom  transsubjektiven  Sinn 
hinaus.  Denn  als  geltungsartig  ist  auch  der  angetastete 
Sinn  transsubjektiv.  Ist  doch  jede,  wenn  auch  bedeutungs- 
mäßig noch  so  stark  belastete,  wenn  auch  noch  so  stark 
auf  die  Subjektivität  zurückweisende  Geltungsartigkeit  seins- 
fremd und  darum,  so  wahr  alles  Erleben  seinsartig  ist, 
subjektsfremd,  transsubjektiv.  Auch  die  immanente  Wahr- 
heit  ist  so  subjektsumihnlich,  wie  der  Spinozistische  Gott 
unpersönlich  ist.  Auch  die  immanente  Region  ist  eine 
Region  nicht  der  subjektiven  Hingegebenheit,  sondern  des 
der  Subjektivität  entgegengeltenden  transsubjektiven  Sinnes. 
Das  Nicht  -  Transzendente  ist  dennoch  —  wie  wert-  und 
sinnartig  —  so  auch  transsubjektiv. 

Es  gibt  somit  einen  dritten  Problemkreis  der  Logik 
neben  den  reinen  Wahrheits-  und  den  reinen  Subjekts- 
problemen: die  Probleme  der  immanenten  logischen  Phä- 
nomene. Die  reinliche  Aufteilung  der  theoretischen  Philo- 
sophie in  Sinnprobleme  und  Subjektsprobleme,  in  objektive 
und  subjektive  Logik,  kann  nur  dann  auszureichen  scheinen, 
wenn  man  sich  bei  der  Gegenüberstellung  jener  beiden  Si- 
tuationen des  Sinnes,  seiner  Losgelöstheit  von  der  Sub- 
jektivität und  seiner  Hineingebanntheit  in  sie,  beruhigt. 

Wo  in  der  bisherigen  Logik  —  insbesondere  bei  Bol- 
zano  und  Husserl  —  die  Zerfällung  in  die  nicht  seins-  und 


—     171     — 

geschehensartigen  Gebilde  des  Sinnes  und  in  die  realen 
Subjektsakte  vorgenommen  wurde,  da  kam  es  zunächst  auf 
die  entscheidende  Tatsache  der  Sinnartigkeit  überhaupt  an. 
Und  es  ist  die  historische  Bedeutung  dieser  Logiker  ge- 
wesen, auf  die  Loslösbarkeit  des  Sinnes  —  der  Sätze  „an 
sich"  —  von  den  realen  Substraten  gedrungen  zu  haben. 
Aber  die  weitere  Arbeit  der  Logik  muß  auch  die  Ange- 
tastetheit  dieses  immanent  gekünstelten,  gegensätzlich  ge- 
spaltenen Sinnes,  dieser  „Wahrheiten"  und  „Falschheiten 
an  sich",  zum  Problem  machen.  Hiervon  und  von  einem 
daraus  folgenden  Sichweitertreibenlassen  zum  Begriff  des 
urbildlichen  gegensatzlosen  Sinnes  ist  bei  Bolzano  und  Hus- 
serl  keine  Rede.  Insofern  rücken  unter  dem  Gesichtspunkt 
des  Gegensatzproblems  alle  bisherigen  Vertreter  der  Logik 
des  reinen  Sinnes  mit  dem  gesamten  traditionellen  Stehen- 
bleiben beim  gekünstelt  immanenten  Sinn  zusammen.  Das 
„Ansich"  der  Wahrheiten  und  Falschheiten  an  sich  bei 
Bolzano,  der  idealen  Aussagebedeutungen  bei  Husserl,  bleibt 
durchaus  in  den  Schranken  der  Quasitranszendenz  ^  Es 
bleibt  bei  aller  erstrebten  Abwendung  von  der  Subjektivität 
noch  eine  starke  Verstricktheit  in  die  Subjektivität  bestehen. 
Aufgedeckt  wird  der  zwar  von  der  Subjektivität  loslösbare, 
aber  eben  nicht  anders  denn  als  von  der  Subjektivität  los- 
lösbar vorkommende,  d.  h.  der  seine  Stätte  erst  und  aus- 
schließlich in  der  Subjektivität  lindende  und  in  diesem 
Sinne  nur  loslösbare  Sinn.  Die  echte  Transzendenz  ist 
aber  der  Zustand  des  Sinnes  vor  aller  Berührung  mit  der 
Subjektivität,  während  hinter  der  Selbständigkeit  des  quasi- 


*  Allerdings  ist  mit  „Wahrheit"  und  „Falschheit"  hierbei  Rich- 
tigkeit und  Falschheit  des  Urteilssinnes  und  nicht  der  Gegensatz  des 
primären  Objekts  gemeint.  Doch  für  das  Gegensatzproblem  über- 
haupt kommt  dieser  Unterschied  in  dem  vorliegenden  Zusammenhang 
nicht  in  Betracht. 


—     172     — 

transzendenten  Sinnes  lediglich  die  bloße  Ablösbarkeit  des 
Sinnes  nach  seiner  Berührung  mit  der  Subjektivität  steht. 
Insofern  ist  der  Polemik  gegen  die  völlige  Losgelöstheit 
und  Unabhängigkeit  eines  solchen  immanenten  und  nur 
nicht  als  immanent  erkannten  Sinnes  von  der  Subjektivität 
eine  gewisse  Berechtigung  nicht  abzustreiten  ^  Die  Abso- 
lutheit und  die  Ablösbarkeit  des  immanenten  Sinnes  darf 
über  seine  Gebundenheit  an  die  Subjektsbasis,  über  sein 
Erwachsensein  erst  auf  dem  Boden  der  Subjektivität  nicht 
hinwegtäuschen  -. 


Zweiter  Abschnitt. 

Bejahung  und  Verneinung,  Richtigkeit  und  Falschheit  in  der 
Urteilsentscheidung. 

Im  ersten  Abschnitt  ist  die  Subjektivität  lediglich  als 
Zerstücklerin  der  urbildlich -gegenständlichen  Region  und 
damit  als  Bodenbereiterin  der  quasitranszendenten  primären 
Objektsgefüge  in  Betracht  gezogen  worden.  Wenn  sich 
darin  bereits  eine  aktive  Leistung  der  Subjektivität  doku- 
mentiert, so  kann  damit  doch  lediglich  eine  erste  Etappe 
sich  bekundet  haben.  Es  muß  noch  eine  zweite  und  ab- 
schließende hinzutreten,  nämlich  die  der  Urteilsentscheidung 


»  Palagyi,  Kant  und  Bolzano,  1902,  34  ff.,  Marty,  Unter- 
suchungen, 313  ff.,  Bergmann.  D.  philos.  Werk  B.  Bolzanos  1909, 
18  ff-. 

^  Terminologisch  fällt  die  hier  durchgeführte  Auseinanderhaltung 
des  transzendenten  und  des  immanenten  Sinnes  nicht  mit  der  von 
Rickert  vertretenen  zusammen.  Auch  bei  R  i  c  k  e  r  t  handelt  es  sich 
vielmehr  lediglich  um  den  Unterschied  zwischen  Losgelöstheit  des 
Sinnes  und  Verbundenheit  mit  den  Subjektsakten,  vgl.  Zwei  Wege, 
54  ff.,  V.  Begriff  d  Philosophie,  Logos  1910.  22  ff.  An  der  Stelle  des 
transzendenten  Sinnes  steht  bei  Rickert  wie  bei  Bolzano  und  Husserl 
der  Gegen.stand.  ohne  daß  die  über  sich  hinausweisende  Künstlich- 
keit jedes  vom  Gegenstand  unterschiedenen  theoretischen  Sinnes  be- 
rücksichtigt wird. 


—     173     — 

selbst   als    eines  Stellungsnehmens   zu   den   gegensätzlichen 
Gefügen  der  immanent-angetasteten  Region. 

Denn  es  ist  zwar  die  urbildliche  Gegenstandsregion 
selbst  das  letzte  und  höchste  Ziel  des  Erkennens.  Aber 
für  das  durch  die  Unkenntnis  des  schlichten  Inein anders 
der  transzendenten  Strukturelemente  hindurchgegangene  Er- 
kennen ist  die  urbildliche  Region  ein  verlorenes  Paradies 
geworden.  Als  nächstes  und  unmittelbares  Ziel  hat  sich 
die  immanente  Region  des  gegensätzlichen  Sinnes  dazwischen- 
geschoben.  Nach  dem  Sündenfall  des  Erkennens  gilt  es 
nicht  mehr,  des  transzendenten,  sondern  des  immanent  gegen- 
sätzlichen Sinnes  sich  zu  bemächtigen. 

Das  heißt  nun  aber,  daß  nicht  das  gegensatzlose  Ur- 
bild, sondern  das  selbst  am  Urbild  meßbare  nachbildliche 
Reich  der  Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit  das 
unmittelbare  Maß  abgibt  für  Richtigkeit  und  Falschheit 
der  Urteilsentscheidung.  Nicht  nur  die  Wahrheitsgemäß- 
heit, sondern  auch  die  Wahrheitswidrigkeit  ist  dabei  das, 
was  aufgesucht  und  richtig  erfaßt  werden  soll,  was  ge- 
troffen oder  verfehlt  werden  kann,  ist  richtunggebend  ge- 
worden für  Richtigkeit  und  Falschheit  des  Urteilssinnes. 
Das  zum  Abschluß  gelangende  Erkennen  muß  darum  ein 
gegensätzlich  gespaltenes  Verhalten  zu  einem  selbst  schon 
gegensätzlich  gespaltenen  Sinn,  muß  ein  alternatives  Ent- 
scheiden über  Wert  und  Unwert  der  quasitranszendenten 
Gebilde  sein.  Richtigkeit  und  Falschheit  muß  auf  Ueber- 
einstimmung  und  Nichtübereinstimmung  mit  dem  beruhen, 
was  selbst  mit  dem  gegensatzlosen  Urbild  übereinstimmt 
oder  nicht  übereinstimmt.  Daraus  ergibt  sich  das  bereits 
in  der  Einleitung  behandelte  Sichkreuzen  der  beiden  Gegen- 
satzpaare Bejahung  und  Verneinung  und  Richtigkeit  und 
Falschheit. 

Sobald  aber  feststeht,  daß  an  Stelle  der  ursprünglichen 


—     174     — 

eine  sekundäre  Region  in  die  Funktion  des  Maßstabs  ein- 
gerückt ist,  so  ergibt  sich  daraus,  daß  jetzt  genau  dasselbe 
Abstandsverhältnis  zwischen  einer  Maßstabsregion  und  einer 
gemessenen  Region  sich  noch  einmal  wiederholen  muß.  Es 
beruhte  nun  das  Zustandekommen  einer  nachbildlichen  Re- 
gion auf  einer  Zerstückelung  der  urbildlichen,  diese  wieder- 
um auf  dem  Hindurchgegangensein  durch  die  Unkenntnis. 
Es  kommt  also  darauf  an,  ob  auch  der  sekundären  Region 
gegenüber  eine  Unkenntnis  fortbesteht.  Nun  leuchtet  es 
aber  sofort  ein,  daß  die  Urteilsentscheidung  in  der  Tat 
nicht  anders  gefällt  werden  kann,  als  hindurchgegangen 
nicht  nur  durch  die  ursprüngliche  Unwissenheit  hinsichtlich 
des  gegenständlichen  Urbilds,  sondern  durch  die  weitere 
Unkenntnis  auch  noch  der  immanenten  gegensätzlichen  Maß- 
stabsregion. Denn  wer  das  Urbild  nicht  kennt,  weiß  auch 
nicht,  was  mit  ihm  übereinstimmt  oder  ibm  widerstreitet. 
Zu  dieser  zweiten,  den  nachbildhchen  Objektsgefügen  gegen- 
über fortbestehenden  Unkenntnis  kommt  nun  im  sich  ab- 
schließenden Subjektsverhalten,  in  der  Urteilsentscheidung, 
als  ein  neues  irreduzibles  Phänomen,  als  Urtatsache  der 
zweiten  Etappe,  der  Gegensatz  von  Treffen  und  Verfehlen 
hinzu.  Auf  die  Unkenntnis  folgt  Erkenntnis  oder  Ver- 
kenntnis  der  immanenten  Sinngefüge. 

Nun  handelt  es  sich,  wie  bereits  in  der  Einleitung  her- 
vorgehoben wurde  (S.  14),  auch  bei  der  Urteilsentscheidung 
nicht  um  eine  Gegensätzlichkeit  lediglich  des  Verhaltens,  son- 
dern auch  des  Sinnes.  Trifft  oder  verfehlt  doch  die  Urteilsent- 
scheidung das  quasitranszendente  Sinngefüge  garnicht  anders 
als  so,  daß  sie  es  für  ein  positiv  wahres  oder  wahrheits- 
widriges Gefüge  hält,  d.  h.  nicht  anders  als  so,  daß  ihr  ein 
mit  dem  quasitranszendenten  übereinstimmendes  oder  nicht- 
übereinstiramendes  Sinngefüge  vorschwebt.  Richtigkeit  und 
Falschheit    ist     deshalb     die    Wertqualität    eines     Sinnes, 


—     175     — 

nämlich  Uebereinstimmung  und  Nichtübereinstimmung  des 
vorschwebenden  mit  dem  quasitran  szendent  vorlie- 
genden Sinn,  mit  dem  primären  ürteilsobjekt.  Obwohl 
bloß  als  vorschwebend  und  nicht  einmal  als  quasitranszen- 
dent bestehend,  gibt  es  dennoch  auch  hier  ein  vom  Sub- 
jektsakt objektartig  ablösbares  Gebilde.  Das  primäre  Ur- 
teilsobjekt aber  muß  als  Maß  und  Urbild  zweiter  Ordnung 
auch  relativ  gegensatzlos  sein,  nämlich  übergegensätzlich 
im  Verhältnis  zu  Richtigkeit  und  Falschheit. 

Damit  ist  aber  bereits  das  Entscheidende  auch  über 
die  Struktur  des  bei  der  Urteilsentscheidung  vorschweben- 
den Sinngefüges  festgelegt.  Denn  die  auf  die  immanente 
Region  sich  übertragende  Unkenntnis  muß  genau  wie  früher 
zu  einer  Zerstücklung,  zu  einer  Auseinanderreißung  der 
Elemente  führen  und  so  im  Vergleich  mit  der  Region  der 
wahrheitsgemäßen  und  wahrheitswidrigen  Gefüge  eine  wei- 
tere Steigerung  von  Künstlichkeit  und  Komplikation  ver- 
schulden. 

Wie  nämlich  die  Unkenntnis  des  transzendenten  Inein- 
anders  die  isolierte  Erlebbarkeit  der  einzelnen  Struktur- 
elemente zur  Folge  hatte,  so  verschuldet  nun  des  Weiteren 
die  Unkenntnis  auch  des  AVert-  und  Unwertcharakters  der 
harmonischen  und  disharmonischen  Relationen  eine  Erleb- 
barkeit solcher  Beziehungsgefüge  von  Kategorie  und  Kate- 
gorienmaterial bei  gleichzeitiger  Unentschiedenheit  über  ihre 
Wertqualität ,  d.  h.  bei  gleichzeitiger  Unerlebtheit  ihres 
Wert-  oder  Unwertcharakters.  Wie  dort  die  Auseinander- 
reißung von  Kategorie  und  Material  hervorgerufen  wurde, 
die  in  der  transzendenten  Region  unerhört  ist,  so  hier  die 
Auseinanderreißung  sogar  von  Beziehungsgefüge  und  dessen 
Wertqualität,  wovon  es  in  der  quasitranszendenten  Region 
keine  Spur  gibt.  Kurz,  es  erfolgt  eine  ganz  analoge  Zer- 
stücklung   der    quasitranszendenten    Region    wie    dort    der 


—     176     — 

transzendenten.  Und  dieser  höhere  Grad  künstlicher  Aus- 
einandergerissenheit ist  maßgebend  für  die  ganze  Endsta- 
tion des  immanenten  Sinnes.  Wie  es  in  der  ersten  Etappe 
die  Frage  gab,  welches  Material  mit  welcher  Kategorie 
zusammenpaßt,  so  in  der  zweiten  das  Problem,  ob  einem 
Sinngefüge  die  positive  oder  negative  Qualität  zukommt. 
Die  Wertqualität  selbst  wird  zu  einem  der  Elemente  im 
Gefüge  des  ürteilssinnes.  Quasitranszendenterweise  ist  mit 
Angabe  von  Kategorie  und  Einzelmaterial  auch  schon  der 
harmonische  oder  disharmonische  Charakter  der  zwischen 
ihnen  bestehenden  Beziehung  bestimmt.  Der  Erlebtheit 
nach  dagegen  gibt  es  ein  der  Wertqualität  noch  entbehren- 
des Sinngefüge,  zu  dessen  gesonderter  Erfassung  die  Ent- 
scheidung über  seine  Wertqualität  erst  als  nachträglicher 
Schlußakt  des  Subjektsverhaltens  hinzutritt. 

Es  muß  darum  unterschieden  werden  zwischen  dem, 
was  in  der  ersten  Etappe  als  immanentes  Objekt  bereits 
geschaffen,  und  dem,  was  davon  tatsächlich  erlebt  wird. 
Wenn  das  erkennende  Verhalten  ein  kategoriales  und  ein 
materiales  Element  aus  der  immanent  angetasteten  Region 
herausgreift,  ohne  noch  über  seine  Wertqualität  zu  ent- 
scheiden, dann  liegt  dennoch  als  Ergebnis  bereits  eine 
quasitranszendente  Wahrheitsgemäßheit  oder  Wahrheits- 
widrigkeit vor,  dann  hat  das  Erleben  aus  dem  Reich  der 
immanenten  Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit 
bereits  etwas  herausgegriffen  und  abgesteckt,  was  Wert  und 
Unwert  hat,  und  insofern  muß  man  diesen  Wert  und  Un- 
wert als  bereits  immanent  geworden  ansehen.  G  e- 
meint  und  erlebt  jedoch  wird  a  n  diesem  immanent 
vorliegenden  Bestand  lediglich  ein  des  Wert-  oder 
ünwertcharakters  noch  entbehrendes  Gebilde,  da  die  Wert- 
qualität noch  ungeraeint,  noch  unentschieden  bleibt,  noch 
nicht  mit  in  die  Erlebtheit  eingeht.     In  der  ersten  Etappe 


—     177     — 

der  Subjektivität  reicht  das  Erleben  nicht  soweit,  wie  das 
Herausgreifen  und  Immanentwerdenlassen. 

Obwohl  dieses  der  Wertqualität  noch  beraubte  Sinn- 
gefüge  aus  den  beiden  Bestandteilen  der  nachbildlichen 
Sinnstruktur  zusammengesetzt  ist,  obwohl  das  Erleben  es 
bereits  soweit  hat  kommen  lassen,  diese  beiden  Elemente 
als  in  der  Form-Material-Relation  stehend  vor  sich  hinzu- 
stellen, repräsentiert  es  wegen  der  mangelnden  Wertquali- 
tät noch  ein  ganz  unvollständiges,  der  Abgeschlossenheit 
des  nachbildlichen  Sinngefüges  entbehrendes  Gebilde.  Dieses 
die  Elemente  des  künstlichen  Sinnes  und  ihre  Bezogenheit 
aufeinander  bereits  enthaltende  und  doch  noch  der  Voll- 
ständigkeit des  Sinnes  ermangelnde  Gefüge,  diese  bloße 
„Vorstellungsbeziehung",  mag  als  „Sinnfragment"  be- 
zeichnet werden. 

Die  dem  Sinnfragment  anhaftende  potenzierte  Künst- 
lichkeit manifestiert  sich  somit  ebenso  wie  die  Künstlichkeit 
der  ersten  Etappe  in  einer  mit  der  Auseinanderreißung  der 
Elemente  zusammenhängenden  künstlichen  Entwertung  und 
Neutralisierung.  Wie  dort  aus  der  Kategorie  der  gegen- 
satzlose Wert  herausgesogen  wurde,  so  wird  hier  sogar  die 
künstliche  Beziehung  zwischen  Kategorie  und  Kategorien- 
material ihrer  positiven  und  negativen  Wertqualität  beraubt. 
Wie  dort  der  Wert  von  der  Kategorie  in  ein  Beziehungs- 
gefüge  einrückt,  zu  dessen  für  sich  indifferentem  Glied  die 
Kategorie  herabsinkt,  so  wird  sich  im  folgenden  auch  hier 
zeigen,  daß  dieses  Beziehungsgefüge  wiederum  als  wertin- 
differentes Element  in  ein  komplizierteres,  in  das  richtige 
und  falsche  Beziehungsgefüge  des  Urteilssinnes,  eingebaut 
wird. 

Da  mit  der  Fixierung  des  Sinnfragments  das  Erkennen 
sich  hinsichtlich  aller  übrigen  Momente  mit  alleiniger  Aus- 
nahme der  Wertqualität  bereits  festgelegt  hat,  so  muß  sich 

Lask,  Lehre  vom  Urteil.  12 


—     178     — 

die  zweite  Etappe  des  Subjektsverlialtens  auf  die  Wertent- 
scheidung darüber  beschränken. 

Mit  dem  Begriff  des  Sinnfragments  ist  nun  den  allge- 
meinen Prinzipien  der  Lehre  vom  Subjekts  eingriff  gemäß 
begreiflich  gemacht,  wie  es  im  ganzen  Aufbau  der  Struk- 
turelemente zu  jenem  bereits  früher  behandelten  Gebilde 
einer  bloßen  qualitätsindifferenten  „Vorstellungsbeziehung-' 
kommen  muß  (vgl.  ob.  S.  34  f.).  Es  ist  jetzt  auch  ersichtlich 
geworden,  daß  dieses  von  fast  allen  Urteilstbeorien  ohne 
den  geringsten  Arg  zugrundegelegte  Gebilde  ein  höchst 
fragwürdiges  Phänomen  repräsentiert  und  für  eine  am  Un- 
gekünstelten orientierte  Darstellung  gar  sehr  der  Erklärung 
bedarf.  Wiederum  aber  wird  gegen  die  Berechtigung,  ja 
Unerläßlichkeit  dieses  Gebildes  überhaupt  und  gegen  die 
ihm  in  der  Region  der  Urteilsentscheidung  zugedachte  Rolle 
garnicht  polemisiert.  Nur  kommt  eben  alles  darauf  an, 
seine  wahre  Herkunft  zu  durchschauen. 

Durchweg  herrscht  besonders  in  der  neueren  Urteils- 
theorie die  Auseinanderhaltung  zweier  Etappen  der  Sub- 
jektivität, die  Zerlegung  in  ein  „vorstellendes",  d.  h.  mit 
der  Wertqualität  noch  garnicht  beschäftigtes  Verhalten, 
und  in  den  Schlußakt  der  Wertentscheidung.  Es  sind,  wie 
mit  Recht  gelehrt  wird,  die  „vorstellungsmäßigen  Bestand- 
teile" für  Bejahung,  Verneinung  und  Frage  die  gleichen: 
überall  kommt  es  hierbei  mindestens  schon  zur  Herausgrei- 
fung des  Sinnfragments.  Dieses  Sinnfragment  ist  jenes 
„dasselbe",  worüber  bejahend  oder  verneinend  entschieden, 
d.  h.  was  für  eine  Wahrheitsgemäßheit  oder  eine  Wahr- 
heitswidrigkeit erachtet  wird,  oder  hinsichtlich  dessen  es  bei 
bleibender  Unentschiedenheit  bloß  zum  Verlangen  nach 
Entscheidung  kommt'.     In  der  Frage:  „Ist  a  die  Ursache 

*  Ein  Vorläufer   dieser  Lehre  ist  H  e  r  b  a  r  t ,    Lchrb.   z.  Einl.  i. 
d.  Philos.  §  54,  1.  Abs.     „Das  Bisherige  beruht  bloß  auf  dem  beson- 


—     179     — 

von  b?"  ist  es  in  der  Tat  genau  wie  bei  Bejahung  und 
Verneinung  bereits  zur  ersten  Etappe  des  Subjektsverhal- 
tens, zur  Kopulierung  der  herausgegrifienen  Elemente,  zur 
Fixierung  des  Sinnfragments,  gekommen.  Bloß  die  Ent- 
scheidung steht  noch  aus.  Als  vorliegend  immanent 
ist  deshalb  schon  von  der  Frage  wahrheitsgemäßer  oder 
wahrheitswidriger  Sinn  abzulösen,  als  gemeint  immanent 
freilich  nur  das  Sinnfragment.  Das  Sinnfragment  ist  ferner 
auch  „dasselbe",  das,  sowohl  bejaht  wie  verneint,  zum  Wi- 
derspruch führt.  Den  "Widerspruch  gibt  es  ja,  wie  hier 
nicht  weiter  auszuführen  ist,  nur  zwischen  den  Sinneinzel- 
heiten in  der  Region  des  vollendet-gemeinten  Sinnes.  Erst 
in  dieser  Sphäre  potenzierter  Künstlichkeit  hat  der  Satz 
vom  Widerspruch  seine  Stelle.  Dagegen  im  Reich  der 
wahrheitsgemäßen  und  wahrheitswidrigen  Gefüge  kann  das- 
selbe immer  nur  positiver  oder  negativer  Qualität  sein. 

In  dem  Umstand,  daß  die  Region  des  Urteilssinnes 
die  dem  Sinnfragment  eignende  gesteigerte  Depotenzierung 
zur  Voraussetzung  hat,  tritt  jetzt  erst  die  Künstlichkeit 
der  Urteilsregion  in  ihrem  ganzen  Umfange  zutage. 

Indem  die  Urteilstheorie  den  „vorstellungsmäßigen" 
Bestand,  d.  h.  aber  alles  nach  Abzug  der  Wertqualität 
Uebrigbleibende,  als  wertindifferent,  das  Verhalten  dazu  als 
„teilnahmlos"  und  „gleichgültig"  hinstellt,  also  die  katego- 
rialen  und  die  materialen  Bestandteile  unterschiedslos  zum 
gleichen  Niveau  eines  „Vorstellungsmäßigen"  herabdrückt, 
so  zeigt  sich  hier  von  Neuem  die  zur  Neutralisierung  der 
Kategorie    führende    Konsequenz.     Für    die    Urteilstheorie 


deren  Gebrauche,  welchen  man  von  Begriffen  macht,  indem  man  sie 
in  die  Relation  des  Subjekts  und  Prädikats  bringt;  es  ist  daher 
der  Frage  und  dem  Urteile  gemein.  Das  Nachfolgende  beruht  da- 
gegen auf  der  Eigentümlichkeit  des  Urteils,  als  der  Entscheidung  der 
Frage. " 

12* 


—     180     — 

gibt  es    ein    bloßes  „Vorstellen'-   des   kategorialen  Gehalts, 
beispielsweise  der  Kausalität   als   eines  Elements  der  Vor- 
stellungsbeziehung oder  als  des  vorstellungsmäßigen  Bezie- 
hungsmomentes selbst.     Wird  doch  in  der  Tat  auch  in  der 
Frage  die  Kategorie  ..vorgestellt".  Wofern  nun  aber  ande- 
rerseits —  und  auch  dafür  gibt  es  doch  genug  Anzeichen  — 
gerade  die  Kategorien  als  apriorische  Gültigkeiten,  als  Nor- 
men und  Werte   anerkannt  sind,   liegen   offensichtlich  hier 
unüberwundene    Unausgeglichenheiten    vor.     Angenommen, 
die  Kategorie,  beispielsweise  die  Kausalität,  sei  etwas  Gel- 
tungs-,  Wert-,    Norm-Artiges,    so    enthält    doch   das  bloße 
Vorstellen    eines    solchen    kategorialen    Gehalts    als    eines 
geltungsindifferenten  Bestandteils  eine  künstliche  Beraubung 
und  Entleerung.     Wer  sich  auch  sonst  meint,  der  in  dieser 
Abhandlung  verfochtenen  Lehre    von   einer  in  der  Urteils- 
region  herrschenden  „Künstlichkeit"  verschließen   zu   kön- 
nen,   wird   in    diesem  Punkte    stutzig   werden    müssen  und 
sich  der  Einsicht  nicht  zu  erwehren  vermögen,  daß  hier  im 
„Vorstellen"  und  durch  das  Vorstellen  ein  an  sich  Geltungs- 
artiges zum  Geltungsindifferenten  zusammenschrumpft,  daß 
hier  ganz  im  Einklang  mit  den  in  dieser  Abhandlung  ver- 
tretenen Prinzipien  der  Immanenzlehre  eine  durch  die  Sub- 
jektivität verschuldete  Herabminderung  vorliegt. 

Das  die  heterogensten  Bestandteile  zusammenfassende 
„Vorstellen"  ist  in  der  Tat  nur  verständlich  durch  seine 
Kontrastierung  mit  der  Urteilsentscheidung.  Die  ganze 
Unbestimmtheit  dieses  Vorstellungsbegriffs  tritt  grell  zutage, 
wenn  bedacht  wird,  daß  er  die  Urdualität  des  Logischen 
und  des  Alogischen,  des  Unsinnlichen  und  des  Sinnlich- 
Anschaulichen  gänzlich  ignoriert.  Er  geht  auf  Logisches 
genau  so  wie  auf  Sinnlich-Alogisches,  wofern  es  nur  irgend- 
wie als  Bestandteil  oder  „Materie"  für  die  Urteilsentschei- 
dung in  Betracht  kommt.     Er  ist  ein  Sammelname  für  alles 


—     181     ~ 

Erdenkliche  mit  alleinigem  Ausschluß  der  gegensätzlichen 
"Wertqualität  ^.  Er  ist  geradezu  ein  AVahrzeichen  der  Außer- 
achtlassung der  letzten  und  wahren  Unterschiede  zugunsten 
der  gekünstelten  Urteilsregion.  So  zweifellos  nun  diese 
ganze  Lehre  vom  Vorstellen  mit  ihrer  Xeutralisierung  auch 
der  Kategorien  innerhalb  der  Urteilsregion  ihre  Berechti- 
gung hat  —  wie  denn  überhaupt  in  dieser  Abhandlung  die 
Urteilslehre  selbst  garnicht  angegriffen  wird  — ,  so  wenig 
darf  sie  der  Standpunkt  der  theoretischen  Philosophie  über- 
haupt sein.  So  beruht  das  ganze  Bestehen  neutraler  wert- 
freier Gebilde,  die  zugleich  logische  Phänomene  wären, 
lediglich  auf  einer  künstlichen  Verdrängung  sogar  der  gegen- 
sätzlichen Wertartigkeit,  wie  diese  bereits  auf  einer  künst- 
lichen Verdrängung  der  urbildlichen  Uebergegensätzlichkeit 
sich  aufbaute.  An  sich  gibt  es  nur  übergegensätzlich  Wert- 
artiges auf  der  einen  und  Sinnlich-Anschaulich-Wertfrem- 
des auf  der  andern  Seite.  Erst  auf  den  beiden  Stufen  der 
Künstlichkeit  gesellt  sich  dazu  zunächst  die  Gegensätzlich- 
keit und  dann  die  Neutralität  des  Geltens  und  des  Wertes. 
So  erledigt  sich  durch  die  Einsicht  in  das  Wesen  der  Wert- 
gegensätzlichkeit auch  das  ganze  Phänomen  der  Wertneu- 
tralität. — 

Bei  der  Erörterung  des  Urteilssinnes  läßt  sich  die  Ge- 
gensätzlichkeit dessen,  als  was  die  primären  Objekte  vor- 
schweben, also  der  Gefüge,  die  aus  Sinnfragment  und  zu- 
erteilter Wertqualität  bestehen,  der  Gefüge  des  mit  dem 
Ja  und  dem  Nicht  versehenen  Sinnes,  und  der  Gegensatz 
von  Richtigkeit  und  Falschheit  dieses  positiven  oder  nega- 
tiven  Urteilssinnes   auseinanderhalten.     Es   kann    nun    zu- 


*  Das  trifft  jedoch   nicht   in  vollem  Maße   für  Bergmann    zu, 

der  der  „Vorstellung"  eine   ganz   bestimmte  Stelle  im  theoretischen 

Aufbau   von  , Materie"    und    „Form"    anweist,    vgl.  R.  L.,    bes.  39  ff., 
50  f.,  59  u.  ob.  S.  123  Anm. 


—     182     — 

nächst  das,  als  was  die  Objekte  der  ürteilsentscheidung 
vorschweben,  unabhängig  von  der  ihnen  anhaftenden  Rich- 
tigkeit und  Falschheit  untersucht  werden. 

Die  im  Verhältnis  zu  der  des  primären  Objekts  ver- 
wickeitere Struktur  des  in  der  Bejahung  und  Verneinung 
vorschwebenden  Sinngefüges  beruht  darauf,  daß  beim  Be- 
jahen und  Verneinen  die  von  der  „  Vorstellungsbeziehung " 
getrennte  "Wert-  und  Unwertqualität  als  etwas  dieser  aus- 
drücklich als  zukommend  Erachtetes  vorliegt.  Man  muß 
geradezu  sagen,  daß  der  das  Objekt  der  Bejahung  bildende 
Sinn  ein  Hingehören  der  Wahrheitsgemäßheit,  der  das  Ob- 
jekt der  Verneinung  bildende  ein  Hingehören  der  Wahr- 
heitswidrigkeit zum  Sinnfragment  enthält.  Der  der  Be- 
jahung und  der  Verneinung  vorschwebende  Sinn  stellt  also 
nicht  etwa  wie  Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrig- 
keit ein  bloßes  Harmonieren  und  Disharmonieren  von  Kate- 
gorie und  Kategorienmaterial,  sondern  ein  Gefüge  von  Sinn- 
fragment und  Wertqualität,  ein  mit  zuerteilter  Wahrheits- 
gemäßheit oder  Wahrheitswidrigkeit  behaftetes  Sinnfrag- 
ment dar.  Die  Struktur  des  ürteilssinns  muß  so  gedacht 
werden,  daß  als  das  eine  seiner  Elemente  immer  die  bloße 
Vorstellungsbeziehung,  als  das  andere  Element  die  Wert- 
oder Unwertqualität  gedacht  wird.  So  muß  die  vollendete 
Urteilsstruktur  als  Niederschlag  der  beiden  verschiedenen 
Etappen  angesehen  und  danach  gegliedert  werden.  Der 
Sinn  des  Urteils  „a  ist  die  Ursache  von  b"  setzt  sich  aus 
der  Vorstellungsbeziehung  (a,  b- Ursache)  und  der  posi- 
tiven Wertigkeit  zusammen,  die  bei  dieser  Bejahung  dem 
Sinnfragment  als  zukommend  erachtet  wird. 

Bejahung  und  Verneinung,  Ja  und  Nein ,  sind  die 
sprachlichen  Ausdrücke  für  die  Zuerteilung  der  Wahrheits- 
gemäßheit und  Wahrheitswidrigkeit  an  das  Sinnfragment. 
Sie   sind  Ausdrücke   für  das  dem  Sinn   hingegebene  Sub- 


—     183     — 

jektsverhalten.  Wendet  man  sich  jedoch  dem  ürteilssinn 
selbst  zu,  dessen  bloßes  Subjektskorrelat  sie  darstellen,  so 
steht  für  die  als  zukommend  erachtete  Wahrheitswidrig- 
keit der  sprachliche  Ausdruck  „nicht"  zur  Verfügung. 
„Nicht"  ist  nämlich  die  Bezeichnung  nicht  etwa  für  Wahr- 
heitswidrigkeit, sondern  für  die  im  voUendet-gemeinten  Sinn 
neben  dem  Sinnfragment  isoliert  auftretende  und  diesem 
als  zukommend  erachtete  Wahrheitswidrigkeit.  Nicht 
ist  das  Objektskorrelat  von  Nein,  von  Verneinen.  Es  ist 
nicht  wie  nein  ein  Ausdruck  für  Subjektshingegebenheit  an 
Sinn,  sondern  ein  objektiver  Ausdruck  für  einen  Sinnbe- 
standteil selbst,  freilich  für  ein  Element  des  vollendet  im- 
manenten Sinnest  Leider  gibt  es  dagegen  für  die  ge- 
meinte Wahrheitsgemäßheit  als  objektiven  Sinnbestandteil 
keinen  vom  subjektiven  Ja  gesonderten  Ausdruck,  der  sich 
vom  Ja  ebenso  unterschiede ,  wie  Nicht  von  Nein.  Man 
muß  sich  deshalb  mit  dem  einen  Wort  Ja  für  die  subjek- 
tive Seite  der  Bejahung  wie  für  das  objektive  Ja  behelfen 
und  das  Ja  verschiedendeutig  in  den  beiden  Gegensatz- 
paaren Ja-Nein  und  Ja-Nicht  terminologisch  verwenden^. 
Dazu  kommt  noch,  daß  bekanntlich  das  objektive  Ja  in 
der   sprachlichen   Formulierung   weggelassen    wird   und  an 


*  Daraus  ist  übrigens  zu  entnehmen,  daß  es  unzulässig  ist,  die 
Wahrlieitswidrigkeit  mit  Hilfe  der  Negation  zu  definieren,  da  viel- 
mehr umgekehrt  das  .nicht"  als  gemeinte  Wahrheitswidrigkeit 
der  Wahrheitswidrigkeit  gegenüber  etwas  Abgeleitetes  darstellt. 
Dasselbe  gilt  von  all  den  Wendungen,  mit  denen  vorher  die  Wahi*- 
heitswidrigkeit  umschrieben  wurde,  wie  ^.Nichtzusammengehören*, 
„Nichtzukommen"  usw.  Doch  von  den  Gründen,  aus  denen  sich  hier 
und  sonst  die  Negation  vordrängt,  ist  an  diesem  Orte  nicht  zu  han- 
deln. Wie  in  dieser  Abhandlung  überhaupt  auf  die  Lehre  von  der 
Negation  nicht  genauer  eingegangen  wird. 

2  Der  von  Bergmann,  Hauptp.  d.  Philos.,  1900,  5  nach  Ana- 
logie des  berechtigten  „ichts"  für  das  objektive  Ja  verwandte  Ter- 
minus jicht"  ist  aus  sprachlichen  Gründen  unhaltbar. 


—     184     — 

seine  Stelle  die  bloße  Aussageform  tritt.  Es  heißt  einfach: 
,a  ist  die  Ursache  von  b "  und  nicht:  „a  ist  ja  die  Ursache 
von  b".  Empfindlicher  ist  der  Mangel  einer  Bezeichnung 
für  den  ganzen  in  der  Bejahung  und  Verneinung  gemein- 
ten Sinn,  da  die  Ausdrücke  positiv  und  negativ  von  zu 
weitem  und  vieldeutigem  Gebrauch  sind,  und  die  Ausdrücke 
bejahter  und  verneinter  Sinn    sprachlich  inkorrekt    wären. 

Es  gibt  somit  drei  Gegensätze  des  Sinnes :  den  von 
"Wahrheitsgemäßheit  und  "Wahrheitswidrigkeit,  von  Ja  und 
Nicht,  von  Kichtigkeit  und  Falschheit.  Die  beiden  letzteren 
kreuzen  sich.  Die  beiden  ersteren  aber  stehen  in  dem  Ver- 
hältnis, daß  nicht  etwa  der  "Wahrheitsgemäßheit  und  "Wahr- 
heitswidrigkeit, sondern  nur  der  gemeinten,  der  vor- 
schwebenden und  dem  Sinnfragment  zuerteilten  Wahrheits- 
gemäßheit und  "Wahrheitswidrigkeit  das  Ja  und  das  Nicht 
korrespondiert,  dagegen  der  "Wahrheitsgemäßheit  und  Wahr- 
heitswidrigkeit als  dem  Bejahungs-  und  Verneinungswürdi- 
gen nur  das  richtige  Ja  und  Nicht  entspricht.  Zu  diesen 
Gegensatzpaaren  des  Sinns  kommen  als  bloße  Korrelate 
die  Gegensätzlichkeiten  der  dem  entsprechenden  Sinn  hin- 
gegebenen Subjektivität  hinzu:  Bejahen  und  Verneinen, 
Treffen  und  irriges  Verfehlen. 

In  die  Lehre  vom  positiven  und  negativen  Urteilssinn 
ist  von  neuem  die  Lehre  von  der  Kopula  hineinzuarbeiten. 
Die  Kopula  erschien  früher  als  die  künstliche  qualitätsbe- 
raubte Relation  zwischen  den  isolierten  Elementen  des  im- 
manent angetasteten  Sinnes  (vgl.  ob.  S.  34  f.  u.  74).  Jetzt 
kann  sie  als  das  Bindeglied  der  Elemente  innerhalb  des  Sinn- 
fragments verstanden  werden.  Die  Einteilung  in  Subjekt, 
Prädikat  und  Kopula  ist  deshalb  die  UntergUederung  des 
einen  der  beiden  Glieder  des  Urteilssinnes,  nämlich  der 
Vorstellungsbeziehung.  Am  Gesamtverhalten  des  urteilen- 
den Erkennens  bildet  das  bloße  Prädizieren  im  Sinne  des 


—     185     — 

bloß  „vorstellungsmäßigen"  Kopulierens  von  Subjekt  und 
Prädikat  die  gemeinsame  vrertindifferente  Unterlage  für  das 
bejahende  und  verneinende  Verhalten  wie  auch  für  das 
Verhalten,  bei  dem  es  zu  keiner  Entscheidung  kommt  (z.  B. 
für  die  Frage).  Man  kann  sagen,  daß  Subjekt  und  Prädi- 
kat durch  Bejahung  und  Verneinung  in  eine  entweder  har- 
monische oder  disharmonische  Beziehung  zueinander  ge- 
setzt werden  sollen.  Denn  die  Zuerteilung  des  harmoni- 
schen und  disharmonischen  Charakters  an  das  Sinnfrag- 
ment läßt  sich  in  eine  das  Prädikat  mit  dem  Subjekt 
für  harmonierend  oder  disharmonierend  erachtende,  in  eine 
zusprechende  oder  absprechende  Zuerteilung  des  Prädikats 
an  das  Subjekt,  äquivalent  umformen.  Das  Prädizieren  im 
Sinne  eines  solchen  Zusprechens  oder  Absprechens  ist  also 
-immer  mehr  als  die  Vornahme  der  bloßen  Vorstellungs- 
beziehung, es  ist  die  bereits  mit  hinzutretender  Qualitäts- 
entscheidung sich  verbindende  Herstellung  des  Sinnfrag- 
ments. So  ist  Subjekt,  Prädikat  und  Kopula  der  sprach- 
liche Ausdruck  für  die  erste  Etappe,  für  die  Herstellung 
der  Vorstellungsbeziehung,  Ja  und  Nein  dagegen  der  sprach- 
liche Ausdruck  für  die  hinzutretende  ürteilsentscheidung. 
Insofern  es  die  wertindifferente  Verbundenheit  der  Ele- 
mente ist,  die  in  der  ürteilsentscheidung  nachträglich  für 
harmonisch  oder  disharmonisch  erklärt  wird,  kann  man  mit 
Anpassung  an  diese  potenzierte  Künstlichkeit  sich  so  aus- 
drücken ,  daß  Bejahung  und  Verneinung  sich  auf  nichts 
anderes  als  auf  die  Kopula  beziehen  kann  ^  Subjekt,  Prä- 
dikat, Kopula,   Ja   und  Nicht   sind  insgesamt   Ausdrücke 


^  Hier  wäre  genauer  zu  zeigen,  daß  allen  sprachlich-grammati- 
schen Verhüllungen  dieses  Sachverhalts  zum  Trotz  das  ,, nicht''  als 
gemeinte  Wahrheitswidrigkeit  nichts  anderem  als  einem  fragmenta- 
rischen Sinngefüge  zukommen  kann,  wonach  beispielsweise  auch  die 
, aoristischen "  Wendungen  wie  ,non  a"  zu  deuten  wären. 


—     186     — 

nicht  für  das  Subjektsverhalten,  sondern  für  Bestandteile 
objektiven  Sinnes ,  freilich  für  die  von  der  Subjektivität 
aufgegriffenen,  immanent  gewordenen  Elemente,  die  darum, 
obwohl  nicht  Momente  des  Aussageverhaltens,  so  doch  die 
Symptome  ausdrücklicher  Gemeinheit,  ausdrücklicher  Zuer- 
teilung  und  „Ausgesagtheit'-,  an  sich  tragen. 

Von  der  Unterscheidung  der  zwei  Etappen  des  Sub- 
jektsverhaltens aus  läßt  sich  die  Streitfrage  der  Koordi- 
nierbarkeit  des  positiven  und  des  negativen  Urteils  leicht 
entscheiden.  Der  Vorrang  des  positiven  Urteils,  der  darin 
besteht,  daß  in  der  richtigen  Bejahung  indirekt  das  trans- 
zendente Urbild  getroffen  wird,  während  die  Negation  sich 
begnügt,  eine  Wahrheitswidrigkeit  als  solche  bloßzustellen, 
ist  unbestreitbar.  Aber  um  so  schärfer  muß  wiederum  an 
der  Koordiniertheit  der  logischen  Struktur  des  posi- 
tiven und  des  negativen  Urteils  festgehalten  werden,  wie  ja 
vorher  schon  immer  auf  die  Strukturebenbürtigkeit  von 
positiver  Wertigkeit  und  Unwertigkeit  das  größte  Gewicht 
gelegt  wurde.  Wie  in  der  Bejahung  die  Wahrheitsgemäß- 
heit, so  wird  in  der  Verneinung  die  Wahrheitswidrigkeit 
dem  Sinnfragment  als  zukommend  erachtet.  Die  Vernei- 
nung ist  eine  Entscheidung  über  genau  ,,d  a  s  s  el  b  e**,  wie 
die  Bejahung,  nämlich  über  das  Sinnfragment.  Sie  ist 
darum  nicht,  wie  Sigwart  und  B.  Erdmann  wollen,  ein  Ur- 
teil über  ein  versuchtes  oder  vollzogenes  positives  Urteil, 
ein  Urteil  über  ein  Urteil,  ein  Urteil  über  die  Falschheit 
des  entsprechenden  bejalienden  Urteils^,  Das  würde  zu 
dem  in  der  Einleitung  nachgewieseneu  Zirkel  führen  (vgl. 
ob.  S.  22).  Vielmehr  ist  allen  denen  beizutreten,  die  wie 
Lotze,  Brentano,  Bergmann,  Windelband,  Rickert  ein  ge- 
naues Entsprechen  von  Bejahung  und  Verneinung  lehren. 
Beide  sind  gleichmäßig  die  Entscheidung  über  ein  Gebilde, 
»  Sigwart,  Logik.  I«,  §  20,  Erdmann,  Logik,  §§  392  flf. 


—     187     — 

hinsichtlich  dessen  die  Entscheidung  noch  aussteht,  also 
über  das  Sinnfragment.  Auch  das  positive  Urteil  schließt 
sich  als  eine  vollendende  Etappe  an  die  Herausgreifung  des 
Sinnfragments  an.  Auch,  was  im  negativen  Urteil  als  ein 
Unwert  hingestellt  wird,  ist  die  der  Wertqualität  noch  ent- 
behrende bloße  Unterlage  für  Bejahung  und  Vernei- 
nung. Wenn  Sigwart  sagt,  verneint  wird  nur,  wo  eine  Be- 
jahung in  Frage  kommt,  so  ist  zu  erwidern:  bejaht  wie 
verneint  wird  stets  ein  Gebilde,  das  zunächst  nur  in  Frage 
steht,  also  bejaht  oder  verneint  werden  kann  ,  ohne  daß 
bereits  eine  darauf  gerichtete  Entscheidung  gedacht  werden 
darf.  Die  Urteilsentscheidung  ist  eben  als  ein  durch  Un- 
kenntnis und  Frage  hindurchgegangenes  Verhalten  zu  fas- 
sen. Mit  Recht  hat  man  sie  darum  als  die  Antwort  auf 
eine  Frage  bezeichnete 

Daß  mit  dieser  Koordinierung  von  Positivität  und 
Negativität  der  Vorrang  des  Positiven  nicht  in  Widerspruch 
steht,  ist  bereits  öfter  hervorgehoben  worden  (vgl.  ob. 
S.  95,  bes.  131).  Während  das  negative  Urteil  sich  da- 
mit begnügt,  das  vom  Gegenstand  abweichende  wahrheits- 
widrige Gefüge  als  solches  zu  kennzeichnen,  läßt  sich  von 
dem  in  der  richtigen  Bejahung  vorschwebenden  wahrheits- 
gemäßen Gefüge  aus,  nach  Abzug  der  nachbildlichen  Struk- 
turüberdeckung,  der  Gegenstand  selbst  wiederherstellen 
(vgl.  ob.  S.  98/99).  So  steht  ausschließlich  die  Bejahung  im 
unmittelbarsten  Dienst  des  Endzwecks ,  der  Gegenstands- 
bemächtigung.  Von  ihr  führt  ein  einziger  Schritt  zum  ur- 
teilsjenseitig-transzendentallogischen Erkennen  (vgl.  ob. 
S.  135  f.),  das,  wie  die  übergegensätzliche  Wahrheit  jenseit 
von   Wahrheitsgemäßheit   und  Wahrheitswidrigkeit,   selbst 


*  So  R  i  c  k  e  r  t ,  Gegenstand  d.  Erk.,  95  f.,  vgl.  ferner  über  Her- 
bart, Fries,  Fortlage:  Windelband,  Beitr.  z.  Lehre  v.  neg.  Urt., 
188,   dazu  noch  über  Bachmann:    ülrici,    Syst.  d.  Log.,  1852,  493. 


—     188     — 

jenseits  von  Ja  und  Nein  steht. 

Xach  der  Behandlung  des  mit  dem  Ja  und  dem  Nicht 
behafteten  Sinnes  ist  nunmehr  auch  das  Kriterium  von 
Richtigkeit  und  Falschheit  zu  bestimmen.  Da  in  der  zwei- 
ten Etappe  des  Subjektsverhaltens  nichts  anderes  als  die 
"Wertentscheidung  hinzukommt,  so  kann  auch  Richtigkeit 
und  Falschheit  von  nichts  anderem  abhängen  als  davon, 
ob  dem  Sinnfragment  die  ihm  quasitranszendent  gebührende 
"Wertqualität  zuerteilt  wird  oder  nicht.  Richtigkeit  ist  Zu- 
sammenstimmen, Falschheit  Nichtzusammenstimmen  zwischen 
Sinnfragment  und  Wertqualität.  Der  verneinenden  Urteils- 
entscheidung ,,a  ist  die  Ursache  von  b"  liegt  die  Heraus- 
greifung des  Sinnfragments  <(a,  b-Ursache)  zugrunde.  Die 
zunächst  bloß  indifferente  kopulative  Bezogenheit  von  a,  b 
und  Ursache  wird  im  verneinenden  Urteil  für  disharmo- 
nisch erklärt.  Angenommen  nun,  im  primären  Objektge- 
füge  {a,  b- Ursache)  liegt  dem  quasitranszendenten  Ansich 
nach  eine  Wahrheitsgemäßheit  immanent  vor ,  so  stimmt 
also  die  in  der  Verneinung  zuerteilte  Wahrheitswidrigkeit 
nicht  zum  Sinnfragment ;  der  vollendet-gemeinte  Urteils- 
sinn der  Negation  „a  ist  nicht  die  Ursache  von  b"  ({a,  b- 
Ursache)-Wahrheitswidrigkeit)  ist  also  in  sich  nicht  zusam- 
menstimmend, es  besteht  eine  Disharmonie  zwischen  dem 
Sinnfragment  und  der  ihm  zuerteilten  Wahrheitswidrigkeit. 
Es  liegt  demnach  ein  falscher  Sinn,  ein  falsches  vernei- 
nendes Urteil  vor.  In  dem  von  der  Bejahung  gemeinten 
Sinn  „a  ist  Ursache  von  b"  «a,  b-Ursache)- Wahrheitsge- 
mäßheit) dagegen  läge  eine  Harmonie  zwischen  Sinnfrag- 
ment und  als  zukommend  erachteter  Wertqualität  vor,  die 
Bejahung  enthielte  somit  einen  richtigen  Sinn.  Hier  zeigt 
sich,  wie  unerläßlich  die  Auseinanderhaltung  der  drei  Ge- 
gensatzpaare, der  Wahrheitsgemäßheit  und  der  Wahrheits- 
widrigkeit, des  mit  dem  Ja  und  mit  dem  Nicht  behafteten 


—     189     — 

Sinnes,  der  Richtigkeit  und  der  Falschheit,  ist. 

So  bestätigt  sich  denn,  daß  der  gemessene  Sinn  immer 
um  einen  Grad  komplizierter  ist  als  sein  relativ  gegensatz- 
loser Maßstab  ,  hier  also  der  Urteilssinn  um  einen  Grad 
gekünstelter  als  das  primäre  Objekt.  Und  wiederum  ent- 
spricht dem  Uebereinstimmen  und  Nichtübereinstimmen  des 
gegensätzlichen  Sinnes  mit  dem  Maßstab  ein  solches  Zu- 
sammenstimmen und  Nichtzusammenstimmen  von  dessen 
Elementen  untereinander  (hier  also  von  Sinnfragment  und 
Wertqualität),  das  es  in  der  relativ  gegensatzlosen  Region 
des  Maßstabs  nicht  gibt,  und  das  auf  einer  Auseinander- 
reißung  der  Elemente  beruht.  Wiederum  ist  die  Künst- 
lichkeit solcher  Isolierung  der  Elemente  dem  positivwerti- 
gen  und  dem  unwertigen  Sinn  gemeinsam.  Und  wiederum 
kommt  im  falschen  Gefüge  noch  die  Verschobenheit  der 
Wertqualität  gegen  das  Sinngefüge  hinzu.  So  baut  sich 
der  richtige  und  der  falsche  Sinn  genau  so  über  der  Locke- 
rung der  quasitranszendenten  Region  auf,  wie  sich  der 
wahrheitsgemäße  und  wahrheitswidrige  über  die  Zerstück- 
lung des  transzendenten  Urbilds  erhob.  Wie  der  urbild- 
liche Gegenstand  mit  Verlust  seiner  eigenen  Struktur  als 
„Materie"  in  die  primären  Objekte  hineinverarbeitet  ist, 
so  werden  diese  nachbildlichen  Gefüge ,  gleichfalls  unter 
Zerstörung  ihrer  Struktur ,  als  „Materie  der  Urteilsent- 
scheidung", in  den  Urteilssinn  einverleibt. 

Richtigkeit  und  Falschheit  sind  im  Urteilssinn  nicht 
mitgemeint,  sie  liegen  nur  in  ihm  vor.  Gemeint  sind  dort 
vielmehr  nur  Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit 
als  einem  Sinnfragment  zukommend.  Im  Urteilssinn  gibt 
es  somit  neben  dem  vorschwebenden ,  mit  dem  Ja  behaf- 
teten positiven  und  mit  dem  Nicht  behafteten  negativen 
Sinn,  a.lso  neben  dem,  als  was  der  Sinn  gemeint  ist,  und 
neben  der  immanent  vorliegenden  Wahrheitsgemäßheit  oder 


—     190     — 

Wahrheitswidrigkeit  noch  die  vorliegende  Richtigkeit  oder 
Falschheit.  Es  ist  somit  nicht  nur  zwischen  immanent  vor- 
liegendem und  als  gemeint  vorschwebendem,  sondern  auch 
noch  zwischen  dem ,  was  innerhalb  des  letzteren  als  ge- 
meint vorschwebt ,  und  dem ,  was  in  ihm  ungemeint  bloß 
vorliegt,  zu  unterscheiden. 

Von  hier  aus  ist  nun  schließlich  auch  noch  zu  ver- 
stehen, daß  der  ganze  Prozeß  der  Auseinanderreißung  und 
der  Prädizierung  der  losgerissenen  Elemente  sich  noch 
weiter  fortzusetzen  vermag.  Es  kann  nämlich  nicht  nur 
das  Sinnfragment,  sondern  sogar  auch  das  vom  bejahenden 
oder  verneinenden  Urteil  ablösbare  Sinngefüge,  also  das 
Gefüge  des  Urteilssinnes  selbst,  bloß  „vorgestellt"  werden. 
Dann  wird  die  positive  oder  negative  Qualität  nicht  als 
dem  Sinnfragment  zukommend  gemeint ,  sondern  als  eine 
ihm  zukommend  gemeinte  Qualität  bloß  „vorgestellt".  Man 
„versteht"  dann ,  man  vergegenwärtigt  sich  den  Sinn  des 
Urteils,  aber  man  identifiziert  sich  nicht  mit  ihm,  man  ur- 
teilt nicht.  Auch  hier  vermag  sodann  auf  die  bloße  „Vor- 
stellung" die  Entscheidung  über  das  bloß  Vorgestellte 
nachzufolgen.  Aber  in  diesem  Falle  ist  das  bloß  Vorgestellte 
nicht  das  bisher  behandelte  Sinnfragment,  sondern  der  Sinn 
des  bejahenden  und  verneinenden  Urteils,  und  entschieden 
wird  über  Richtigkeit  und  Falschheit ,  nicht  über  Wahr- 
heitsgemäßheit und  Wahrheitswidrigkeit.  Ein  derartiger 
bloßer  Vorstellungsbestand  stellt  demnach  ein  Sinnfrag- 
ment zweiter  Ordnung,  das  sich  aus  dem  Sinnfragment  er- 
ster Ordnung  und  der  ihr  im  Ja  und  Nicht  zuerteilten 
Wertqualität  zusammensetzt,  ein  Sinnfragment  im  Verhält- 
nis zum  richtigen  und  falschen  Sinngefüge,  dar,  während 
die  bisher  stets  behandelte  „Vorstellungsbeziehung"  ein 
Sinnfragment  im  Verhältnis  zum  wahrheitsgemäßen  und 
wahrheitswidrigen  Sinn  war.     Das,  was  quasitranszendente 


—     191     — 

Richtigkeit  oder  Falschheit  hat,  wird  hierbei  wiederum  zu- 
nächst als  dieser  Wertqualität  noch  entbehrend  erlebt. 
Erst  eine  Entscheidung  über  ein  derartiges  Sinnfragment 
zweiter  Ordnung,  ein  solches  Entscheiden  über  bereits  ent- 
schiedenen Sinn,  darf  mit  Recht  als  ein  „Urteil  über  ein 
Urteil"  bezeichnet  werden,  nicht  aber,  wie  Sigwart  will, 
schon  die  einfache  Negation. 

Aus  der  vorangegangenen  Charakterisierung  der  Rich- 
tigkeits-  und  Falschheitsregion  geht  hinlänglich  hervor, 
daß  die  Subjektivität  in  der  zweiten  Etappe  dem  quasi- 
transzendenten Sinn  gegenüber  in  dieselben  Schranken  ein- 
geschlossen ist,  wie  in  der  ersten  Etappe  gegenüber  dem 
transzendenten  Sinn.  Wie  aber  ferner  dort  die  Unkenntnis 
des  transzendenten  Ineinanders  nur  zur  Zerstücklung  des 
transzendenten  Sinnes,  so  führt  auch  die  Unkenntnis  der 
angetasteten  Region  zu  nichts  weiterem  als  zu  einer  neuen 
Verselbständigung  von  Elementen ,  die  sich  durch  diese 
zweite  Auseinandergerissenheit  hindurch  wiederum  zu  einem 
Reich  quasitranszendenter  Beziehungen  zusammenschließen. 
Wie  nämlich  dort,  die  Lockerung  des  Bodens  einmal  vor- 
ausgesetzt, harmonische  und  disharmonische  Beziehungen 
der  Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit  be- 
stehen, genau  so  verhält  es  sich  hier  zum  zweiten  Mal: 
die  weitere  Zerspaltung  in  Sinnfragment  und  Wertqualität 
einmal  angenommen,  bestehen  wiederum  quasitranszendent 
zwischen  ihnen  die  harmonischen  und  disharmonischen  Rich- 
tigkeits-  und  Falschheitsbeziehungen.  Sie  gelten  ganz  un- 
abhängig vom  treffenden  und  irrenden  Verhalten,  und  die 
Urteilsentscheidung  besteht  in  nichts  anderem  als  im  Hab- 
haftwerden solcher  Richtigkeits-  und  Falschheitsgefüge,  im 
Herausgreifen  ihrer  aus  dem  neuentstandenen  quasitrans- 
zendenten Reich.  Die  eigentliche  Aktivität  ist  auch  hier 
mit  einer  Auflockerung,  nämlich  mit  der  Zerstücklung  der 


—     192     — 

primären  Objekte  beschlossen.  Auch  hier  ist  es  unstatt- 
haft —  so  sehr  sich  auch  solche  Anschauungsweise  zu- 
nächst aufdrängt  — ,  zu  sagen,  daß  der  falsche  Sinn  durch 
die  Verfehlung,  durch  die  Verkennung  des  immanent  Vor- 
liegenden angestiftet  wird.  Vielmehr  bestehen  die  Falsch- 
heitsgefüge  ebenso  unabhängig  vom  Verfehlen,  wie  die  Rich- 
tigkeitsgefüge  vom  Treffen,  und  das  ganze  Reich  der  Rich- 
tigkeit und  Falschheit  befindet  sich  in  Abhängigkeit  ledig- 
lich von  der  durch  die  Subjektivität  verschuldeten  Zer- 
stücklung der  primären  Objekte.  So  wenig  wie  für  das 
Bestehen  der  "Wahrheitswidrigkeit,  bildet  das  Verfehlen  die 
Voraussetzung  auch  nur  für  das  Bestehen  der  Falschheit. 
Es  bestünden  die  disharmonischen  Beziehungen  zwi- 
schen den  durch  die  Subjektivität  infolge  ihrer  Unkenntnis 
auseinandergerissenen  Elementen  (den  Sinnfragmenten  und 
der  Wertqualität),  auch  wenn  auf  die  anfängliche  Unkennt- 
nis als  Schlußakt  des  Erkennens  eine  unfehlbare  Entschei- 
dung folgte.  Die  Aktivität  des  Verfehlens  aber  erschöpft 
sich  darin,  daß  es  der  Subjektivität  dabei  passiert,  einzel- 
nen falschen  Sinn  aufzugreifen.  Denn  das  „Zuerteilen"  der 
WertquaUtät  ist  ja  nichts  anderes  als  das  Erfassen  eines 
quasitranszendenterweise  disharmonischen  Gefüges  zwischen 
dieser  Wertqualität  und  einem  Sinnfragment.  Das  Irren 
ist  genau  so  ein  Habhaftwerden  als  eines  an  sich  Bestehen- 
den wie  das  Treffen.  Was  das  Treffen  und  Verfehlen  auf- 
gegriffen und  erlangt  hat,  liegt  denn  auch  als  Richtigkeit 
und  Falschheit  des  Urteilssinnes  vor,  unabhängig  von  jedem 
Meinen  und  Dafürhalten ,  genau  so  unabhängig  wie  die 
Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit  des  primären 
Objekts.  FreiHch  ist  das  Irren  eine  irreduzible  Tatsache. 
Aber  es  ist  die  Veranlassung  nicht  für  das  Bestehen  der 
falschen  Sinngefüge,  sondern  lediglich  dafür,  daß  sie  über 
ihren    bereits    durch    die    Unkenntnis    allein    verschuldeten 


—     193     — 

quasitranszendenten  Bestand   hinaus  ins  Erleben  eingehen. 

Mit  all  dem  ist  nun  bereits  gesagt,  daß  es  genau  in 
demselben  Sinne  die  Absolutheit  und  Quasitranszendenz 
wie  des  wahrheitsgemäßen  und  wahrheitswidrigen  so  auch 
des  richtigen  und  falschen  Sinnes  gibt.  Absolut  ist  die 
Kluft  zwischen  Richtigkeit  und  Falschheit.  Es  bestehen  in 
zeitloser  Ewigkeit  die  Harmonien  und  Disharmonien  zwi- 
schen Sinnfragment  und  Wertqualität.  Wiederum  spielen 
sich  die  Beziehungen  des  Sinnes  zwischen  lauter  erhalten 
gebliebenen  Elementen  der  transzendenten  und  immanent- 
angetasteten Region  ab,  bloß  daß  nicht  nur  ein  einfaches, 
sondern  ein  zweifaches  isolierendes  Zubehauensein  ihnen 
zuteil  geworden  ist.  Es  ist  der  richtige  und  falsche  Sinn 
wieder  ablösbar  von  den  zeiterfüllenden  Akten,  und  wie- 
derum gilt:  was  meßbar  ist  an  Sinn,  muß  selbst  sinnartig 
sein. 

Es  kann  deshalb  keine  Rede  davon  sein,  daß  der  Irr- 
tum mit  bloß  psychischem  sinnfremdem  Erlebensbestand  zu- 
sammenfällt und  nicht  in  den  Bereich  logischer  Betrach- 
tung gehört.  Die  Unrichtigkeit  ist  genau  so  sinnartig  über- 
haupt wie  die  Richtigkeit ,  die  Richtigkeit  genau  so  ent- 
fernt vom  urbildlichen  Sinn  wie  die  Unrichtigkeit.  Es  gibt 
in  der  Tat  Falschheiten  an  sich  ebenso  wie  Richtigkeiten 
an  sich,  „ewige  Unwahrheiten"  (Palagyi)  wie  „ewige  Wahr- 
heiten". Wenn  man,  wie  in  dieser  Abhandlung  geschieht, 
die  Künstlichkeit  sich  möglichst  weit  herauf  in  der  Region 
des  Sinnes  erstrecken  läßt,  so  ist  die  Kehrseite  davon,  daß 
die  Sinnartigkeit  überhaupt  möglichst  tief  nach  unten  aus- 
gedehnt wird. 

Mit  dem  von  den  Akten  der  Urteilsentscheidung  ab- 
lösbaren richtigen  und  falschen  Sinn  ist  endlich  der  „Sinn 
des  Satzes"  und  „des  Urteils",  also  das,  was  stets  als  Pro- 
totyp des  Sinnes,  der  theoretischen    Gültigkeit,    der  theo- 

Lask.  Lehre  vom  Urteil.  lt> 


—     194     — 

!  retischen  Wertigkeit  und  Unwertigkeit  gegolten  hat,  er- 
reicht. Es  fällt  auch  mit  den  "Wahrheiten  und  Falsch- 
heiten an  sich  Bolzanos.  mit  den  idealen  ürteilsinhalten 
oder  Aussagebedeutungen  Husserls  zusammen.  Die  Koor- 
dinierung aber  von  „Wahrheiten"  und  „Falschheiten  an 
sich",  gerade  diese  häufig  bestrittene  Position  Bolzanos 
und  Husserls  ^  hat  ihre  tiefe  Berechtigung.  — 

In  der  Lehre  vom  Urteilssinn  gilt  es ,  die  Einsicht, 
daß  es  neben  den  gegensatzlosen  und  gegensätzlichen  Gel- 
tungs-  und  Wertphänomenen  transzendenter  und  quasitrans- 
zendenter Weise  keinerlei  geltungs-  und  wertindifferente  bloß 
„vorstellungsmäßige''  logische  Gebilde  gibt,  noch  in  einer 
anderen  Hinsicht  zu  befestigen.  Sie  muß  sich  jetzt  an  den 
einzelnen  Bestandteilen  der  geltungsartigen  Ganzheiten  be- 
währen. Es  läßt  sich  zeigen,  daß  die  zusammengesetzten 
Glieder,  die  sog.  .,Begriffe"  als  Bestandteile  des  Urteils,, 
sich  in  bezug  auf  Geltungs-  und  Wertartigkeit  garnicht  von 

/  den  Urteilsgefügen  unterscheiden.  Dieser  Sachverhalt  er- 
gibt sich  jetzt  als  eine  einfache  Konsequenz  der  im  er- 
sten  Kapitel    vorgenommenen    Isivellierung    von    „Begriff" 

I      und  „Urteil". 

Zu  diesem  Zwecke  brauchen  bloß  die  für  die  Objekts- 
gefüge  der  Urteilsentscheidung  gewonnenen  Unterscheidun- 
gen auf  die  Begriffe  übertragen  zu  werden.  Da  ist  vor 
allem  auseinanderzuhalten,  was  der  Gemeintheit  und  was 
dem  quasitranszendenten  Ansich  nach  in  den  Begriffen 
enthalten  ist.  Der  bloßen  Gemeintheit  nach  repräsentieren 
nämlich  die  Begriffe  in  ihrer  Isoliertheit,  aus  dem  Satz- 
gefüge herausgerissen,  als  aveu  'j'j[ir,Aoy.y^c,  XsyoiJLEva,  einen 
bloßen  Niederschlag  zusammengedrängter  bloßer  „Vorstel- 
lungsbeziehungen".     Lediglich   die   erste    Etappe    der  Sub- 


'  Vgl.  P  a  1  a  g  y  i ,    Kant  u.  Bolzano,    Bergmann,    D.  philos. 
Werk  B.  Bolzanos,  12  ff. 


—     195     — 

jektsaktivität  ist  dann  in  ihnen  niedergelegt.  Die  Begriffe, 
als  aveu  a\)imlov.y]c,  Xsyojxeva,  können  deshalb,  wie  von  Ari- 
stoteles bis  zur  Gegenwart  einmütig  gelehrt  wird ,  weder 
richtig  noch  falsch  sein,  freilich  nicht,  weil  sie  Elemente, 
sondern  weil  sie  wertberaubte  Gefüge  darstellen.  Richtig- 
keit und  Falschheit  kommen  erst  im  Urteil  hinzu.  Aber  im 
Urteilsgefüge  wird  mit  der  Entscheidung  über  das  dort  im 
Vordergrund  stehende,  also  über  das  im  Einzelfall  aktuell  ge- 
meinte Sinnfragment,  implicite  auch  über  die  im  Zustande 
begrifflicher  Niedergelegtheit  befindlichen  Nebenkopulations- 
gefüge,  also  über  die  bereits  immanent  gewordenen  und  als 
herausgegriffen  fixierten  Sinnfragmente  ,  mit  entschieden. 
In  dem  Urteil  „insektenfressende  Pflanzen  kommen  in  Eu- 
ropa vor",  wird  nicht  nur  das  Vorkommen  dieser  Pflanzen 
in  Europa,  sondern  implicite  auch  das  Sinnfragment  „in- 
sektenfressende Pflanzen"  selbst  als  ein  wahrheitsgemäßes 
hingestellt,  sodaß  im  ganzen  Urteil  das  Nebenurteil  „es  gibt 
insektenfressende  Pflanzen"  oder  „einige  Pflanzen  fressen 
Insekten"  eingeschlossen  liegt,  ein  Urteil,  das  nun  wiederum 
richtig  oder  falsch  sein  kann.  So  wird  im  Kausalurteil 
über  Dinggefüge  mitentschieden  usw.  Kurz,  die  nicht  mehr 
isoliert  auftretenden,  sondern  in  einem  von  der  Urteilsent- 
scheidung bereits  ergriffenen  Objektsgefüge  stehenden  Be- 
griffe bedeuten  viel  mehr  als  die  Begriffe  in  ihrer  Verselb- 
ständigung; sie  sind  dem  Sinne  nach  Urteilsgefügen  äqui- 
valent, und  es  ist  lediglich  eine  Angelegenheit  des  erken- 
nenden Herausgreifens,  daß  sie  im  Einzelfall  zur  Rolle  der 
Begriffsstellung  im  Rahmen  eines  Urteilsgefüges  herabge- 
drückt sind^ 


^  Damit  ist  aber  keineswegs  gesagt,  daß  alle  Worte  als  Satzbe- 
standteile gleichmäßig  , Begriffe"  in  diesem  Sinne  bedeuten.  Einzelne 
Worte  können  der  sprachliche  Ausdruck  z.  B.  auch  für  kategoriale 
Formen  oder  für  die  positive  und  negative  Wertqualität  sein. 

13* 


—     196     — 

Charakterisieren  sich  somit  die  isolierten  Begriffe  als 
Niederschlag  von  Sinnfragmenten,  so  ist  wiederum  einzu- 
sehen, daß  sie  nichtsdestoweniger  der  Quasitranszendenz 
nach  wahrheitsgemäß  oder  wahrheitswidrig  sind.  Es  ist 
ganz  zutreffend,  daß  das  Begriff sgefüge  „insektenfressende 
Pflanzen"  oder  „viereckiger  Zirkel"  weder  richtig  noch 
falsch  ist.  Denn  um  Richtigkeit  oder  Falschheit  zu  be- 
kommen, muß  freiUch  erst  abgewartet  werden,  wie  sich  das 
Urteil  dazu  stellt,  ob  es  das  erste  Gefüge  richtig  bejaht, 
das  zweite  richtig  verneint.  Trotzdem  bilden  diese  Gefüge 
als  bloße  „Vorstellungsbeziehungen"  die  Unterlage  für  einen 
unabhängig  von  der  Entscheidung  immanent  vorliegenden 
Wert  oder  Unwert,  die  erste  für  eine  Wahrheitsgemäßheit, 
die  zweite  für  eine  Wahrheits Widrigkeit.  Das  leuchtet  auch 
unmittelbar  ein.  Aber  um  es  zu  begreifen  ,  dazu  ist  er- 
forderlich, neben  dem  Gegensatzpaar  von  Richtigkeit  und 
Falschheit  ein  davon  unabhängiges  zweites,  das  von  Wahr- 
heitsgemäßheit und  Wahrheitswidrigkeit,  anzuerkennen.  Erst 
dann  befreit  man  sich  von  dem  Dogma,  daß  es  Wert  und 
Unwert  nur  da  gibt,  wo  „geurteilt"  wird. 

Es  besteht  somit  in  bezug  auf  Geltungs-  und  Wert- 
artigkeit gar  kein  Unterschied  zwischen  den  einzelnen  Be- 
griffen und  den  ganzen  Objektsgefügen  der  Urteilsentschei- 
dung. Jene  sind  ebenso  wie  diese  als  „Materie"  der  Ur- 
teilsentscheidung bloße  Vorstellungsbeziehungen,  als  primäre 
Objekte  der  Quasitranszendenz  nach  dennoch  wahrheitsge- 
mäß oder  wahrheitswidrig ,  innerhalb  des  Urteilssinnes 
richtig  oder  falsch.  Die  ganze  Lehre  von  dem  Unterschied 
der  „Vorstellungen  an  sich"  von  den  „Sätzen  an  sich"  und 
den  Urteilen,  von  den  einzelnen  Satzbestandteilen  als  bloßen, 
der  Wertgegensätzlichkeit  nicht  unterliegenden  „Bedeutun- 
gen" im  Unterschied  zur  Geltungs-  und  Wertartigkeit  der 


—     197     — 

Sätze S  wird  hinfällig,  wenn  mit  der  bloß  psychologisch- 
grammatischen Relevanz  des  Unterschieds  von  „Begriff" 
und  „Urteil"  ernst  gemacht  wird  ".  Die  Begriffe  reprä- 
sentieren im  Unterschiede  zum  Satz  oder  Urteil  lediglich 
die  im  Einzelfall  im  Hintergrund  stehenden  Gefüge,  deren 
Geltungs-  und  Wertartigkeit  von  der  des  Hauptgefüges 
bloß  überstrahlt  wird,  wodurch  der  Anschein  entsteht, 
als  baue  sich  dieses  auf  ihnen  als  auf  bloß  wertindifferen- 
ten Bestandteilen  auf.  Allein  die  eigentlichen  Elemente 
des  im  Mittelpunkt  stehenden  Hauptgefüges  sind  ja  Kate- 
gorie und  Kategorienmaterial,  und  die  Begriffe  spielen  nicht 
die  Rolle  von  Bestandteilen,  sondern  von  sich  eingliedern- 
den, dem  Sinne  nach  dem  Urteilsgefüge  ebenbürtigen  Ne- 
bengefügen.  So  läßt  sich  alles  auf  kategoriale  Formen, 
Sinnganzheiten  und  Sinnfragmente  zurückführen ,  und  es 
gibt  daneben  nicht  als  etwas  Andersartiges  die  bloß  be- 
grifflichen „Bedeutungen".  — 

Das  doppelte  Maßstabsverhältnis  zwischen  den  Regio- 
nen des  dreifach  abgestuften  Sinnes  läßt  sich  auch  als  ein 
doppeltes  Normationsverhältnis  ansehen.  Wie  nämlich  der 
Sinn  im  Verhältnis  zu  dem  an  ihm  meßbaren  gegensätzlich 
geteilten  Sinn  zum  relativ  gegensatzlosen  Maßstab  wird,  so 
wird  er  zur  „Norm"  im  Verhältnis  zu  dem  gegensätzlich 
gespaltenen  Verhalten,  das  dem  gemessenen  Sinn  als 
Subjektskorrelat  entspricht.  Denn  in  Norm  oder  Forderung 
liegt  außer  der  Bedeutung  des  Maßstabs  noch  der  Hinweis 
auf  einen  Adressaten  der  Norm  und  d.  h.  auf  ein  Ver- 
halten, das  sich  nach  der  Norm  zu  richten  hat.  Norm  ist 
das  an  die  Adresse  der  Subjektivität  Gerichtete,  ist  Richt- 


1  Lotze,  Log.,  521,  Rickert,  Zwei  Wege,  33  ff. 

^  Freilich  bedürfte  diese  Behauptung  einer  eingehenderen  Aus- 
einandersetzung, insbesondere  mit  Rücksicht  auf  H  u  s  s  e  r  1 ,  Log. 
Unters.  II,  Abschn.  V,  3.-5.  Kap. 


—     198     — 

punkt  für  die  Subjektivität.  Dem  Fordern  und  der  Norm 
entspricht  das  Gehorchen,  das  Erfüllen,  das  in  der  Region 
der  Gegensätzlichkeit  ein  Befolgen  oder  Uebertreten  sein 
kann.  Da  nun  jedes  tatsächliche  Erkennen  ein  durch  die 
Unkenntnis  und  die  Unterwühlung  des  transzendenten  Ur- 
bilds hindurchgegangenes  und  darum  gegensätzlich  gespal- 
tenes ist,  so  pflegt  sich  mit  dem  Forderungscharakter  die 
Bezogenheit  auf  die  der  Norm  zuteil  werdende  gegensätz- 
liche Stellungnahme,  auf  das  Treffen  und  Verfehlen,  ohne 
weiteres  zu  verbinden.  In  die  selbst  gegensatzlose  Norm 
wird  das  Hinblicken  auf  eine  nicht  gegensatzlose,  sondern 
gegensätzlich  gespaltene  Subjektivität  hineingetragen.  Da- 
durch wird  es  möglich,  der  gegensatzlosen  Norm  ein  gegen- 
sätzlich gerichtetes  Bedeutungsmoment  anzuhängen.  Die 
Norm  kann  in  ihrem  Zugekehrtsein  nach  der  einen  wie 
nach  der  andern  Richtung  betrachtet  und  dadurch  in  ein 
Gebieten  nach  der  einen  und  ein  Verbieten  nach  der  an- 
dern Seite  hin  zerlegt  werden.  Aber  das  gegensatzlose 
Fordern  ist  es,  was  sich  hier  in  ein  Gebieten  und  Verbieten 
spaltet.  Denn  —  um  im  Bilde  zu  bleiben  —  erlassen 
werden  Gebot  und  Verbot  an  die  entgegengesetzten  Adres- 
sen vom  selben  Ausgangspunkt  aus. 

Es  ist  aber  keineswegs  unerläßlich,  sondern  nur  eine 
der  allzugroßen  Vertrautheit  mit  der  gegensätzlichen  Re- 
gion entstammende  Gewohnheit,  den  Normgedanken  mit 
der  Bezogenheit  auf  die  Gegensätzlichkeit  zu  verknüpfen. 
Es  springt  vielmehr  der  Forderungscharakter  bereits  hervor, 
wenn  das  transzendente  Gelten  lediglich  auf  die  bloß  emp- 
fangende, aber  nicht  gegensätzlich  gespaltene  Subjektivität 
bezogen  gedacht  wird.  Es  bedarf  für  den  Normbegriff  gar- 
nicht  des  Hintergedankens  an  die  fortwährend  vom  Unwert 
des  Verfehlens  bedrohte  Subjektivität.  Es  genügt  für  ihn 
schon  völlig,  dem  Sinn  die  Subjektivität  überhaupt  als  die 


; 


—     199     — 

bloße  Empfängerin  und  Realisierungsstätte  gegenüberstehend 
zu  denken.  Die  Normativität  des  Sinnes  springt  nämlich 
schon  durch  seine  Bezogenheit  auf  die  Aktivität  eines  Sub- 
jektverhaltens überhaupt,  durch  den  Hinblick  auf  eine 
Adresse  überhaupt,  auf  die  bloße  ihm  eine  Stätte  gewäh- 
rende Subjektivität,  heraus.  Das  Fordern  bedeutet  ledig- 
lich die  Erforderlichkeit  für  eine  sich  dem  Sinn  möglicher- 
weise hingebende  Subjektivität,  ist  also  nur  eine  durch  den 
begleitenden  Nebengedanken  an  ein  Verhalten  überhaupt 
bedingte  Nuance  des  transzendenten  Wertes^.  Für  die 
besondere  Färbung  der  Normativität  genügt  eben  —  so 
läßt  sich  das  Vorangegangene  zusammenfassen  —  das  Kon- 
frontieren des  Sinnes  mit  der  Tatsächlichkeit  des  Erlebens, 
über  die  Kluft  hinweg,  die  zwischen  Sinn  und  tatsächlichem 
Substrat  besteht,  der  Hinblick  auf  das  Sinnfremde  des  Er- 
lebnisses, in  das  einzugehen  dem  Sinn  dennoch  gestattet 
ist.  Nicht  die  Uebertretbarkeit,  d.  h.  die  gegenüberliegende 
Möglichkeit  gegensätzlichen  Verhaltens,  sondern  die  Eeali- 
sierbarkeit  überhaupt,  nicht  die  Bezogenheit  auf  die  Gegen- 
sätzlichkeit, sondern  auf  die  Geltungsfremdheit  des  tatsäch- 
lichen Erlebens,  ruft  den  Normcharakter  am  transzendenten 
Sinn  hervor. 

Es  kommt  somit  darauf  an,  auch  dieses  Derivativum 
des  Geltungsbegriffs,  die  Norm  oder  das  Fordern,  von  sei- 
ner Verschlingung  mit  der  Gegensätzlichkeit  loszulösen. 
Die  letzte  Kluft  ist  nicht  die  zwischen  der  Norm  auf  der 
einen  unoB^olgung  wie  Uebertretung  auf  der  andern  Seite, 
sondern  zwischen  dem  Geltungsartigen  überhaupt,  das  pri- 
mär gegensatzlos  ist,  jenseits  der  Gegensätze  steht,  auf  der 
einen  und  dem  Geltungsfremd-Seienden  der  Erlebenstat- 
sächlichkeit,    das   zugleich  wert-  und  unwert-,   also    gegen- 

^  Vgl.   meinen   Vortrag   üb.    d.  Primat   d.   prakt.  Vernunft  i.    d. 
Logik:    Ber.  üb.  d.  III.  intern.  Kongr.  f.  Philos.    zu  Heidelberg,    675. 


U^ 


—     200     — 

satzfremd  ist,  diesseits  der  Gegensätze  steht,  auf  der  andern 
Seite. 

Endlich  ist  noch  zu  beachten,  daß  die  Relativität  der 
Gegensatzlosigkeit  für  die  Norm  genau  so  gilt  wie  für  den 
Maßstab.  Die  gegensätzliche  Wahrheitsgemäßheit  und  Wahr- 
heitswidrigkeit ist  gegensatzlose  Xorm  der  Richtigkeit  und 
Falschheit.  Aber  auch  die  Wahrheitsgemäßheit  allein  kann 
man  als  Norm  über  dem  treffenden  und  verfehlenden  Sub- 
jektsverhalten, freilich  als  eine  bloße  Bejahungsnorm,  auf- 
stellen. Schließlich  braucht  aber  die  Norm  nicht  einmal 
relativ  gegensatzlos  im  Verhältnis  zu  dem  zu  sein,  was 
normiert  werden  soll.  Wie  denn  auch  zu  allen  Zeiten  der 
positive  Wert  als  seine  eigene  und  als  Norm  des  Unwerts 
angesehen  worden  ist.  So  kann  die  positive  Richtigkeits- 
norm sehr  wohl  als  an  das  treffende  und  verfehlende  Er- 
kenntnisverhalten ergehend,  als  gebietende  und  verbietende 
Forderung,  gedacht  werden.  Auch  im  letzteren  Falle  steht 
einer  ein  heitlichen  Norm  eine  zwei  heitliche  Befolgung 
gegenüber,  wird  an  der  Einen  Norm  die  Gegensätzlichkeit 
eines  Verhaltens  gemessen.  Auch  dieser  Norm  kommt  Ab- 
solutheit und  Quasitranszendenz  zu.  Und  doch  wird  der 
Gedanke  der  Gegensatzlosigkeit  damit  noch  garnicht  erreicht. 
Wie  ja  auch  die  Gegenüberstellung  von  Norm  auf  der  einen, 
Normgemäßheit  und  Normwidrigkeit  auf  der  andern  Seite, 
also  die  ganze  Normtheorie,  niemals  zum  Begriff  der  Ge- 
gensatzlosigkeit zu  führen  braucht  (vgl.  auch  ob.  S.  152 
u.  155).  — 

Die  Berücksichtigung  der  verschiedenen  Rollen,  die 
die  Subjektivität  dem  Sinn  gegenüber  zu  spielen  vermag, 
ermöglicht  jetzt  einen  Ueberblick  über  die  Gesamtheit  des 
erkennenden  Verhaltens.  In  Anbetracht  der  Lehre  vom 
immanenten  Sinn  leuchtet  zunächst  ein,  daß  die  Einteilung 
in  die  durch  den  Sinn    bestimmten   und   in    die   durch  die 


—     201     — 

Subjektivität  selbst  erzeugten  Verschiedenheiten  des  Sub- 
jektsverhaltens nicht  ausreicht.  Hat  sich  doch  ergeben, 
daß  es  solche  Unterschiede  des  Subjektverhaltens  gibt,  die 
zwar  einerseits  garnicht  bloßes  Korrelat  eines  von  der  Sub- 
jektivität unabhängigen  Sinnes  sind,  die  vielmehr  s.  s.  z. 
der  Initiative  der  Subjektivität  entspringen,  für  die  aber 
die  Subjektsaktivität  dennoch  nur  so  die  Voraussetzung 
schafft,  daß  sie  doch  wiederum  zu  einem  bloßen  Subjekts- 
korrelat gegenüber  der  von  ihr  selbst  angestifteten  Region 
des  Sinnes  wird.  Von  solcher  Art  erwiesen  sich  die  Unter- 
schiede der  Urteilsqualität,  des  Bejahens  und  Verneinens, 
und  die  Unterschiede  des  Treffens  und  Verfehlens. 

Es  gibt  aber  endlich  in  der  Tat  auch  solche  Verschie- 
denheiten des  Subjektsverhaltens,  denen  Unterschiede  des 
Sinnes  in  keiner  Weise  entsprechen,  die  eine  Vielheit  sub- 
jektiven Verhaltens  darstellen  bei  Gleichheit  des  Sinnes. 
Hier  muß  das  principium  divisionis  ausschließlich  auf  selten 
der  Subjektivität  stehen,  da  ja  der  Sinn  in  diesem  Fall 
eine  Konstante  bildet.  Die  Differenzierung  wird  hier  da- 
durch allein  bewirkt,  daß  dem  gleichen  Sinn  sich  ein  va- 
riierender Erlebensbestand  gegenüberbefindet.  Auch  bei  die- 
sen rein  der  Variabilität  des  Erlebens  verdankten  Subjekts- 
unterschiedlichkeiten kommt  freiHch  für  die  Logik  nicht 
ein  bloßer  mannigfacher  bedeutungsfremder  psychischer  Be- 
stand als  solcher,  sondern  dieser  Bestand  in  seiner  Zuge- 
kehrtheit  zu  und  Bekümmertheit  um  Sinn  in  Betracht. 

Es  kann  nun  das  auf  das  bloße  Herstellen  der  „Vor- 
stellungsbeziehung" folgende  und  das  Erkennen  abschließende 
Stellungnehmen  zur  Wertqualität  ein  unentschiedenes  oder 
ein  sich  entscheidendes  Verhalten  sein,  und  je  nachdem 
gehört  es  dem  Bereich  der  Subjektskorrelate  von  objektivem 
Sinn  oder  der  bloßen  Subjektivitätsunterschiede  an.  Aus- 
schließlich bei    dem  sich  entscheidenden  Verhalten  kommt 


—     202     — 

es  nämlich  zur  Abgeschlossenheit  eines  dem  Verhalten  vor- 
schwebenden und  von  ihm  ablösbaren  Sinnes.  Daraus  geht 
hervor,  daß  gerade  das  sich  entscheidende  Verhalten,  also 
Bejahen  und  Verneinen,  den  Typus  der  Subjektskorrelate 
aufweisen  muß.  Aber  aus  dem  Begriff  des  Sinnes  folgt 
ferner  sogleich,  daß  es  neben  Bejahen  und  Verneinen  keine 
dritte  Urteüsqualität  geben  kann,  so  wahr  alle  Gegensätz- 
lichkeit eine  zweigliedrige  Disjunktion,  nämlich  die  von 
positivem  Wert  und  Unwert,  darstellt.  Richtet  sich  die 
Urteilsqualität  nach  der  Wertqualität  vorschwebenden  Sin- 
nes, so  gibt  es  nur  zwei  Arten  der  Qualität.  Es  empfiehlt 
sich  darum  auch,  nur  das  zur  Entscheidung  über  die  dem 
Sinnfragment  zuzuerteilende  Wahrheitsgemäßheit  oder  Wahr- 
heitswidrigkeit gelangende  Verhalten,  weil  es  nur  in  ihm 
zur  Ganzheit  eines  gemeinten  Sinnes  kommt,  als  „Urteilen" 
auszuzeichnen,  nur  das  Verhalten  somit,  das  dementspre- 
chend Richtigkeit  und  Falschheit  mit  sich  zu  bringen  ver- 
mag, oder  nur  das,  was  —  wie  seit  Aristoteles  mit  Recht 
gelehrt  wird  —  „wahr"  und  „falsch"  sein  kann.  Unter 
diesem  Gesichtspunkt  der  Trägerschaft  ablösbaren  Sinnes 
läßt  sich  weder  die  Frage  noch  das  problematische  Ver- 
halten („problematisches  Urteil"  bei  Windelband)  der  Be- 
jahung und  Verneinung  koordinieren,  und  es  folgt  daraus 
der  Satz  von  der  ausgeschlossenen  dritten  Qualität  des 
Urteils. 

Es  zeigt  sich  nämlich  auf  der  andern  Seite,  daß  neben 
Bejahung  und  Verneinung  alles  übrige,  auf  die  erste  rein 
„vorstellungsmäßige"  Etappe  der  theoretischen  Subjektivität 
folgende,  also  irgendwie  zur  Wertqualität  stellungnehmende 
Verhalten  bereits  jener  prinzipiell  anderen  Region  der  Sub- 
jektivität angehört,  bei  der  es  sich  um  reine  Subjektsunter- 
schiede handelt. 

Was  zunächst  die  Frage  anlangt,  so  ist  ersichtlich,  daß 


—     203     — 

sie  der  Bejahung  und  Verneinung  nicht  koordiniert  werden 
kann.  Zwar  sind  Bejahung,  Verneinung  und  Frage  drei 
verschiedene  Verhaltungsarten  zum  „selben"  Sinnfragment. 
Danach  könnte  es  auf  den  ersten  Anblick  so  aussehen,  als 
sei  bei  der  Gleichheit  des  objektiven  Bestandes  die  Diffe- 
renzierung allein  durch  die  Subjektivität  bewirkt.  Allein 
es  hat  sich  ja  vorher  herausgestellt,  daß  der  Unterschied 
von  Bejahen  und  Verneinen  mit  der  Gegensätzlichkeit  eines 
dabei  vorschwebenden  Sinnes  als  eines  ablösbaren  Ob- 
jektes verbunden  ist.  Denn  gerade  die  Wertqualität  stellt 
ja  ein  Moment  des  Sinnes  und  nicht  der  Subjektivität 
dar.  Der  Unterschied  von  Bejahen  und  Verneinen  bestimmt 
sich  somit  keineswegs  etwa  durch  die  bloße  Subjektivität 
des  Verhaltens  bei  Gleichheit  des  Objektes.  Dagegen  die 
Frage  spezifiziert  sich  als  ein  Drittes  neben  Bejahen  und 
Verneinen  nicht  durch  das  Auftreten  irgend  einer  neuen 
Qualität  des  als  Objekt  ablösbaren  Sinnes.  Vielmehr  bildet 
hier  das  subjektive  Verlangen  nach  Entscheidung  einzig 
und  allein  das  differenzierende  Moment. 

Für  das  problematische  Verhalten  aber  ist  entscheidend, 
daß  es  als  Nullpunkt  in  einer  graduierbaren,  von  diesem 
Nullpunkt  an  aufsteigenden  und  absteigenden  Reihe  gefaßt 
werden  muß.  Man  vergegenwärtigt  sich  aber  die  reinen 
Subjektsunterschiede  gerade  am  besten  durch  Hinblick  auf  die 
Gradunterschiede  der  Gewißheit,  in  denen  das  problemati- 
sche Verhalten  die  besondere  Stellung  der  Indifferenz  ein- 
nimmt. Allerdings  ist  auch  mit  der  Gewißheit  zweifellos 
kein  sinnunbekümmerter  Erlebensbestand  bloß  als  solcher, 
sondern  ein  der  theoretischen  Wertqualität  zugewandtes 
„Gefühl"    gemeinte     Es   läßt   sich   sogar  ausmachen,    daß 


^  Es  ist  hier  jedoch  ausdrücklich  nicht  von  Evidenz  die  Rede, 
die  vielmehr  als  ein  bloßes  Subjektskorrelat  objektiver  Rationalität 
des  Sinnes  gefaßt  werden  kann. 


—     204     — 

"Wahrheitsgemäßheit  und  Wahrheitswidrigkeit  wie  Bejahung 
und  Verneinung  fordernd,  so  auch  Gewißheit  heischend 
sind.  Es  bestehen  ferner  zweifellose  Beziehungen  zwischen 
Gewißheit  und  Urteilsentscheidung,  ürteilsentscheidung  ist 
mit  Gewißheit  verbunden,  bei  der  Nichtentscheidung  fehlt 
sie.  Trotzdem  liegt  die  Gewißheit  in  einer  ganz  anderen 
Schicht  der  Subjektivität  als  die  beiden  Subjektskorrelate 
Bejahung  und  Verneinung.  Das  erhellt  einfach  daraus,  daß 
es  demselben  immanent-gemeinten  und  vorschwebenden 
Sinngefüge  gegenüber,  dem  nur  das  ungraduierbare  einfache 
Bejahen  und  Verneinen  entspricht,  eine  unendliche  Abstuf- 
barkeit  der  Gewißheit  gibt^  Da  hier  also  der  Fall  ein- 
tritt, daß  verschiedenerlei  Subjektsverhalten  bei  Gleichheit 
des  objektiven  Sinnes  vorliegt,  so  können  die  Gradunter- 
schiede der  Gewißheit  allein  auf  Rechnung  der  Erlebens- 
seite kommen.  Es  gibt  mehr  oder  weniger  gewisse  Be- 
jahungen oder  Verneinungen  desselben  Objekts.  Dasselbe 
gilt  für  die  verschiedenen  Ungewißheitsgrade  beim  unent- 
schiedenen Verhalten  zum  Sinnfragment,  wobei  gleichfalls 
objektiv  das  Gleiche  vorliegt,  nämlich  das  Sinnfragment 
und  die  beiden  rivalisierenden  Wertqualitäten,  von  denen 
keine  herausgegriffen  und  herausgemeint  wird.  Bejahung 
und  Verneinung  sind  als  bloße  Subjektskorrelate  objektiven 
Sinnes  so  ungraduierbar  wie  der  Sinn  selbst,  wie  theoreti- 
scher Wert  und  Unwert,  wie  Positivität  und  Negativität. 
In  den  Subjektsphänomenen  abstufbarer  Gewißheit  und 
Ungewißheit  jedoch  ist  ein  Erlebensbestand  von  kontinuier- 
licher Gradabstufung  hineingenommen.  Schon  die  Konti- 
nuierlichkeit des  Intensitätsgrades  ist  ein  Symptom  dafür, 
daß  diese  Variabilität  nicht  vom  Sinn,  sondern  nur  vom 
Erlebensbestand  herrühren  kann.  Denn  kontinuierliche  In- 
tensitätsabstufung gibt  es  nur  in  der  Sphäre  des  Sinnlichen, 
>  Vgl.  Windel  1)  and,  Beitr.  z.  Lelire  v.  ne^'.  Urt.,  18ü  f. 


—     205     — 

aber  nicht  in  der  des  Sinnes  und  des  Wertes.  Gewißheit, 
dieses  Graduierbare,  tritt  deshalb  als  etwas  Andersartiges 
stets  zu  Bejahung  und  Verneinung,  diesem  Ungraduierbaren, 
hinzu  und  liegt  in  einer  ganz  anderen  Schicht  der  Subjek- 
tivität, in  einer  Schicht,  der  auch  das  problematische  Ver- 
halten angehören  muß. 

Auf  die  Konsequenzen,  die  sich  daraus  für  die  Lehre 
von  der  Frage,  vom  problematischen  Verhalten  und  von 
den  Unterschieden  der  „Modalität"  ergeben,  soll  hier  je- 
doch nicht  eingegangen  werden. 

Soviel  aber  wird  schon  hier  ohne  weiteres  ersichtlich, 
daß  alle  sog.  Einteilungen  der  Urteile  und  alle  Urteilstafeln 
ihre  Einteilungsprinzipien  aus  allen  möglichen  Regionen 
der  Subjektivität  und  des  Sinnes  herholen  und  sie  unbe- 
kümmert um  ihren  ganz  verschiedenen  logischen  Ort  neben- 
einander aufführen.  Die  einzige  im  Spezifikum  der  Urteils- 
region heimische  Einteilung  ist  die  nach  der  Qualität.  Alle 
übrigen  Einteilungen  betreffen  irgendwie  in  die  Urteils- 
region von  auswärts  hineinragende  Momente,  solche  des 
kategorialen  Formgehalts  wie  der  bloßen  Subjektivität.  In 
die  Lehre  von  der  Modalität  spielen  bloße  Subjektsunter- 
schiede hinein.  Bei  den  Arten  der  Quantität  und  der  Re- 
lation handelt  es  sich  teils  um  kategorialen  Formgehalt, 
teils  um  Strukturrelationen  der  „formalen  Wahrheit".  Was 
alles  im  Kapitel  des  Urteils  abgehandelt  wird,  stellt  somit 
garnicht  irgendetwas  Einheitliches  dar,  das  es  rechtfertigt, 
es  einem  bestimmten  Abschnitt  der  Logik  zuzuweisen. 

Da  vom  Standpunkt  der  doppelten  Auseinanderreißung 
aus,  der  für  die  Urteilsregion  maßgebend  ist,  das  der  gegen- 
sätzlichen Wertqualität  und  damit  des  Wertes  noch  beraubte 
Sinnfragment  das  „Objekt"  der  bejahenden  und  verneinen- 
den Entscheidung  bildet,  die  Wertqualität  erst  mit  dem 
entscheidenden  Verhalten  herzugebracht  wird,  so  lassen  sich 


—     206     — 

unter  diesen  Voraussetzungen  der  Urteilstheorie  die  Unter- 
schiede nach  der  Qualität  und  nach  der  kategorialen  Rela- 
tion als  Einteilungen  nach  dem  subjektiven  Stellungnehmen 
und  nach  der  Verschiedenheit  des  Urteilsobjekts  charak- 
terisieren^. Wobei  jedoch  eben  nicht  zu  vergessen  ist,  daß 
die  Einteilung  nach  der  Qualität  in  Wahrheit  nicht  eine 
bloße  Scheidung  des  Verhaltens,  sondern  zugleich  des  "Wer- 
tes und  des  Sinnes  ist,  und  sodann,  daß  das  „vorstellungs- 
mäßige" Objekt  nur  infolge  gesteigerter  Künstlichkeit  seines 
Wertcharakters  beraubt  erscheint. 


Die  Lehre  von  der  Urteilsgegensätzlichkeit  —  darauf 
soll  hier  zum  Schluß  lediglich  hingedeutet  werden  —  weist 
auf  umfassendere  Aufgaben  der  gesamten  philosophischen 
Wertlehre  hin.  Es  dreht  sich  dabei  um  den  Ursprung  der 
Wertgegensätzlichkeit  überhaupt.  Er  wird  verschieden  er- 
klärt werden  müssen  für  solche  Wertgebiete  wie  das  theo- 
retische und  das  ästhetische,  auf  denen  es  immanente,  aber 
transsubjektive,  von  den  Subjektsakten  loslösbare,  gegen- 
sätzlich gespaltene  Sinngebilde  gibt,  und  für  solche  Wert- 
gebiete wie  das  ethische,  bei  denen  gerade  auch  die  Spal- 
tung in  die  Gegensätze  ganz  und  ausschließlich  auf  Rech- 
nung des  Subjektsverhaltens  kommt.  Sodann  wird  die  Frage 
aufzuwerfen  sein,  ob  auch  auf  ästhetischem  Gebiet  den 
positivwertigen  und  unwertigen  Gebilden  ein  übergegensätz- 
liches Urbild,  dem  Geschaffenen  ein  Ungeschaffenes,  gegen- 
übersteht. Für  die  Logik  besteht  jedenfalls  das  Geheimnis 
der  Wertgegensätzlichkeit  darin,  daß  aus  der  Berührung 
der  übergegensätzlichen  transzendenten  Wertregion  und  der 
für  sich  untergegensätzlich-wertfremden  sinnlichen  Tatsäch- 
lichkeit  (1.-   Krlclii  II-         (leim  (l,i>  Uilcben   als   solches  ist 

C\  '  Vgl.  Windel  band,    Beitr.    z.    h.   v.    neg.    Urt.,    182  f.,    185. 


f.j\ 


—     207     — 

zeitliches  Faktum  und  damit  der  sinnlichen  Realität  zuge- 
hörig —  das  immanente  Zwischenreich  des  Gegensatzes 
und  so  auch  des  Unwertes  hervorgeht.  Die  sinnlicH-wert- 
fremde  Erlebenstatsächlichkeit  wird  somit  allerdings  zur 
Ursprungsstätte  des  Unwerts.  Und  doch  zeigt  sich  gerade 
hier,  wie  die  eigentlichen  Pole  im  All  des  Denkbaren  durch 
<^  das  gegensatzentrückte  Transzendente  und  die  gegensatz- 
fremde „Materie'"  gebildet  werden. 


( 


208 


Namenregister. 


Apelt  61  Anm. 

Apelt,  0.  51  Anm.,  61  ff.  Anm. 

Aristoteles  10,  15  Anm..  26,  29  f.. 
38—44. 49—52,  61-64,  86, 115 ff., 
129.  130  Anm.,  145  f.,  148,  164 
Anm.,  195,  202. 

Bachmann  187  Anm. 

Bergmann,  H.  172  Anm.,  194  Anm. 

Bergmann.  J.  23.  25  f.,  35  Anm., 
49  Anm.,  123  Anm.,  130  Anm., 
152,  181  Anm.,  183  Anm.,  186. 

Bolzano  23,  170  ff.,  194. 

Bonitz  29  Anm.,  41  Anm.,  62  Anm. 

Brentano  23,  40  ff.  Anm.,  62  Anm., 
77  f.,  186. 

Christiansen  26,  156. 
Cohn  35  Anm.,  50  Anm. 

Descartes  26. 

Eisler  33  Anm. 

Erdmann,  B.  47  Anm.,  186. 

Fortlage  187  Anm. 

Fries  61  Anm.,  147  Anm.,  187  Anm. 

Gerlach  23. 

Gomperz,  H.  23,  130  Anm. 

Herbart  23,   35  Anm.,   178  Anm., 

187  Anm. 
Husserl  9,    15  Anm.,    23,   38,    180 

Anm.,  170  ff.,  194,  197  Anm. 


Lotze  75  Anm.,  90,  92,  121  f.,  164 
Anm.,  186,  197  Anm. 

,  Maier    15   Anm.,    40  ff.   Anm.,    51 
j      Anm.,  62  f.  Anm.,  73  Anm.,  145 

Anm. 
Marty  23.  43  Anm.,  172  Anm. 
Mehmel  23. 

Meinong   23,    24  Anm..    50  Anm., 
130  Anm. 

Natorp  50  Anm.,  73  Anm. 

Palagyi  172  Anm..  193  f. 
Plato  29  f.,  61  Anm. 
Prantl   25  Anm.,    39  ff.   Anm.,    63 
Anm.,  145  Anm. 

Reinach  130  Anm. 

Richter  15  Anm. 

Rickert  23,  50  Anm.,  74  Anm.,  143 

Anm.,  153  ff.,  158  Anm.,  172  Anm., 

186  f.,  197  Anm. 

Schleiermacher  49  Anm.,  73  Anm. 
Schuppe  49  Anm..  51  Anm.,    62  f. 

Anm.,  72  Anm..  75  Anm. 
Schwegler  41  f.  Anm. 
Sigwart  164  Anm.,  186  f.,  191. 
Spinoza  170. 
Stoa  25  Anm.,  63  Anm. 
Stumpf  23. 

Trendelenburg  44  Anm.,  49  Anm., 
51  Anm.,  61  f.  Anm.,  73  Anm. 

Ulrici  187  Anm. 


Kant  1—8,  15  Anm.,  32.  33  Anm.,  jVolkelt  164  Anm. 
52  f.,  58,  62  ff'.,  73  Anm.,  74,  76 

Anm.,  110  f.,  114,  116—123,  140,  IWindelband  50  Anm.,  75  Anm.,  78 
146_1,53,  1G4.  I     Anm.,  152,  186  f.,  202,  204  Anm., 

Krause  151  Anm.  '     206  Anm. 


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